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Der Unfall als Poetologie der Moderne

Claudia Lieb schreibt die Literaturgeschichte des Autounfalls als Trope der Sprachreflexion

  • Claudia Lieb: Crash. Der Unfall der Moderne. (Münstersche Arbeiten zur internationalen Literatur 3) Bielefeld: Aisthesis 2008. 346 S. Paperback. EUR (D) 34,80.
    ISBN: 978-3-89528-705-3.
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»Da rollen die Worte auf einen an, man muß sich vorsehen, daß man nicht überfahren wird,« warnt Alfred Döblin in Berlin Alexanderplatz Leser und Protagonist. 1 Die Affinität, ja Gleichsetzung von Worten und Automobilen als Gefahren eines modernen Verkehrsgeschehens mag im Kontext der Geschichte vom buchstäblich überfahrenen Franz Biberkopf nur konsequent erscheinen, bildet jedoch keinen Einzel-, sondern einen Präzedenzfall für die Literatur der Moderne, den Claudia Lieb in ihrer im Rahmen des Berliner Graduiertenkollegs »Mediale Codierung von Gewalt« entstandenen Dissertation von 2006 verfolgt. Ihre These ist so einfach wie gewagt: Autounfälle sind kein beliebiges Motiv der beschleunigten, mobilisierten Welt in der Literatur, sondern eine selbstreflexive Chiffre literarischer Texte, die darin ihren eigenen Status poetologisch fassen und erzählen. So heißt es etwa über Franz Kafka:

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Kafka [erhebt] dieses Unfallgemisch zum Modell der Selbstbeschreibung seines Schreibens […], um dann im folgenden, ihm verbleibenden Jahrzehnt etliche Male darauf zurückzukommen. (S. 208)
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Lässt die Autorin die moderne Literatur vor die Wand fahren? Keineswegs. Obwohl der Anspruch des Titels gleich die gesamte Moderne verunfallen lässt, bietet das Buch akribische Einzelstudien zu oft überraschenden Zusammenhängen, die den modernen Unfallbegriff und den Automobilismus mit zentralen Texten der literarischen Moderne verbindet (u.a. Kafka, Döblin, Musil, Brecht). Dass die Arbeit dabei immer wieder den Unfall als virulente Zentralfigur sowohl für den Einzelfall wie für die Literatur der Moderne insgesamt betont, wirkt zuweilen etwas bemüht, doch wiegt die Autorin dies mit einer Vielzahl sehr differenzierter Lektüren der jeweiligen Kontexte und Figurationen auf.

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Automobil, Unfall und Dichtung

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Dass Automobile und ihre Unfälle ein Thema in der Literatur des 20. Jahrhunderts sind, ist natürlich keine neue Erkenntnis. Seit Otto Julius Bierbaums Empfindsamer Reise in einem Automobil (1903) ist die Beziehung zwischen ästhetischer Wahrnehmung und den angenehmen Erschütterungen sowie gleitenden Perspektiven der selbstbewegenden Vehikel ebenso prominent geworden wie dessen Kehrseite in der stets als plötzlich empfundenen Gewalt des Unfalls. Das Automobil aktualisiert und ersetzt die Topik der Schicksalsschläge älterer Prägung im Rahmen der göttlichen Vorsehung und stellt der zentralen Figur der Moderne, dem Einbruch des Zufalls in die Ordnung der Welt, ein ebenso wirkungsmächtiges wie anschauliches Exempel beiseite. Faszination, Macht und Gewalt des Automobils werden um 1900 zu einem breiten öffentlichen Diskurs, der die Ästhetik ebenso erreicht wie Rechtsprechung, Versicherungswesen und Medizin, die auf den Automobilismus reagieren müssen. Im Zusammenfall der Assoziationen von Individualität und Freiheit, der Faszination der Geschwindigkeit wie dem Mut zum Risiko ist das Automobil daher kein exklusiver Gegenstand der Technik- oder Designgeschichte, sondern ein kulturtechnisches Dispositiv, das den Diskurs das 20. Jahrhunderts mit bestimmt hat.

