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Zwischen Bilanz und neuen Perspektiven:
Geschlechterforschung zum Nationalsozialismus

  • Elke Frietsch / Christina Herkommer (Hg.): Nationalsozialismus und Geschlecht. Zur Politisierung und Ästhetisierung von Körper, »Rasse« und Sexualität im »Dritten Reich« und nach 1945. (Gender Codes 6) Bielefeld: transcript 2009. 454 S. Kartoniert. EUR (D) 35,80.
    ISBN: 978-3-89942-854-4.
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Der vorliegende Sammelband präsentiert die Ergebnisse einer interdisziplinären Tagung, die im Jahre 2007 zum Thema »Nationalsozialismus und Geschlecht« in Berlin stattgefunden hat. Er reiht sich ein in eine Serie von Sammelbänden, die sich in den letzten Jahren wiederholt aus der Perspektive der Frauen- und Geschlechterforschung den Jahren der nationalsozialistischen Diktatur angenähert haben. 1

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Den Ansatzpunkt des vorliegenden Bandes stellt eine von den Herausgeberinnen Elke Frietsch und Christina Herkommer in ihrer Einführung konstatierte Diskrepanz dar. Diese verorten sie zwischen den durch die Medien und die Mainstreamforschung zum Nationalsozialismus vermittelten Anschauungen über die Rolle von Frauen im »Dritten Reich« und den Erträgen der Frauen- und Geschlechterforschungen zum Nationalsozialismus. Hiernach bedienen die populär und medial aufbereiteten Bilder und Anschauungen vom Nationalsozialismus primär immer noch Topoi und Klischees, die die sehr vielfältigen und ausdifferenzierten Forschungsergebnisse der Frauen- und Geschlechterforschung längst als obsolet enttarnt haben. Aus diesem Negativbefund leiten sich die sehr allgemein gehaltenen Ziele des Sammelbandes ab. Zum Einen will er die Relevanz der Kategorie Geschlecht bei der wissenschaftlichen Betrachtung des Nationalsozialismus vor Augen führen. Zum anderen soll der Band jenen »unzulässigen Vereinfachungen, Essentialismen und Re-Objektivierungen, wie sie in der populären und medial vermittelten Diskussion zu Nationalsozialismus und Geschlecht außerhalb der feministischen Forschung zu beobachten sind« (S. 35) entgegentreten.

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Hierzu versammeln die Herausgeberinnen 22 Beiträge, die sich dem Themenfeld Nationalsozialismus und Geschlecht aus verschiedenen geistes- und sozialwissenschaftlichen Perspektiven, und folglich auch mit ganz unterschiedlichen methodischen Herangehensweisen und Fragestellungen annähern. Sie folgen hierbei keiner gemeinsamen Fragestellung, sondern stellen ein Nebeneinander von unterschiedlichen Zugängen und inhaltlichen Schwerpunktsetzungen dar. Diesen ist lediglich die zentrale Bedeutung der Analysekategorie Geschlecht gemeinsam, worunter die Kohärenz des Bandes allerdings ein wenig leidet. Unterteilt ist der Sammelband, dem ein konziser einleitender Aufsatz der Herausgeberinnen zur Genese der Frauen- und Geschlechterforschung zum »Dritten Reich« voran gestellt ist, in drei Themenbereiche. Während sich die Beiträge im ersten Bereich mit der Frage nach neuen Entwicklungen in der Geschlechterforschung zum Nationalsozialismus beschäftigen, stehen im zweiten Bereich Geschlechterdifferenzen im Mittelpunkt. Den Bogen über 1945 hinaus spannen die Aufsätze des dritten Themenbereichs zum sozialen Gedächtnis und zur Identitätspolitik nach 1945. Wenngleich alle Beiträge sicherlich eine eingehende Würdigung verdient hätten, können im Folgenden auf Grund der großen Zahl der Aufsätze nicht alle explizit besprochen werden.

