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Mundus vult decipi

Die Fälschung als ästhetisches, literarisches und wissenschaftliches Grenzphänomen

  • Anne-Kathrin Reulecke (Hg.): Fälschungen. Zu Autorschaft und Beweis in Wissenschaften und Künsten. (stw 1781) Frankfurt/M.: Suhrkamp 2006. 425 S. 47 Abb. Kartoniert. EUR (D) 15,00.
    ISBN: 3-518-29381-8.
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»Die Echtheit einer Sache ist der Inbegriff alles von Ursprung her an ihr Tradierbaren, von ihrer materiellen Dauer bis zu ihrer geschichtlichen Zeugenschaft.« 1 Walter Benjamins Definition von »Echtheit« liefert einen möglichen Gegenbegriff zur Fälschung, der anzeigt, was ihr fehlt: »materielle Dauer« der Tradition und der Zeuge, welcher den Ursprung des Objekts verifiziert und gegebenenfalls zertifiziert. Wiederum mit Benjamin und ausgehend von seinen bekannten Ausführungen kann die Fälschung weiterhin für ein typisches Merkmal der modernen Kultur gehalten werden, ist doch jede Fälschung unendlich reproduzierbar. 2

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Die Unterscheidung von Original und Fälschung selbst ist denn das Signum der modernen Kultur überhaupt. Denn wenn, mit Niklas Luhmann gesprochen, der Übergang zur Moderne durch die »Erfindung von Kultur« gekennzeichnet ist und unter Kultur, so Luhmann weiter, nichts anderes als die Verdoppelung aller Artefakte zu verstehen ist, so gibt die Fälschung dafür ein Beispiel par excellence ab.

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Schließlich ermöglicht das gefälschte Artefakt die Beobachtung zweiter Ordnung, sobald sich Original und Fälschung ausdifferenzieren und als solche überhaupt erkennbar werden. 3 Gleichzeitig – und hierauf beruht der intrikate Charakter der Fälschung – spielt sie mit der Ausdifferenzierung, indem sie sich dem Original angleicht und auf diese Weise droht, den Beobachter zu täuschen. Der Fälscher und sein Gegenspieler nehmen beide die Beobachterposition zweiter Ordnung ein, da sie entscheiden was Fälschung und was Original ist. Der eine ist der Experte des Falschen, der andere der Anwalt des Wahren, doch beide verfügen sie über das gleiche Wissen.

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Wenn also das Fälschen ein kultureller Vorgang ist, dann wird man dabei viel über das Original erfahren und seinen kulturellen Entstehungshintergrund. Diese Dialektik von Fälschung und Original, hier nur in groben Zügen wiederholt, herauszuarbeiten, historisch zu vertiefen und nachzuweisen, ist Anliegen und Verdienst des von Anne-Kathrin Reulecke herausgegebenen Bandes.

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Seine Beiträge decken ein weites interdisziplinäres Spektrum ab. Die Geschichts-, Literatur- und Medienwissenschaften gehören ebenso dazu wie die Kunstgeschichte und die Religionswissenschaften. Bereits anhand der Aufzählung der beteiligten Disziplinen fallen die beiden, dem Band zugrunde liegenden Intentionen auf, sich nämlich einmal des Themas aus einer globalen Perspektive anzunehmen und zum anderen die Anbindung an fachspezifische Diskussion zu suchen, um die jeweils besonderen Bedeutungen und Funktionen der Fälschung in den heterogenen Wissensbereichen zu berücksichtigen. Herausgekommen ist ein Sammelband mit Kompendiumscharakter, in dem allgemeine Aussagen zur Fälschung anhand detaillierter Untersuchungen sowohl überprüft als auch vertieft werden.