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Die Beteiligung der Literatur an diesem Diskurs ist in weiten Teilen einschlägig bekannt. Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften eröffnet bekanntlich mit einem Autounfall als einem unerklärlichen Ereignis, das die Ordnung der Dinge kurzzeitig stört. In Hermann Hesses Steppenwolf wird die einst noch als Aggressivität empfundene neue Bewegungsmacht gegen Automobilisten und ihre Gefährte selbst gewendet und »Hochjagd auf Automobile« gemacht. Autounfälle kommen bei Brecht ebenso vor wie etwa bei Uwe Johnson, Thomas Bernhard und Elfriede Jelinek. Und wer die Suchbegriffe »Autounfall« oder »car crash« durch die Internetseiten von Buchanbietern jagt, erhält viele hundert Verweise auf literarische Werke jeder Art, in denen der Unfall als Topos des Ereignisses dient, das die Erzählung eröffnet. All das ist durchaus bekannt. Doch während Schriften zur Automobilgeschichte Legion sind, wurde die Thematik in der Literaturwissenschaft bislang kaum aufgegriffen. Erst in den letzten Jahren ist das Thema gelegentlich genauer in den Blick genommen worden. 2 Eine systematische Engführung, wie sie hier vorliegt, schließt eine Lücke.

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Das Thema fordert allerdings einen diskursübergreifenden, kulturwissenschaftlichen Einsatz, der Automobilgeschichte, öffentliche Wahrnehmung, Institutionengeschichte und Rechtslage mit philosophischen und literarischen Reflexionen zusammenbringen kann. Im Fall von Hesses Steppenwolf etwa sind die Zusammenhänge zwischen dem damaligen Klischee des ›Herrenfahrers‹ als arroganten und skrupellosen Snob und seinem Automobil als ›Geschoss‹ und dem zeitgenössischen Film, der 1927 bereits zahlreiche Verfolgungsfahrten und Unfälle als Geschichten visualisiert hatte und auf die Hesse sehr konkret anspielt bei weitem enger, als es bisherige Interpretationen gesehen haben. Claudia Lieb kann hier die Kontinuität in der Variation der Motivik gut deutlich machen (S. 219 ff.), die über die Semantik des ›Schusses‹ in Film und Fotografie reale und symbolische Gewalt mit dem Automobilismus kurzschließt – Zusammenhänge, die Walter Benjamin in seiner Theorie der »Chockwirkung des Films« nicht entgangen sind (vgl. S. 222). Sie tut dies innerhalb ihrer Diskussion um Döblins »Kinostil« und dessen Zusammenhänge wiederum mit der Unfallgeschichte und der Semantik des »Stoßens« und »Kreisens« von Verkehr wie Zeichen in Berlin Alexanderplatz.

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In dieser Form von genauer Lektüre einerseits, theoretischer Reflexion und semantischen Kontexten andererseits bietet diese Arbeit eine gelungene Mischung zwischen Einzelstudien und übergreifenden Zusammenhängen. Ihr Anspruch freilich, im Autounfall die zentrale Figur, gar den – so der Klappentext – »Anti-Tropus« moderner Literatur schlechthin zu finden, ist denkbar hoch. Und damit das Risiko. Doch dies darf man einer Arbeit, die über Risiko handelt, kaum als Manko auslegen. Sie kann davon überzeugen, dass der Autounfall nicht nur ein Motiv, sondern eine reflexive Figur darstellt. Dies gilt vor allem für den III. Teil (S. 157–310), in dem die Zusammenhänge zunächst chronologisch über Otto Julius Bierbaums Prinz Kuckuck (1906), Marinettis Futuristische Manifeste (1909 ff.) und Kafkas Schriften zwischen Versicherungswesen, Briefen und Werken verfolgt werden, um, immer wieder rückverweisend über Döblin, Musil und Brecht bis zu Thomas Bernhard und Elfriede Jelinek das Thema in seiner Kontinuität bis hin zur Inflation darzustellen.

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Der Unfall vor dem Unfall und sein Diskurs

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Zuvor benötigt die Autorin allerdings fast die Hälfte ihrer Arbeit für die Vorgeschichte. Der erste Teil arbeitet zunächst den Unfallbegriff in seinem Wandel um 1800 ausführlich heraus und geht mit Texten von Goethe, Achim von Arnim, Heinrich von Kleist und E.T.A. Hoffmann dem Wandel des Begriffs zwischen Providenz und Kontingenz nach. Dabei gilt eine stete Aufmerksamkeit auch der Verdrängung und dem Ausschluss des Gefahrenpotenzials. Ist der Unfall bis zum 18. Jahrhundert als Schicksalsmacht im Rahmen der göttlichen Vorsehung aufgehoben, so entwickelt er sich unter den Zeichen des Zufalls zu einem Skandalon auch der literarischen Darstellung, dessen gefährliches Potenzial der Unordnung – sowohl theoretisch wie poetisch – erst allmählich zur Geltung kommt. Sieht Goethe die Unfallgefahren im ›römischen Karneval‹ als Zeichen seines allgemeinen Chaos, das der Beschreibung weder wert noch möglich sei, so wird bei Kleist in dessen Anekdote Charité-Vorfall ein mehrfacher Kutschenunfall bereits mit dem Unfall der Kommunikation kurzgeschlossen.