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Herausforderungen

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Aktuell lassen sich immer wieder Versuche erkennen, der Geschlechterforschung zum Nationalsozialismus inhaltlich und methodisch neue Impulse und Anregungen zu geben. 2 Auf der Basis der Reflexion unterschiedlicher Perspektiven der Geschlechterforschung skizzieren die Beiträge des ersten Themenbereichs (Johanna Gehmacher, Silke Wenk, Lerke Gravenhorst) neue Entwicklungen und bieten Vorschläge zur Perspektiverweiterung. So weist die Historikerin Johanna Gehmacher in ihrem Beitrag zu Darstellungen von Frauen der NS-Elite zu Recht auf die Gefahr hin, dass diese – nicht zuletzt auf Grund ihre medialen Omnipräsenz – als paradigmatisch und allgemeingültig für die Rolle der Frauen im Nationalsozialismus in das kulturelle Gedächtnis einzugehen drohen. Als eine zentrale Herausforderung zukünftiger Forschung formuliert sie deshalb, diese – oftmals auf autobiografischen und mithin apologetischen Selbstinszenierungen beruhenden – stereotypen Narrative kenntlich zu machen und in ihrer Prägekraft zu durchbrechen. Angesichts einer nicht abreißenden Flut von zu Simplifizierungen und Pauschalisierungen neigenden medialen Darstellungen zum »Dritten Reich« beschreibt Gehmacher hiermit nicht nur einen zentralen Forschungsauftrag der Geschlechterforschung. Vielmehr markiert sie mit ihrer Forderung auch eine wesentliche Aufgabe aller zukünftigen Untersuchungen zum Nationalsozialismus.

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Die Soziologin Lerke Gravenhorst stellt in ihrem Aufsatz die Erträge der NS-Täterforschung auf den Prüfstand und fordert eine tiefergehende Analyse des von »beiden Geschlechtern getragenen, zwischen den Geschlechtern aber asymmetrisch angeordneten Gesamtmilieus, das die NS-Verbrechen möglich machte« (S. 87). Hierbei fokussiert sie vor allem den Beitrag der Frauen an den Verbrechen, den sie aus der spezifischen soziokulturellen Geschlechterdifferenz erklärt wissen will. So sehr dieser theoretische Ansatz zu überzeugen weiß, so scheint doch die empirische Umsetzbarkeit ein wenig außer acht zu bleiben. Denn die Untersuchung sozialer Praktiken auf Feldern von Akzeptanz, Duldung und eher passiver Unterstützung, und somit jenseits unmittelbarer Tatbeteiligungen, stößt naturgemäß schnell an die Grenzen empirischer Messbarkeit. Dies dürfte sich wohl auch bei der von Gravenhorst intendierten Perspektiverweiterung als hinderlich erweisen.

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Verfolgung und sexuelle Gewalt

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Der mit insgesamt elf Beiträgen umfangreichste zweite Themenbereich des Bandes thematisiert Geschlechterdifferenzen. Die ersten vier Beiträge (Thomas Roth, Brigitte Halbmayr, Robert Sommer, Patrice Arnaud) sind hierbei geschlechterdifferenten Verfolgungspraktiken und Formen sexueller Gewalt gewidmet und folgen primär geschichtswissenschaftlichen Zugängen. Wenngleich alle Beiträge inhaltlich unterschiedliche Schwerpunktsetzungen verfolgen, so wird doch deutlich, dass die Kategorie Geschlecht zwar ein wesentliches, aber nicht das ausschließliche Kriterium für spezifische Verfolgungsintensitäten und Gewalterfahrungen darstellte. Vielmehr konnten unter Umständen die vermeintliche »Rassezugehörigkeit« oder der soziale Status essentiellere Bedeutung entfalten als die Geschlechtszugehörigkeit, wie Roth etwa für die justizielle Verfolgung von Frauen, oder Halbmayr für die sexuelle Gewalt gegenüber Frauen in Konzentrationslagern aufzeigen. Diese Verwobenheit unterschiedlicher Kriterien unter Einschluss der Kategorie Geschlecht entspricht dem aktuell in verschiedenen Disziplinen virulenten theoretischen Ansatz der Intersektionalität, der zwar in den Beiträgen nicht expressis verbis angeführt, aber in den Befunden deutlich greifbar ist. Als Manko der vier Beiträge kann die Tatsache angesehen werden, dass sie alle lediglich »halbierte Geschlechtergeschichten« (S. 111) darstellen, die sich entweder mit Frauen bzw. Frauenerfahrungen oder Männern bzw. Männlichkeitskonstruktionen beschäftigen. Unbedingt anzustrebende komparative Ansätze könnten hier sicherlich noch tiefergehende Befunde zeitigen und Spezifika noch markanter zu Tage treten lassen.

