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We(h)rt der Täuschung:

Formen unzuverlässigen Erzählens
im zeitgenössischen amerikanischen Spielfilm

  • Eva Laass: Subjective Truths. Forms and Functions of Unreliable Narration in Contemporary American Cinema, A Contribution to Film Narratology. (WVT-Handbücher und Studien zur Medienkulturwissenschaft 3) Trier: WVT Wissenschaftlicher Verlag Trier 2008. 305 S. EUR (D) 32,50.
    ISBN: 978-3-86821-075-0.
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Die vorliegende Studie von Eva Laass, angefertigt als Dissertation in Gießen, geht von der Beobachtung aus, dass unzuverlässiges filmisches Erzählen im Sog des kommerziellen und kritischen Erfolgs von Bryan Singers The Usual Suspects (1995) in Hollywood einen erheblichen Produktionsanstieg erfuhr. Filme wie Lost Highway (1997), The Sixth Sense (1999) oder eXistenZ (1999), um nur wenige zu nennen, wurden hinsichtlich ihrer spezifischen Ausprägungen filmischen ›Lügens‹ von der akademischen Forschung in jüngster Zeit abwechslungsreich beleuchtet, 1 Eva Laass’ Studie leistet jedoch eine grundlegende systematische Aufarbeitung dieses filmnarratologisch heterogenen Phänomens. Das Spektrum unzuverlässigen filmischen Erzählens wird von ihr erheblich weiter gefasst, als dies Volker Ferenz’ Monographie Don’t believe his lies – The unreliable narrator in contemporary American cinema (Trier: WVT, 2008) anstrebt.

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Zielsetzungen und typologischer Ansatz

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Laass’ Studie verfolgt mehrere Zielsetzungen. Als zentrales Anliegen kann der Versuch gelten, die in der Literaturwissenschaft entwickelten Analysekriterien zum unzuverlässigen Erzählen im Hinblick auf die Medienspezifik filmischer ›Texte‹ zu modifizieren, um daraufhin eine möglichst vollständige Kartografie potentieller Spielarten erzählerischer Unzuverlässigkeit im zeitgenössischen amerikanischen Spielfilm zu erstellen. Aus der soziokulturellen Relevanz sowie der internationalen ökonomischen Dominanz des Kinos Hollywoodscher Prägung leitet die Verfasserin ihr Erkenntnisinteresse ab, ausgewählte unzuverlässig erzählte Mainstream-Filme auf zwei Hauptfragen hin zu untersuchen, »why have they become so strikingly popular within recent years?« und »which needs do they meet in American culture?« (S. 3).

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Ausgehend von einer kognitiv orientierten Filmnarratologie definiert die Studie erzählerische Unzuverlässigkeit als Interpretationsstrategie des Rezipienten, Widersprüche innerhalb der Handlung gemäß üblichen Erfahrungsmustern als durch die entsprechende Vermittlungsinstanz perspektivisch gebrochene Darstellung aufzulösen (vgl. S. 25 f.). In einem nächsten Schritt unterscheidet die Verfasserin grundsätzlich zwischen normativer und faktischer Unzuverlässigkeitsdarstellung (»normatively unreliable/factually unreliable narration« [S. 31]).

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Normativ verweist hierbei auf kulturabhängige Konzepte von Objektivität, Normalität und Wahrheit, also auf das allgemein akzeptierte Wirklichkeitsmodell (vgl. S. 32). Unter normativ-unzuverlässig versteht Laass einerseits kognitiv eingeschränkte Erzähler und andererseits solche, deren ideologische oder ethische Anschauungen von der Wertewelt des Zuschauers abweichen. Faktisch-unzuverlässig umschreibt hingegen die narrative Wiedergabe des Geschehens, welches sich nicht mit den vorliegenden fiktionalen Fakten und Ereignissen deckt. Diese in groben Zügen aus der literaturwissenschaftlichen Forschung abgeleiteten Kategorien liefern den Rahmen für die konkreten Filmanalysen.