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Nach diesen gut einführenden und interessanten Detailstudien folgt allerdings ein Themenwechsel. In einem langen »diskursgeschichtlichen« Kapitel wird der Unfallbegriff um 1900 in seiner modernen Prägung und Problematik in den Diskursen von Recht, Versicherungswesen und Medizin ausführlich vorgestellt. Dieser Teil der Arbeit erscheint als Exkurs, der durchaus ermüden kann, führt er doch von dem zuvor bei Kleist aufgezeigten reflexiven Verhältnis der literarischen Sprache zum Thema fort, welches die Autorin schon dort als ihr Kernthema anzeigt, wenn sie zu Kleists Anekdote allgemein gültig formuliert:

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Der literarische Unfall referiert nicht auf ein wie auch immer geartetes Textäußeres, sondern auf die Zeichenhaftigkeit des Textes selbst. Aus dem Unfall aus Sprache wird ein Unfall der Sprache, und so kann er als paradigmatische Figur für literarisches Schreiben der Moderne betrachtet werden. (S. 41 f.)
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Bevor sie den Nachweis antritt, verlässt sie das Thema für fast 100 Seiten. Sie rechtfertigt ihr Vorgehen dadurch, dass das Folgende notwendig sei, für das Verständnis der späteren Ausführungen. In der Tat wird später, vor allem im Kapitel über Kafka der Hintergrund des Versicherungswesens und der Statistik relevant, allerdings ist das Verständnis auch ohne den Mittelteil der Arbeit durchaus gegeben.

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Für sich genommen bietet der diskursgeschichtliche Teil allerdings einen aus zeitgenössischen Quellen profund recherchierten Überblick zur Problematik der Definition moderner Arbeits- und Verkehrsunfälle in Rechtsprechung und Versicherungswesen. Hatte die Rechtsgrundlage im Code Civil Unfälle stets als schuldhaftes Handeln (und damit nach wie vor als Schicksal) aufgefasst, so wird diese Auffassung in der maschinellen Moderne hinfällig. Angesichts von Arbeitsabläufen und Technologien, die Unfälle paradoxerweise notwendigerweise produzieren, müssen sich Recht, Versicherung und Medizin umstellen auf einen Unfallbegriff, der weder Schicksal, noch Schuld zugehörig ist. Claudia Lieb zeigt hier die Nöte der juristischen Definition auf, die letztlich pragmatisch (und nicht ohne Kalkül) durch das Versicherungswesen aufgefangen wird.

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Dabei ist der Bereich des Autounfalls nur einer unter vielen. Eisenbahn- und Arbeitsunfälle spielen hier eine größere Rolle. So werden Automobile, zumal in Privatbesitz, zunächst auch der neuen Kategorie des »Unversicherbaren« zugerechnet. Allerdings ändert sich dies schnell durch die Liaison von Interessenverbänden und Versicherungen. Bald schon werden Automobilisten Haft- und Unfallversicherung angeboten und sie trotz individuellen Eigentums als »Betrieb« im Rahmen von »Betriebsunfällen« behandelt – ein Umstand, gegen den Kafka im Rahmen seiner Versicherungstätigkeit Einspruch erheben wird.

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Während das Recht nicht vollends definitorisch klären kann, was ein Autounfall genau ist – an diese Stelle tritt die bei genauerem Hinsehen problematische Definition eines »plötzlichen« »von außen« eintretenden »Ereignisses« – stellt sich das Versicherungswesen bereits vom Ausnahmefall Unfall auf Statistik um. Statistisch gesehen sind Arbeits- wie Autounfälle kein Zufall, sondern Risikofaktoren, die der Wahrscheinlichkeitsrechnung zufallen (S. 107 ff.). Sehr gelungen zeigt Claudia Lieb, in Rückgriff auf Francois Ewalds Der Vorsorgestaat, die Entstehung des durchschnittlichen Jedermanns der Moderne als »Unfallmann« (S. 71 ff., vgl. S. 117.).