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Die Fälschung als Artefakt und Wissensobjekt

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In ihrer Einleitung gibt die Herausgeberin die folgende Definition der Fälschung wieder: »›Fälschung, lat. Falsum, die zu betrügerischen Zwecken vorgenommene Nachbildung oder Veränderung eines Gegenstandes.« 4 (S. 21) Zur Fälschung zählen also nicht nur Worte, sondern vor allem materielle Objekte. Konrad Kujaus ›Hitlertagebücher‹ werden als Beispiel angeführt wie auch Manipulationen in der Krebsforschung, die medialen Fälschungen während des zweiten Irak-Krieges und Binjamin Wilkomirskis Pseudo-Autobiografie einer Kindheit im Konzentrationslager. Die Fälschung ist stets beides: ein materielles Artefakt und das Wissensobjekt eines Diskurses. Neben dem bloßen Objektstatus interessiert daher vor allem ihr Erscheinen auf der Ebene der Aussagen: »Weit interessanter ist der Befund des Befundes. Heute gilt es vielmehr zu klären, warum Fälschungen – genauer: das Argwöhnen, Entlarven, Problematisieren und Sammeln von Fälschungsfällen – zu bestimmten Zeiten Konjunktur haben.« (S. 10) Es gelte, das »Erkenntnispotential der Fälschung« (S. 22) für die Forschung zu nutzen. Fälschungen, vor allem die spektakulären, eröffnen eine

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reizvolle Perspektive auf offenkundige Lücken in den scheinbar geschlossenen Systemen der Künste und Wissenschaften, die stets mit Bekanntwerden der Fälschungsfälle einen Teil ihrer Autorität einbüßen. […] Was Fälscher und Experte teilen, ist ihr gemeinsames Wissen: Der Fälscher kann folglich immer nur ein abtrünniger Insider sein. (ebd.)
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Besondere Aufmerksamkeit verdient die präzise und deshalb sehr hilfreiche begriffliche Abgrenzung des Fälschungsbegriffs von der Kopie 5 , der Lüge 6 , der Mimikry 7 oder der Illusion und der Simulation. 8 Fälschungen werden als (materielle) Artefakte profiliert, was den Vorzug hat, sie leichter von der Lüge, die sich durch ihre Sprachlichkeit auszeichnet, abzusetzen. Die Betonung der Materialität der Fälschung stellt eine wertvolle Analysekategorie dar, die die engen Grenzen disziplinärer Typologien überschreitet. 9 So wird der Materialität der Fälschung, d.h. der »›material-medialen‹ Grundlage von Diskursen« (S. 27) eine Schlüsselstellung zugeschrieben.

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Fälschung als Information, Information als Fälschung

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Bernhard Dotzler erinnert in seinem Beitrag an Hans Blumenbergs Forschungsprojekt zur Untersuchung der ›Astronoetik‹. 10 Man schreibt die Zeit des Kalten Krieges. Der sogenannte ›Sputnikschock‹ erschreckt die westliche Welt. Er motiviert auch die Geisteswissenschaften, die mit ihren Mitteln auf die Bedrohung reagieren. Blumenberg ist der Meinung, in der prekären Situation, in der sich der Westen befände, sollen sich die Geisteswissenschaft an dem Wettlauf im Weltall beteiligen. Das Ziel der ›Astronoetik‹ ist die Erforschung der Rückseite des Mondes mithilfe der Kraft des reinen Denkens. Auf technisches Gerät kann also verzichtet werden, da Angst dem Denken Flügel verleihe. Bernhard Dotzler nimmt Blumenbergs Wissenschaftsfake zum Ausgangspunkt für seine historischen Analysen, um zu zeigen, dass in der Geschichte der Astronomie von Ptolemäus bis Kopernikus die Fälschung astronomischer Daten ein üblicher Vorgang gewesen ist. Medien- und informationstheoretisch sei das Fälschungsparadigma vor allem deshalb interessant, weil ein elementarer Wesenszug von Information zum Vorschein komme. Es gebe zwar keine gefälschte Information, aber jede Fälschung sei eine Information:

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Fälschen [wird] immer erst ex post zur Sache […], erst nachdem sie bereits aufgehört hat, als Fälschung zu funktionieren. […] Fälschen ist ein propositionaler Akt. Nicht Sachen, sondern Sachverhalte werden gefälscht; nicht Gegenstände, sondern Behauptungen über Gegenstände; nicht Information, sondern –: durch Information wird gefälscht. Denn gefälschte Informationen gibt es nicht. Es gibt Falschinformation, gar keine Frage. Aber selbst diese ist und bleibt Information. (S. 78)
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Der Fälscher und die moralische Autorität
im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit