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In den Untersuchungshorizont geraten mit Forrest Gump (1994), Natural Born Killers (1994) und Thank You For Smoking (2005) demgemäß einerseits Spielfilme, deren Repräsentation kognitiver Unzulänglichkeiten oder ethisch fragwürdiger Anschauungen im außertextlichen Bezugsrahmen als normabweichend verstanden werden muss. Die Verfasserin hebt zu Recht hervor, dass ›normabweichend‹ erzählte Filme wie Martin Scorseses Taxi Driver (1976) oder Irving Pichels They Won’t Believe Me (1947) innerhalb der amerikanischen Filmhistorie eine langjährige Tradition aufweisen und von der unreliability-Forschung sträflich vernachlässigt worden sind (vgl. S. 5). Gleichwohl erscheint es problematisch, diese als normativ-unzuverlässig erzählt zu kategorisieren, da verbindliche moralische oder ideologische Normen im Hinblick auf subjektive Wertesysteme von Rezipienten variieren können. Demgegenüber markieren Filme wie Fight Club (1999) oder A Beautiful Mind (2001), die mit einem überraschenden plot twist aufwarten und nachträglich Imaginiertes von Authentischem trennen, relevante Varianten faktisch-unzuverlässigen Erzählens.

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Als filmnarratologisch substantiell erweisen sich die von Laass in Kapitel II etablierten theoretischen Grundlagen, die zunächst aufzeigen, dass erzählerische Unzuverlässigkeit eine homodiegetische Erzählsituation voraussetzt, die vermittlungsstrategisch jedoch in zwei Modi zerfallen kann: Demgemäß lassen sich unglaubwürdige Erzählerfiguren, deren Ausführungen optional auch durch voice-over begleitet werden können, maßgeblich von verzerrten Figurenwahrnehmungen unterscheiden, die mittels filmischer Fokalisierungstechniken inszeniert werden.

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Diese von Laass als explizit und als implizit bezeichneten Erzählverfahren (vgl. S. 28), die der filmischen Kommunikation von narrativen Informationen zusätzlich zur Figurenrede zur Verfügung stehen, dienen anschließend der systematischen Differenzierung normativ- und faktisch-unzuverlässig erzählter Ausprägungen im Spielfilm.

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Filmauswahl und -analysen

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Die Filmauswahl »tries to take the greatest possible diversity into account« (S. 90), sodass neben kritisch und kommerziell Aufsehen erregenden Produktionen wie Fight Club und Memento (2000) einige der hier behandelten Filme (Forrest Gump, Thank You For Smoking) zum ersten Mal in den Horizont wissenschaftlicher Betrachtung gelangen. Die sieben Filmanalysen (vgl. Kapitel III), denen zwischen 13 bis 16 Seiten eingeräumt werden, sind zu vier größeren Abschnitten gruppiert und beleuchten jeweils einen Typus des Unzuverlässigen sowie hybride Ausprägungen. Die konkreten Untersuchungen zeichnen sich durch prägnante, vorbildlich strukturierte Argumentationsverläufe aus und sind aufgrund von kompakten Inhaltssynopsen und detaillierten Sequenzprotokollen besonders für Leser mit geringen Vorkenntnissen nachvollziehbar. Die Analysen erkunden vornehmlich die ideologischen und narrativ-kommunikativen Aspekte der Irreführung, betrachten partiell Aspekte filmästhetischer Gestaltung und beleuchten ausgewählt Strategien der Studio- oder DVD-Vermarktung.

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Laass zeigt im Hinblick auf ›normatively unreliable explicit narration‹ stichhaltig auf, wie die normabweichenden Darstellungen von Erzählerfiguren den kollektiven Umgang mit Nationalgeschichte (Forrest Gump), mit political correctness (Thank You For Smoking), mit Identitätskonzepten und gender-Konstruktionen (Fight Club) satirisch aufweichen. Dagegen erweist sich die Projektion von ›normatively unreliable implicit narration‹ als Interpretationsstrategie des Rezipienten für eine typologische Einordnung des inhaltlich und ästhetisch heterogenen Films Natural Born Killers von Oliver Stone laut Verfasserin letztlich als ungeeignet, da die selbstreflexive und Tabu brechende Gewaltdarstellung innerhalb der Filmhandlung keinem expliziten Erzähler und keiner impliziten Brechung der Perspektive zugesprochen werden kann (vgl. S. 134).