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Mediale Weiblichkeits- und Männlichkeitskonstruktionen

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Überwiegend vergleichend beschäftigen sich vier weitere Beiträge (Elke Frietsch, Monika Pater, Barbara Schrödl, Irina Scheidgen) aus kunstgeschichts- und medienwissenschaftlicher Perspektive mit Geschlechterdifferenzen in medialen Darstellungen. Während Frietsch überzeugend die künstlerischen Inszenierungen von männlichen und weiblichen Körpern untersucht, und Pater der Darstellung »männlicher Tatkraft und weiblichen Seins« anhand einer exemplarischen Analyse einer zeitgenössischen Radiosendereihe nachgeht, sind zwei Aufsätze dem Medium Film gewidmet. Bei der Analyse der in filmischen Produktionen dargestellten Frauen- und Männerrollen kommen beide Beiträge zu ähnlichen Befunden. Während die Darstellungen in der Vorkriegszeit mehrheitlich die traditionellen Geschlechterrollen reproduzierten, propagierten die Produktionen im Krieg zunehmend auch Frauenbilder, die dieser dichotomen Rollenaufteilung partiell entgegenwirkten. Zu Recht verorten beide Autorinnen diese Entwicklungen im Kontext eines gewissen Kriegspragmatismus, der zeitweise Raum »für widersprüchliche Darstellungen der Frauenrollen zuließ« (S. 278).

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Handlungsräume

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Klassische Wege der Frauenforschung zum Nationalsozialismus beschreiten drei Beiträge (Claudia Schoppmann, Viola Schubert-Lehnhardt, Lavern Wolfram), die ebenfalls unter dem Signum der Geschlechterdifferenzen Handlungsräume der jüdischen Bevölkerung sowie deutscher Täterinnen im Gesundheitswesen und in Konzentrationslagern untersuchen. Unter dem Strich liefern sie jedoch nur wenige neue Befunde. So bieten etwa Schoppmanns Einzelfalldarstellungen zu »Flucht[en] in den Untergrund« zwar informative Einsichten in Überlebensmöglichkeiten von Teilen der jüdischen Bevölkerung und partielle Widerstandhandlungen deutscher Frauen und Männer, genuin geschlechtergeschichtliche Fragestellungen werden jedoch nur in wenigen Ansätzen verfolgt.

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Dass sich die TäterInnenforschung zum Nationalsozialismus bis heute weitgehend in zwei von einander getrennte Lager aufteilen lässt, die sich entweder mit männlichen oder weiblichen Tätern befassen, verdeutlichen nochmals die beiden vorliegenden Aufsätze zur Beteiligung von Frauen an nationalsozialistischen Verbrechen. Aufgabe zukünftiger Forschungen sollte es deshalb sein, diese gegenseitige Isolation zu überwinden und die jeweils sehr ausdifferenzierten Erträge zusammenzuführen, um somit auch Fragen etwa nach geschlechterdifferenten und mithin geschlechtsspezifischen Motivationsstrukturen besser beantworten zu können.

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Täterinnen vor Gericht

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Die ersten beiden Aufsätze (Massimiliano Livi, Simone Erpel) des dritten Themenbereichs untersuchen die Bedeutung der Kategorie Geschlecht sowie die Wirkungsmacht und den strategischen Einsatz von Geschlechtsstereotypen in Nachkriegsprozessen gegen die ehemalige Reichsfrauenführerin Scholtz-Klink und Aufseherinnen des KZs Ravensbrück. Ähnlich wie Roth für den strafrechtlichen Umgang mit Frauen im »Dritten Reich« nachweisen kann, belegen auch die Ausführungen zu den Prozessen in den Jahren 1948 und 1949 nachdrücklich, dass geschlechtsspezifische Rollenerwartungen und soziokulturelle Zuschreibungen von Weiblichkeit essentielle Bedeutung in der Strafrechtspraxis entfalten konnten. So konnten Frauen sowohl vor als auch nach 1945 durchaus von dem Klischee der unpolitischen und fürsorglichen Mutter profitieren, wenn sie dieser Normalitätserwartung entsprachen, während Frauen die neben dem Rechtsbruch auch den informellen gesellschaftlichen Verhaltenscodes widersprachen, mit Strafverschärfungen und rhetorischen Brandmarkungen rechnen mussten. Das Jahr 1945 stellte in dieser Hinsicht keine Zäsur dar, wie die verschiedenen Beiträge zu Frauen vor Gericht in dem vorliegenden Band verdeutlichen.

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Mediale Deutungen des »Dritten Reiches«
und Erinnerungskulturen

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Abschließend thematisieren fünf Beiträge (Hildegard Frübis, Anette Dietrich / Andrea Nachtigall, Gudrun Hauer, Sabine Grenz, Iris Wachsmuth) die Relevanz der Kategorie Geschlecht in den Auseinandersetzungen mit der Zeit des Nationalsozialismus nach 1945.