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Carlo Ginzburg nimmt in seinem Beitrag eine kulturhistorische Perspektive auf das Phänomen der Fälschung ein. Sich an der Geschichte des Wortes counterfeit orientierend, untersucht er mittelalterliche und frühneuzeitliche Texte wie De planctu naturae von Alan de Lilles, Dantes Divina Commedia und den Roman de la Rose. Die Polysemie von counterfeit, das sowohl ›vortäuschen‹, ›nachbilden‹ wie auch ›fälschen‹ meinen kann, wird von ihm zum Anlass genommen, die zahlreichen Verkettungen von Natur, Kunst und Geld im philosophischen und literarischen Diskurs des Mittelalters und der Frühen Neuzeit aufzuweisen. Ihr gemeinsames thematisches Leitmotiv entdeckt Ginzburg in der Idee der Natur als Künstlerin. Wichtig ist sein Hinweis auf die Mehrdeutigkeit des Reproduktionsbegriffs, der sowohl die biologische Reproduktion als auch die technische Herstellung von Artefakten (z.B. Münzen) umfasst. In den erotisch aufgeladenen Passagen in De planctu naturae und dem Roman de la Rose tritt die Natur als Schmied auf, der seine Objekte prägt. In einer argumentativen Volte zeigt Ginzburg auf erhellende Weise den ökonomischen Kon- und Subtext auf, der auf das Wirtschaftssystem der florierenden italienischen Städte Bezug nimmt. Im strikten Gegensatz zur Natur steht hier der Händler, welcher als Geldfälscher denunziert wird. In seiner Interpretation der Divina Commedia gibt Ginzburg Dantes Invektiven gegen die Händler, Geldverleiher und Wucherer wieder. Dante, der »große reaktionäre[] Dichter« (S. 117), habe die florierende Geldwirtschaft der aufsteigenden italienischen Handelsstädte kritisiert, indem er die Schmied-Allegorie um- und weiterdichtet. Zwei Abweichungen von der Kunst, die die Natur nachahmt, stellten die Sodomie und der Geldwucher dar. Beide beiden handele es sich um Formen des unnatürlichen Geschlechtsverkehrs respektive der unnatürlichen Fortpflanzung. Die Geldfälscher und Händler würden zwar die Natur nachahmen, doch stünde ihr Tun im krassen Gegensatz zur moralischen Natur. (S. 117) Ginzburg schließt seinen Aufsatz mit einem offenen Resümée. Angesicht der Fotografie, der Fotokopien und schließlich der Klone sei »die Natur […] in ihrer Schmiede nicht mehr allein. […] Vor uns liegen neue Welten, möglicherweise voller menschliche Replikanten, wie sie in literarischen Utopien und Science-Fiction-Filmen antizipiert werden. Doch eine grenzenlose Vervielfältigung wird nicht zu einer gerechteren Gesellschaft führen.« (S. 122)