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Mit den realen oder simulierten Traumata durch Unfälle erreicht der Diskurs die Medizin. Die Debatte um Oppenheims »traumatische Neurose« als Krankheit oder als Verdacht der Simulation von Unfallopfern, die die neuen Versicherungsprämien erhalten wollen, wird ausgebreitet (S. 118 ff.). Interessant sind hier die Verbindungen des Frühwerks von Sigmund Freud zu diesem Diskurs. Lieb zeichnet nach, dass und wie Freud diesen Diskurs um Oppenheims »traumatische Neurose« aufnimmt, um ihn schließlich, im Zuge der Erfindung der Psychoanalyse, gezielt auszuschließen. Mit der Folge, dass auch konkrete Unfälle nicht mehr als Ursache der damals umstrittenen »traumatischen Neurose« gelten, sondern zu Symbolen verdrängter Sexualität werden (S. 133). Mit Arthur Schnitzlers Beobachtung Freuds und dessen Text Die Toten schweigen, erreicht der Exkurs wieder die Literatur im engeren Sinn.

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Sprachkrise und Autounfälle

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Der Autounfall entwickelt eine untergründige Anziehung, die – und darauf kommt es an – ihn mit Sprechen und Sprache, mit Schreiben, Erzählen und Zeichenverkehr in jedem Sinne in enge Beziehung rückt. So wird der Autounfall zum Symbol für die Entgleisung eines jeden Verkehrsgeschehens. Unter der Ägide aber des statistischen Normalfalls im Verkehr, wird er zur »Anti-Trope« der Literatur, in der Verstehen, Sprache und Literatur nicht mehr Apriori gesichert sind. Sprachkrise, Selbstreflexion der Texte und Autounfall fallen zusammen. Bereits Bierbaum hatte in seinem Prinz Kuckuck 1906 die öffentliche Rede metaphorisch mit dem Laufen eines Motors verglichen – und sich folglich dessen Stockungen und Fehlzündungen ausgesetzt gesehen (S. 163). Den zunächst einfachen Befund einer metaphorischen Bezugnahme rückt Lieb systematisch in ihre Perspektive:

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Es fällt Bierbaum zu, missglücktes Sprechen ins Vokabular des Automobilen zu kleiden und es am Beispiel eines Autounfalls vorzuführen. Insgesamt bleibt festzuhalten: Prinz Kuckuck, einer der ersten literarischen Texte überhaupt, die einen Autounfall inszenieren, nutzt diesen bereits zu einem selbstreflexiven Kommentar. Der Unfall induziert den Kollaps des Rhetorischen, einen Zusammenbruch, mit dem der Roman selber kokettiert, indem er die Unfallfahrt seines Helden als ›Symbol‹ der Narration ausgibt. (S. 165 f.)
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Die paradoxe Einheit von Gewalt, Risiko und Schönheit wird im Sinnbild von Automobil und Unfall bei Marinetti zur zentralen Figur einer modernen Poetik (S. 166 ff.). Lieb verfolgt den Werdergang dieser programmatischen Beziehungen in den verschiedenen Manifesten des Futurismus und führt diese zu einem frühen Gedicht Marinettis zurück, um herauszustellen, dass das Risiko selbst hier als Chance einer Neugeburt begriffen wird. Wie auch in anderen Kapiteln zeichnet sich ihre Interpretation dadurch aus, dass sie nicht einfach eng am Motiv verharrt, sondern den spezifischen semantischen Bezügen im jeweiligen Werkkontext nachgeht. Im Fall Marinettis ist dies seine bislang kaum beachtete intertextuelle Relation zu biblischen Texten, vor zur „Johannesapokalypse«, dessen Worte er zitiert und dessen Bildlichkeit er konsequent maschinell-modern analog umbesetzt. Hört Johannes die göttlichen Posaunen, so Marinetti das »Aufbrüllen« der Automobile (vgl. S. 168 ff.).