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Neben The Usual Suspects stellen Fight Club, Memento und Mulholland Drive (2001) als Repräsentanten faktisch-unzuverlässigen Erzählens »often quoted classics« (S. 90) postmodern-filmischen Erzählens dar, deren inwendig fokussierte Handlungswelten gemeinhin als ›mindfilms‹ charakterisiert werden. 2 Der Zuschauer nimmt hierbei an der imaginierten Realität des Protagonisten (seinen Wahnvorstellungen, Träumen oder Halluzinationen) teil, ohne dies zu wissen. Der unverzerrte Blick auf den tatsächlichen Tathergang sowie auf die wirkliche Identität der Hauptfigur erfolgt dramaturgisch überfallartig, sodass der Rezipient eine radikale Neubewertung des Geschehens vornehmen muss. Innerhalb der fiktionalen Welten enthüllen diese Filme selbstreflexiv die Destabilisierung normierter Identitäts- und Realitätsmodelle und lassen die Grenzen zwischen objektiver Wirklichkeit und subjektiver Welterfahrung zugunsten epistemologischer Unsicherheit verschwimmen. Laass sieht in faktisch-unzuverlässig erzählten Filmen aufgrund ihres didaktischen Bruchs mit tradierten visuellen Dogmen und ihrer innovativen Erzählverfahren eine Intellektualisierung des Kinos (vgl. S. 248).

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Neben Motivationslage und sozialem Gefüge der jeweiligen Protagonisten erläutert sie stringent, inwiefern die possible worlds-Theorie fruchtbar für die Erschließung figurengebundener alternativer Realitätsentwürfe ist (vgl. S. 80–87). Ferner zeigt sie auf, dass David Lynchs Mulholland Drive im Gegensatz zu anderen hier besprochenen lügenden Filmen die Unterscheidung zwischen diegetischer Realität und Irrealität verweigert. Die stark verschachtelte Erzählstruktur macht die Projektion von unzuverlässigem Erzählen als Interpretationsstrategie, die auf eine objektive Vergleichsfolie innerhalb der Diegese angewiesen ist, weder sinnvoll noch möglich (vgl. S. 192–195).

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Unter filmhistorischen und -ästhetischen Gesichtspunkten geht die Verfasserin dezidiert auf die intertextuellen Bezüge unzuverlässig erzählter Spielfilme zum film noir der 1940er und frühen 1950er Jahre ein. Dabei skizziert sie faktenreich Gestaltungsprofil und Tendenzen der Schwarzen Serie, geht aber auch auf gesellschaftspolitische Hintergründe ein, denen das Genre im Lauf seiner Entwicklung im 20. Jahrhundert unterworfen war. Die seit Mitte der 1990er Jahre produzierten faktisch-unzuverlässigen neo noir-Thriller greifen verstärkt auf ideologisch subversive Figurenmotivationen, Subjektivierungsstrategien und komplexe Erzählstrukturen zurück. Innerhalb des filmischen Gestaltungsraums offenbart sich das dekonstruktive Spiel mit herkömmlichen Konventionen des Hollywoodschen Erzählkinos in der Auflösung von Wahrheit und Wirklichkeit zugunsten von ›Subjective Truths‹ (vgl. S. 201–210).

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Tendenzen

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In den abschließenden Kapiteln IV und V diskutiert die Verfasserin ausgesprochen differenziert die gesellschaftlichen und politischen Ursachen für den Aufschwung und Erfolg unzuverlässig erzählter Filme. Sie illustriert hierbei unter anderem, inwiefern die Clinton-Ära – geprägt von kollektiver Orientierungslosigkeit, radikalem Individualismus und steigendem globalen Konsumverhalten – die verstärkte filmische Repräsentation bedrohender Innenwelten begründet.