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Fälschung in der Religion

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Dass in einem Band zur Fälschung die Bibel nicht fehlen darf, versteht sich angesichts der erwartbaren Brisanz dieses Themas von selbst. Die Bibel kennt allerdings, so Martin Treml, den Begriff der Fälschung im engeren Sinne nicht. Zwar seien falsche Propheten und Pseudo-Wunder bekannt, sie aber als ›Fälschungen‹ zu titulieren, verbiete sich aufgrund der Semantik des religiösen Wahrheitsbegriffs. Das Gegenteil zur Wahrheit sei »nicht einfach Lüge oder Betrug, sondern, wenn von Gott die Rede ist, immer die Evidenzlosigkeit als Ereignislosigkeit oder fehlende Faktizität.« (S. 153) Die binäre Opposition von ›Wahrheit‹ versus ›Evidenzlosigkeit‹/ ›Ereignislosigkeit‹ ließe sich dementsprechend nicht zu einer tertiären Begriffslogik erweitern, da »von Fälschungen bei diesem Verständnis von Wahrheit und Wirklichkeit, Wissen und Existenz gar nicht gesprochen werden kann«. (S. 154) Wenn im Wunder die Wirklichkeitsbedingungen des religiösen Ereignisses erfüllt werden, so kann es keine gefälschte Wunder geben, da sie nicht wirklich sind, d.h. sich nicht ereignen können. Und weil es keine Wunder gibt, die sich nicht ereignen, bildet die Vorstellung eines ›gefälschten Wunders‹ einen Widerspruch in sich. Die Wundmale des Märtyrers, des Blutzeugen, bieten hierfür ein anschauliches Beispiel. In seiner wissenschaftsgeschichtlichen Perspektive geht Treml davon aus, dass die »Wahrheit als problematisch gewordener Gegenstand von Erkenntnis und Spekulation« erst im zweiten und dritten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung erkannt wird. Dann nämlich, als die hebräischen Wörter emuna und emet, die ›Treue‹, ›Festigkeit‹ und ›Sicherheit‹ bedeuten, beginnen, sich semantisch auszudifferenzieren. In der Septuaginta werde emuna als ›Glaube‹ (pistis) und emet als ›Wahrheit‹ (alétheia) übersetzt. (S. 149) Dieser spannenden These wäre eine weitergehende Differenzierung anzuschließen, die bereits in der Argumentation impliziert wird. Was sich im Laufe der sprachlichen Übersetzung abzeichnet, ist die Differenzierung von Wissen (episteme) und Glaube (doxa). Glaube und Wahrheit, eigentlich zusammengehörig 11 , werden erst aufgrund der interpretatorischen Übersetzung als getrennte Kategorien artikulierbar.

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Fälschung als Kategorie der Wissenschaftsgeschichte

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In seinem Beitrag zur wissenschaftlichen Fälschung untersucht Ohad Parnes die zoologischen Experimente des Wiener Biologen Paul Kammerer. Die Geschichte Kammerers stellt ein Stück Skandalgeschichte innerhalb der Geschichte der Biologie des 20. Jahrhunderts dar. Sein Selbstmord im Jahre 1928 steht gleichzeitig für das Ende des Neolamarckismus, einer biologischen Theorie, die die Theorie der Vererbung erworbener Eigenschaften vertritt. 12 Parnes untersucht im Detail die weniger bekannten, aber, was die Dauer des Experiments – 12 Jahre! – anbelangt, biografisch gewichtigeren Versuche mit Feuersalamandern. Kammerer will den Beweis antreten, dass es sich bei den beobachteten Veränderungen nicht nur um einen physiologischen, sondern um einen morphologischen Farbwechsel handelte, der das Resultat veränderter Lebensbedingungen darstellt. Je nach Farbe des Untergrundes verändert sich, so Kammerer, die Konzentration der schwarzen und gelben Pigmente, deren Reproduktion entweder gesteigert oder inhibiert wird. Das besondere Verdient von Parnes ist es, die in unterschiedlichen Phasen des Experiments aufgenommen Fotografien einem genauen Vergleich zu unterziehen. Auf diese Weise gelingt es ihm, die Retuschen in den Zeichnungen nachzuweisen. Im zweiten Teil des Artikels wird der Fälschungsvorwurf dann aus einer anderen, überraschenden Perspektive betrachtet, die das Urteil der Wissenschaftsgeschichte über Kammerer in gewisser Weise abmildert. 13 Nach Parnes müssen die Retuschen nicht zwangsläufig als Manipulationen, sondern können als experimentelle Eingriffe, d.h. als Teil eines größeren Versuchs angesehen werden. Er erklärt das Salamander-Experiment mithilfe von Kammerers theoretischer Biologie. Ihr Herzstück ist die »experimentelle Serienlehre« (S. 242). 14 Gemäß der sogenannten Imitationshypothese herrsche in der organischen wie anorganischen Materie die Tendenz der ›An- und Ver-Ähnlichung‹ vor. Nach Parnes hat der unleugbarer Eingriff nur etwas in Gang gesetzt, was nach Kammerer einem Naturgesetz gehorcht. Eine Trennung von Experiment und objektiven Experimentator sowie Naturgesetz und Manipulation ließe sich in dem Gesamtrahmen nicht aufrechterhalten. Als Simulationsräume von Natur sei das Experiment vor allem ein ästhetisches Phänomen: »Experimente sind also nicht allein logische Gebilde, sondern auch ästhetische Erfahrungen. In diesem Sinne lassen sie sich auch nicht fälschen.« 15 (S. 243)