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Immer wieder gelingen Claudia Lieb anregende Interpretationen, auch wenn an der einen oder anderen Stelle Fragen über die Stichhaltigkeit intertextueller Bezüge auftauchen. So heißt es etwa, dass Kafka Marinetti »zitiert«, wo es sich lediglich um die Assoziation einer Konnotation handelt (vgl. S. 191). Mehr noch muss angemerkt werden, dass zuweilen der Wille zur stilistischen Pointe selbst unter die Räder der Affinität von Unfallsemantik und Sprache gerät: »An diesem Punkt nimmt der Text die entscheidende Kurve.« (S. 200) »Kafka parallelisiert also das Risiko, das vom Schreiben ausgeht, mit demjenigen des Automobils, und dies führt zwangsläufig zum Crash.« (S. 201). Die Verwechslung von Objekt- und Metasprache ist gewollt, kann aber mitunter bis zum Kalauer geraten: »Der frisch aus der Taufe gehobene Verband [Automobil-Versicherung-Verband] bandagiert aber nicht flächendeckend.« (S. 101).

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Schöpferische Diskontinuität

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Insgesamt aber überzeugt diese Arbeit durch ihre anregenden Interpretationen der Figuration innerhalb einer Reihe bedeutender Werke der modernen Literatur, in denen sich Unfalldarstellung mit der Selbstreflexion des narrativen Darstellens verbinden. Ob der Autounfall damit die »Anti-Trope« der Literatur ist, sei dahingestellt. In seiner Symbolträchtigkeit zwischen Gewalt und Geschwindigkeit, ruft das Automobil zentrale Kategorien der Moderne – wie Macht, Zufall und Risiko – auf, darunter auch das nicht mehr kausal erklärbare und damit sinnentleerte Ereignis. Insofern muss der Autounfall als Figur der dämonischen Moderne erscheinen, die jedoch auch andere Erscheinungen – etwa die Kategorie der »Plötzlichkeit« (Karl Heinz Bohrer, die natürlich erwähnt wird) kennt. Eine spezifische Engführung des Transportmediums mit den Kommunikationsmedien wird nicht systematisch, sondern nur ab und an plausibel gemacht.

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Wenn der Autounfall jedoch so umsichtig als Figuration des zugleich gewöhnlichen und unerklärlichen Ereignisses auf die Grundkonzeption eines Denkbildes bezogen wird, wie Claudia Lieb dies im Fall von Musils Bezügen zu Mathematik und Philosophie in Bezug auf den Mann ohne Eigenschaften ausführt (S. 229 ff.), dann gewinnt ihre These doch Relevanz. Im Fall Musils kann Lieb gut aufzeigen, dass der Unfall am Anfang des Romans jenes Ereignis eines paradoxen Normalfalles darstellt, das weder kausal logisch noch statistisch erfassbar ist und sich daher jenem Dritten öffnet, das Literatur heißt. Zwischen dem, was nur im Modus des ›Als ob‹ erzählt werden kann und der Funktion der Unterbrechung aller Kontinuitäten von Verkehrsströmen, zeichnet sich der Autounfall als »Katachresemäander« (Jürgen Link) der Moderne aus. Deren selbstreflexive Funktion herausgearbeitet zu haben, ist ein Verdienst der Arbeit:

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Die Diskontinuität des Unfalls erweist sich daher als schöpferische. Sie huldigt der Beweglichkeit literarischer Zeichen und stiftet diesbezüglich neue Kontinuitäten. Ab 1900 dient der Unfall in literarischen Krisen als poetologisch wirksame Form, die Negativität mit einem radikalen Sinn verbindet. (S. 156)
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Dass dieser Sinnverlust eine selbstreflexive und kritische Funktion des Umsturzes von Begriffen und Erzählungen innerhalb der Literatur bedeutet, die der Geschichte der modernen Literatur eingeschrieben ist, macht Claudia Lieb deutlich. Ihre Arbeit sei daher gerade auch jenen literaturwissenschaftlich Interessierten empfohlen, die nicht an Autos interessiert sind.

 
 

Anmerkungen

Alfred Döblin: Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte von Franz Biberkopf. München 2001, S. 277.   zurück
Vor allem Dorit Müller: Gefährliche Fahrten. Das Automobil in Literatur und Film um 1900. Würzburg 2004 und Inka Mülder-Bach: Poetik des Unfalls. In: Poetica 34 (2002), S. 193–202. Vgl. Matthias / Michael Stolzke: Schrott. Eine fragmentarische Kulturgeschichte des Autounfalls (1996), unter: URL: http://www.textur.com/schrott (Zugriff am 02.12.2009). Jüngst: Christian Kassung (Hg.): Die Unordnung der Dinge. Eine Wissens- und Mediengeschichte des Unfalls. Bielefeld 2009.   zurück