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Medien und mediale Inszenierungen stehen hierbei in drei Aufsätzen im Mittelpunkt. So fragt etwa Frübis in ihrem Beitrag nach der Wirkung fotografischer Porträtaufnahmen von Anne Frank für die Rezeptionsgeschichte des Holocaust. Überzeugend arbeitet sie hierbei den Wandel der medialen Inszenierung der Person Anne Franks von einer »Ikone des Holocaust zur Ikone des Rassismus und Antisemitismus« (S. 364) heraus. Dem »bipolaren Zuordnen der Vergangenheit nach Geschlecht« (S. 390) geht der Beitrag von Dietrich / Nachtigall anhand einer exemplarischen Analyse der beiden Filme »Schindlers Liste« (USA 1993) und »Der Untergang« (D 2004) nach. Auf Grund der interessanten Ergebnisse kann ihrer Forderung, der bis dato kaum gewürdigten Kategorie Geschlecht auch bei der Untersuchung von Holocaust-Filmen eine größere Aufmerksamkeit zu schenken, nur beigepflichtet werden.

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Neben diesen medialen und mithin öffentlichen Auseinandersetzungen mit der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur entstanden auch gewissermaßen private Deutungszusammenhänge und Erinnerungskulturen. Dass diese auch immer von geschlechtsspezifischen Deutungs- und Erfahrungsmustern geprägt sind, belegen die beiden abschließenden Aufsätze, die sich mit Tagebuchaufzeichnungen von Frauen aus der Nachkriegszeit und familiengeschichtlichen Narrationen beschäftigen.

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Fazit

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Das von den Herausgeberinnen formulierte Ziel, die Relevanz der Kategorie Geschlecht für die wissenschaftliche Durchdringung des Nationalsozialismus aufzuzeigen, hat der vorliegende Sammelband zweifelsohne erreicht. Eindrucksvoll zeigen die Beiträge den Facettenreichtum, den die Geschlechterforschung zum Nationalsozialismus mittlerweile aufweisen kann, wenngleich nicht alle Beiträge das gleiche Niveau erreichen. Positiv zu würdigen ist insbesondere der interdisziplinäre Ansatz, den die beiden Herausgeberinnen mit ihrem Band verfolgen. Eine spezifischer formulierte gemeinsame Fragestellung hätte hier allerdings eine größere Kohärenz bewirken können. Gut zu erkennen ist der unterschiedliche Entwicklungsstand der Geschlechterforschung in den unterschiedlichen Disziplinen. Während vor allem die geschichtswissenschaftlichen Ansätze noch sehr den frauengeschichtlichen Konzeptionen verhaftet sind, wonach Geschlecht vornehmlich mit ›Frauen‹ gleichgesetzt wird, begreifen andere Disziplinen die Geschlechterforschung umfassend und zunehmend komparativ. Diese Einseitigkeiten zu überwinden, ist eine zentrale Aufgabe zukünftiger Geschlechterforschungen, wozu die vorliegenden Beiträge jedoch zahlreiche Anknüpfungspunkte liefern. Dass die Mainstreamforschung zum Nationalsozialismus auf Dauer nicht die Erträge der Geschlechterforschung ignorieren kann, dürfte auf der Hand liegen und ist in Ansätzen bereits erkennbar. Hier darf man zweifellos optimistisch sein, zumal wesentliche Facetten der nationalsozialistischen Diktatur erst mittels des methodischen Instrumentariums der Gender Studies hinreichend beleuchtet werden können.

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Ob die Geschlechterforschung jedoch auch die in den populären Medien virulenten Topoi wird durchbrechen können, muss wohl bezweifelt werden, da die popularisierten Darstellungen ihre breitenwirksame Anziehungskraft zumeist aus ihrer Plakativität ziehen. Diese wiederum speisen sich nicht zuletzt aus den simplifizierten Erklärungsmustern. Anlass zur Resignation sollte dies freilich nicht sein, sondern Ansporn geben, das bisher noch keineswegs ausgeschöpfte Potential der Geschlechterforschung zum Nationalsozialismus auch weiterhin zu nutzen. Wie fruchtbar und ertragreich dies sein kann, hat der vorliegende Sammelband vorbildlich vorgeführt.

 
 

Anmerkungen

Ein weiteres Beispiel stellt etwa der Band von Johanna Gehmacher / Gabriella Hauch (Hg.): Frauen- und Geschlechtergeschichte des Nationalsozialismus. Fragestellungen, Perspektiven, neue Forschungen. Innsbruck u.a. 2007 dar.   zurück
Vgl. nur Adelheid von Saldern: Innovative Trends in Women’s and Gender Studies of the National Socialist Era. In: German History 27 (2009), S. 84–112.   zurück