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Das Plagiat zwischen literarischem
und juridischem Diskurs

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Anne-Kathrin Reulecke widmet sich dem Funktionswandel des literarischen Plagiats vom 18. Jahrhundert bis zur Postmoderne. Eine ihrer beiden Hauptanliegen ist es, die Verflechtungen literarischer und juridischer Diskurse aufzuzeigen, die ihre Kategorien gegenseitig belehnen. Das Plagiat sei ein interdiskursives Phänomen, das zwischen dem literarischen, philologischen und juridischen Diskurs »hin- und herwandert«, woraus es gerade »seine Wirksamkeit« beziehe. (S. 268) Im Kult des Originalgenies des 18. Jahrhunderts sind die Anfänge jener Entwicklung zu verorten, die schließlich zur Abwertung des Plagiats geführt haben. Den Diskursbegründer macht Reulecke dabei in Edward Youngs Gedanken über die Original-Werke (1759) aus. Nicht als Nachahmung, sondern als eine natürliche Schöpfung würden die Werke des Genies betrachtet werden. Den juristischen Gegenbegriff zum Plagiat bildet das geistige Eigentum. Mit dem Preußischen Gesetz zum Schutze des Eigentums künstlerischer und wissenschaftlicher Werke aus dem Jahre 1837 und der damit einhergehenden Bestimmung des Urhebergesetzes zum Reichsgesetz werde zwar die Frage des Nachdrucks, aber nicht primär die des Plagiats berührt. Bis in die Gegenwart sei dieser Sachverhalt unverändert geblieben. So heißt es noch heute im Urhebergesetz: »Das Plagiat ist kein Rechtsbegriff.« (S. 274) In der Kunst, wo das Plagiat, als ästhetischer Befund weithin geduldet, wenn auch nicht geschätzt wird, kann mit diesem Vorwurf die Legitimation des Dichters bis ins 19. Jahrhundert in Frage gestellt werden. Im Urheberrecht wird das Plagiat zwar nicht als Straftat geahndet, doch sei eine Einwirkung des literarisch-philologischen Diskurses zu konstatieren. »In der Konzeptualisierung der rechtlichen Urheberschaft kommt also ein Begriff von Autorschaft zu Tragen, der […] am Muster der literarischen Autorschaft des 18. Jahrhunderts ausgebildet worden ist.« (S. 273) Zwar spielen sich die Plagiatsvorwürfe nun außerhalb des Gerichts ab, doch werden sie nichtsdestotrotz mit großer Verve vorgetragen. Ein kurioses Exempel gibt die 1890 unter dem Titel »Leszing’s Plagiate« publizierte Schrift von Dr. phil. et med. Paul Albrecht ab, die eine über 2500 Seiten ausgewälzte Abrechnung mit Lessing repräsentiert. Ein jüngeres Beispiel ist die Goll-Affäre, in der Paul Celan von Claire Goll, der Witwe Yvan Golls, des literarischen Diebstahls beschuldigt wird. Reulecke hebt zu Recht den versteckt antisemitischen Charakter des Vorwurfs hervor, demzufolge jüdische Künstler der Erschaffung von Originalwerken unfähig sind. Aus der Musikgeschichte sind vergleichbare Fälle bekannt: Es sei an Richard Wagners antisemitische Ausfälle gegen jüdische Musiker erinnert oder an die Angriffe, denen Gustav Mahler während seiner Zeit in Wien ausgesetzt ist. 16 Für die Postmoderne konstatiert Reulecke das ludische Moment, wie am Beispiel von Georges Perecs Le voyage d’hiver gezeigt wird. »In ihren Texten [d.i. der Postmoderne] wird das Plagiat zum Spiel.« Eine metaphorologische Untersuchung des Plagiatsdiskurses weist auf die Verwendung ödipaler Familienmetaphern hin. Mit Bloom plädiert Reulecke für die Subsumierung der Plagiatsangst unter die poetologische Kategorie der Einflussangst, d.i. die Angst vor den literarischen Vorgängern, die die schriftstellerische Eigenexistenz zu überschatten drohen. 17