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Filme wie Fight Club, Memento, Thank You For Smoking und Natural Born Killers wenden sich Laass zufolge gezielt an

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different needs of the audience because they reflect perceived deficiencies and states of disorder within the viewer’s own reality model, such as the lack of legal and social justice, violence, terrorism, hypocrisy, or medial manipulation, which the ›feel good‹ representations of mainstream Hollywood cinema typically suppress. […] they also revaluate them by combining them with very positive notions, such as the narrator’s or focaliser’s intelligence, coolness, or humour. (S. 233)
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Demgegenüber liefern die von der Bush-Regierung ausgelösten globalpolitischen Veränderungen den Grundstein für einen soziokulturellen Paradigmenwechsel. In diesem Zusammenhang erweist sich Laass’ Feststellung, moralische Scheinheiligkeiten gesellschaftlicher Strukturen würden sich seit Anfang des neuen Jahrtausends vornehmlich in normativ-unzuverlässigen Spielfilmen widerspiegeln (vgl. S. 249), zumindest als diskussionswürdig (bietet doch die Blütezeit faktisch-unzuverlässiger filmischer Produktionen zwischen 2000 und 2005 das augenfällige Gegenbeispiel). Dagegen stellt sie zutreffend fest, dass die Problematisierung des unsteten Individuums seit Mitte der 2000er Jahre zugunsten der kulturdiskursiven Thematisierung des »instable state of the nation and its threat from outside forces« (S. 249) weicht, sodass seit spätestens 2006 ein auffallender Rückgang faktisch-unzuverlässig erzählender amerikanischer Produktionen zu verzeichnen ist.

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Fazit

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Obwohl die spezifische Zusammenstellung der behandelten Filme verdeutlicht, dass Laass problemorientiert vorgeht, um einen repräsentativen Überblick über das typologisch breite Spektrum unzuverlässigen Erzählens im kommerziellen amerikanischen Spielfilm seit den 1990er Jahren zu liefern, lässt die Studie eine differenziertere Auseinandersetzung mit erzählerischer Unzuverlässigkeit in filmischen Rückblenden ungenutzt. Zeitgenössische amerikanische Spielfilme, die vergleichend zu Forrest Gump, Fight Club und The Usual Suspects diskussionswürdig erscheinen, sind beispielsweise Basic (2003), High Crimes (2002) und One Night at McCool’s (2001). Gleichwohl bereichert Laass’ Studie die filmnarratologische Forschungslage zu erzählerischer Unzuverlässigkeit im Spielfilm um wichtige Facetten. Das erzähltheoretisch handfeste Inventar zur konkreten Filmanalyse, die solide und transparente Argumentation sowie die klar verständliche Sprache empfehlen die vorliegende Monographie als maßgebliche Einführung zu Ausprägungen erzählerischer Unzuverlässigkeit im amerikanischen Spielfilm der Gegenwart. Unter formalen Gesichtspunkten sei lediglich kritisch angemerkt, dass ein Index der Filmtitel wünschenswert gewesen wäre.

 
 

Anmerkungen

Vgl. hierzu die Sammelbände von Kerstin Kratochwill / Almut Steinlein (Hg.): Kino der Lüge. Bielefeld: transcript 2004; Fabienne Liptay / Yvonne Wolf (Hg.): Was stimmt denn jetzt? Unzuverlässiges Erzählen in Literatur und Film. München: edition text + kritik 2005; Jörg Helbig (Hg.): »Camera doesn’t lie«: Spielarten erzählerischer Unzuverlässigkeit im Film. Focal Point 4. Trier: WVT 2006.   zurück
Vgl. hierzu Jonathan Eig: A beautiful mind(fuck): Hollywood structures of identity. In: Jump Cut: A Review of Contemporary Media (2003) 46. URL: http://www.ejumpcut.org/archive/jc46.2003/eig.mindfilms/text.html (Letzter Zugriff: 04.07.2009); sowie Alexander Geimer: Der mindfuck als postmodernes Spielfilm-Genre. Ästhetisches Irritationspotenzial und dessen subjektive Aneignung untersucht anhand des Films The Others. In: Jump Cut Klassiker (o. J.). URL: http://www.jump-cut.de/mindfuck1.html (Letzter Zugriff: 04.07.2009).   zurück