[21] 

Die Fälschung aus der historischen Perspektive
der Bibelwissenschaft

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Die »Figuren der Fälschung« an den Schnittstellen von »Text, Paratext und Autorschaft« (S. 327) stehen im Mittelpunkt des Beitrags von Daniel Weidner, der einen historischen Querschnitt durch die Bibelphilologie der letzten vier Jahrhunderte bietet. Natürlich sei die Frage, ob die Bibel, genauer: ihr Text eine Fälschung sei, von jeher von großer Dringlichkeit gewesen. Spinozas Zweifel an der Autorschaft Moses, den die offensichtlichen anachronistischen Unstimmigkeiten im Text schüren, erlaube den Gehalt des Textes in seinen Sinn- und Wahrheitsgehalt zu unterscheiden. Allerdings gehe Spinozas Unterscheidung weiter als die bloße Annahme einer Dichotomie, in der das wahre dem falschen Buch gegenüberstehe. Vielmehr unterliegt der paulinischen Differenzierung von buchstäblichem Sinn und offenbarer Wahrheit eine Strategie, die niemals dazu führen könne, den biblischen Text in Frage zu stellen, sondern den Leser in die Verantwortung für die Interpretation zu nehmen. Wer Zweifel äußert, zieht den Verdacht auf sich. Die Frage nach Fälschungen »kann nur Zeichen seines Unglaubens sein.« (S. 331) Sola scriptura, sola fide und sola gratia gehörten bei Spinoza schon immer zusammen. Auf einer anderen, stärker materialbezogenen Ebene spielt sich Jean Astrucs philologische Bibelkritik ab. Das von Spinoza aufgeworfene Problem der Zeugenschaft verschiebt sich zu der Frage nach der Überlieferung der Texte. Welche Rollen spielen die Textverderbnis für das Verständnis der Bibel? Astrucs richtet seine Aufmerksamkeit auf Kontaminationen und fehlerhafte Kompilationen, die den Sinn entstellen. Um diese zu korrigieren, rekonstruiert er die Abfolge der Texte neu. Hier versteht sich also Bibelphilologie als archäologische Arbeit und Wiederherstellung einer ursprünglichen Ordnung.

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Reimarus dagegen kritisiert die Evangelien als unwiderrufliche »Urfälschung«, was aus ihrer Intention zu erschließen wäre, die politische Dimension Jesu zu übersehen. Eine solche interpretatorische Unterstellung greift dagegen für David Strauss zu kurz. Das Problem der Fälschung könne nicht aufkommen, »da wirkliches und wahres schon immer miteinander vermittelt sein müssen.« (S. 341) Denn der Akt der Interpretation sei unabhängig von derlei Kontaminationen und Überlieferungsfehlern, weil sich der wahre Text ausschließlich im Akt des Verstehens offenbare.

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Die Fälschung im Zeitalter
ihrer digitalen Reproduzierbarkeit

[25] 

Nobert Bolz’ Befund zur Fälschung bietet zugleich eine historische Diagnose an: »Die Krise der Echtheit und der Kult des Authentischen sind also Komplementärphänomene.« (S. 416)

[26] 

Um der Frage nachzugehen, ob es »strukturelle Gründe die Aktualität des Themas Fälschung?« (S. 408) gäbe, die sowohl für die Wissenschaften als auch für die Kunst zuträfen, schreitet Bolz zur Typologisierung der besagten Krisenphänomene.

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Als ersten Punkt hält er fest, dass die Fälschung eine Form der negativen Etikettierung darstelle, die erst möglich werde, sobald die Grundlagen für einen kulturellen Vergleich geschaffen seien. Die Fälschung sei das historische Signum einer »Kultur des Vergleichs« (S. 408), die sich erst in der Relation zu einer anderen Kultur begreifen könne. Damit gehe die »Steigerung des Kontingenzbewusstsein« Hand in Hand. Im Zusammenhang mit dem zweiten Punkt bezüglich der Reproduzierbarkeit des Kunstwerkes, die, wie Bolz mit Benjamin vertritt, die Idee des Originals, der Einmaligkeit und der Echtheit obsolet werden lässt (S. 408), ist ein weiteres charakteristisches Merkmal zu erwägen, und zwar dass der Technologie. Die »Digitalisierung« sei die »Schlüsseltechnik für das Zeitalter der Fälschung.« (S. 408) Die »elektronische Bildverarbeitung«, so die weitere Zuspitzung, sei ein Weg zur »Manipulation« (S. 409) von Daten. Aus einer philosophiegeschichtlichen Perspektive erklärt sich die Faszination an der Fälschung aus der lang anhaltenden »Konjunktur des Konstruktivismus«. (S. 409) Der Illusionismus, welcher den erkenntnistheoretischen Skeptizismus forciert habe, sei dem Problembewusstsein der Fälschung zum Opfer gefallen. »Das Problem der Täuschung hat den Kantianismus provoziert, das Problem der Fälschung provoziert den Konstruktivismus« (S. 409) Zuletzt gibt Bolz einen Hinweis auf die Aktualität der politischen Bedeutungsdimension in einer Zeit, die von »Verschwörungstheorien« (S. 410) heimgesucht werde. Die »Perfektion der Militärtechnik [ist] eins mit ihrer Medialisierung«; Fälschungsvermutungen steigerten sich auf diese Weise zur »Paranoia.« (S. 410)

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Fazit

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Dieser Band stellt ohne Frage einen eminent wichtigen Forschungsbeitrag zur Fälschung und Kopie dar. An der hohen Qualität der Beiträge besteht ebenso wenig Zweifel wie an ihrer gelungenen Zusammenstellung. Die weitere Forschung zum Thema Fälschung in Wissenschaft und Kunst wird auf diesem Band aufbauen.

 
 

Anmerkungen

Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (Zweite Fassung). In: W. B.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann, H. Schweppenhäuser unter Mitwirkung v. Theodor W. Adorno, Gershom Scholem. (stw 936) Frankfurt/M.: Suhrkamp 1989, Bd. 7, S. 350–384, hier: S. 353.   zurück
Vgl. James Koobatian (Hg.): Faking it. An international bibliography of art and literary forgeries 1949–1986. Washington, D.C.: Special Libraries Assoc. 1987; Nelson Goodman: Languages of Art. An approach to a Theory of Symbols. Indianapolis: Hackett Publishing 1976; Denis Dutton (Hg.): The Forger’s Art. Forgery and the Philosophy of Art. Berkeley: University of California Press 1983; Gregory Currie: An Ontology of Art. Basingstoke: Macmillan 1989; Werner Fuld: Das Lexikon der Fälschungen. Fälschungen, Lügen und Verschwörungen aus Kunst, Historie, Wissenschaft und Literatur. Frankfurt/M.: Eichborn 1999; Jörg Huber/ Martin Heller/ Hans-Ulrich Reck (Hg.): Imitationen. Nachahmung und Modell. Von der Lust am Falschen. Basel, Frankfurt/M.: Stroemfeld 1989, S. 140–159.   zurück
Niklas Luhmann: Jenseits von Barberei. In: Max Miller / Hans-Georg Soeffner (Hg.) Modernität und Barbarei. Soziologische Zeitdiagnosen am Ende des 20. Jahrhunderts. (stw 1243) Frankfurt/M.: Suhrkamp 1996, S. 219–230, hier: S. 225 f.   zurück
Der Große Brockhaus, 16., völlig neu überarbeitete Auflage. Wiesbaden: Brockhaus 1952.   zurück
Vgl. zur Kopie: Jacques Derrida: Economimesis. In: Diacritics 2.11(1981), S. 57– 93; Hillel Schwartz: The Culture of the Copy. Striking Likenesses, Unreasonable Facsimiles. New York: MIT Press 1996.   zurück
Mathias Mayer (Hg.): Kulturen der Lüge. Köln / u.a. : Böhlau 2003; Volker Sommer: Lob der Lüge. Täuschung und Selbstbetrug bei Tier und Mensch. München: Beck 1992.   zurück
Gabriele Brandstetter: Fälschung wie sie ist, unverfälscht. Über Models, Mimikry und Fake. In: Andreas Kablitz, Gerhard Neumann (Hg.): Mimesis und Simulation. Freiburg i. Br.: Rombach 1998, S. 419–450.   zurück
Jean Baudrillard: Simulacra and simulation. Ann Arbor: University of Michigan Press 1997; Werner Jung: Von der Mimesis zur Simulation. Eine Einführung in die Geschichte der Ästhetik. Hamburg: Junius 1995; Astrid Deuber-Mankowsky: Praktiken der Illusion. Kant, Nietzsche, Cohen, Benjamin bis Donna J. Haraway. Berlin: Vorwerk 8 2007.    zurück
So hat schon Nelson Goodmann zwischen autographischen und allographischen Künsten unterschieden, um zwischen der Täuschung (fake) und der Fälschung (forgery) zu unterscheiden. Nur autographische Künste wie die Malerei seien zur Fälschung geeignet, da ihr ästhetischer Gehalt von dem Material abhängt. In allographischen Künsten wie der Literatur ist dies nicht der Fall. Eine wörtliche Kopie von Faust I kann beispielsweise nicht vortäuschen, ein anderes Kunstwerk zu sein als das Werk Goethes, da sein künstlerischer Gehalt unabhängig von seinem materiellen Träger ist. Nelson Goodman (Anmerk. 2).   zurück
10 
Hans Blumenberg: Die Vollzähligkeit der Sterne. (stw 1931) Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997, S. 320, hier: S. 548 f.   zurück
11 
Vgl. Rivka Feldhay: »Thomist Epistemology of Faith. The road from ›Scientia‹ to Science«. In: Science in Context 3.20 (2007), S. 401–421.   zurück
12 
Stephen Jay Gould: The Structure of Evolutionary Theory, London, Cambridge/ Mass.: The Belknap Press of Harvard University Press 2002, S. 410.   zurück
13 
Die Ausnahme bildet Arthur Koestler: Der Krötenküsser. Der Fall des Biologen Paul Kammerer oder Für eine Vererbungslehre ohne Dogma. Reinbeck b. Hamburg: Rowohlt 1974.   zurück
14 
Vgl. zur Serie Andreas Wolfsteiner: »SYN.(CHRON)I(ZI)TÄT«. In: Sprache und Literatur 95.36 (2005), S. 120–137.   zurück
15 
Es sei hier angemerkt, dass die Biologie durchaus einen Begriff der Fälschung kennt. So hat Haeckel von der »Fälschungsgeschichte« (Cenogenesis) gesprochen und damit die Assimilation fremder Eigenschaften in die Palingenesis gemeint. Ernst Haeckel: Anthropogenie oder Entwicklungsgeschichte des Menschen. Gemeinverständliche wissenschaftliche Vorträge über die Grundzüge der Menschlichen Keimes- und Stammesgeschichte. Leipzig: Engelmann 1877, S. 321, 740. Vgl. Sigrid Weigel: Genea-Logik. Generation, Tradition und Evolution zwischen Kultur- und Naturwissenschaft. München u.a.: Fink 2006, S. 10.   zurück
16 
Richard Wagner: Das Judentum in der Musik. In: Sämtliche Schriften und Dichtungen, 12 Bde. Leipzig o.J., Bd. 5, S. 66–85; Jens Malte Fischer: Gustav Mahler. Der fremde Vertraute. Wien 2003, S. 319.   zurück
17 
Harold Bloom: The anxiety of influence. A theory of poetry. New York: Oxford University Press 1973.   zurück