IASLonline

Wie Gedichte erzählen

Narratologische Analysen deutschsprachiger Gedichte

  • Jörg Schönert / Peter Hühn / Malte Stein (Hg.): Lyrik und Narratologie. Text-Analysen zu deutschsprachigen Gedichten vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. (Narratologia. Contributions to Narrative Theory / Beiträge zur Erzähltheorie 11) Berlin, New York: Walter de Gruyter 2007. 333 S. Gebunden. EUR (D) 98,00.
    ISBN: 978-3-11-019321-3.
[1] 

Wer sich für Erzähltheorie und den aktuellen Stand dieses Forschungsfelds interessiert, kommt mittlerweile kaum noch vorbei an der Reihe Narratologia. 1 Hier werden zum einen die Ergebnisse eines der »zentralen Anliegen der internationalen Literaturwissenschaft« 2 seit den sechziger Jahren bilanziert. 3 Zum anderen zeigt sich Erzähltheorie hier als blühender Zweig der Literaturwissenschaft: Als Analyseinstrument hat die Erzähltheorie ihre Möglichkeiten nicht ausgeschöpft und erschließt sich weiterhin neue Anwendungsgebiete.

[2] 

Ein Dokument dieser anhaltenden Expansionsbewegung der Narratologie ist der von Jörg Schönert, Peter Hühn und Malte Stein vorgelegte Band Lyrik und Narratologie (2007). Er versteht sich als »Parallelaktion« 4 zum 2005 erschienen Band The Narratological Analysis of Lyric Poetry. 5 Darin entwickeln Peter Hühn und Jörg Schönert einen theoretischen und methodologischen Ansatz zur narratologischen Untersuchung von Gedichten und wenden ihn auf ausgewählte englischsprachige Gedichte an. Diesen Ansatz übernimmt der jüngere Band für die Analyse deutschsprachiger Gedichte.

[3] 

Lyrik als Reduktionsform des Erzählens

[4] 

Eine Grundannahme der Autoren ist, dass lyrische Texte – ähnlich wie dramatische Texte – Reduktionsformen des Erzählens sind, deren »Reduktionsgrade im Anlegen möglicher Vermittlungsebenen« variabel sind (vgl. S. 4). Das Anliegen des nun vorliegenden Bandes knüpft an diese Annahme in zweifacher Hinsicht an: Zum einen verstehen ihn die Autoren als praktische Anwendung der Erzähltheorie mit dem Ziel, »die Verfahrensweisen und die Fruchtbarkeit des narratologischen Ansatzes praktisch zu demonstrieren« (S. 13). Das narratologische Instrumentarium soll also für die Lyrikanalyse profiliert werden und damit noch einmal seine Vielseitigkeit beweisen. Zum anderen ist der Band darauf angelegt, »mit Hilfe des narratologischen Instrumentariums die Besonderheiten narrativer Strukturen in der Lyrik herauszuarbeiten« (S. 13).

[5] 

»Erzählen« gilt den Autoren dabei als Kommunikationsakt, der Geschehensfolgen sinnkonstitutiv strukturiert und der sich dazu gestaffelter Vermittlungsinstanzen, insbesondere einer Erzählinstanz, bedient (vgl. S. 4). Damit definieren die Autoren den Erzählvorgang in einer Mischkonzeption aus klassischem Erzählkonzept und strukturalistischem Narrativitätsbegriff, das sich in der Literaturanalyse etabliert hat: 6 Demnach kennzeichnet sich Narrativität zum einen durch Vermittlung bzw. »Medialität«, zum anderen durch die zeitliche Abfolge, also durch »Sequentialität« (S. 2). Die damit gemeinte »zeitliche Organisation und Verkettung einzelner Geschehenselemente und Zustandsveränderungen zu einer kohärenten Abfolge« (S. 2) ist aus Sicht der Autoren die primäre Bedingung für Narrativität.

[6] 

Ähnlich wie der Parallelband gliedert sich »Lyrik und Narratologie« in einen kurzen methodologisch-theoretischen Teil zur Einleitung, einer Sammlung von Modellanalysen zu Gedichten verschiedener Epochen im Hauptteil und einer abschließenden Auswertung. Der Schwerpunkt liegt auf der praktischen Umsetzung der Methode, Gedichte bewusst als Erzählkonstrukte zu lesen. Zwanzig Gedichte haben die Herausgeber unter diesem Blickwinkel in ihren »Modellanalysen« untersucht.

[7] 

Textauswahl

[8] 

Die Herausgeber verzichten bei der Textauswahl auf »offensichtlich narrative Gedichte wie Balladen und Romanzen oder wie Verserzählungen« (S. 2). Ihre These lautet: Auch nicht offenkundig erzählende Gedichte, also »lyrische Texte im engeren Sinne« (S. 2), weisen strukturelle Analogien zu Prosaerzählungen auf (S. 2). Auch wenn die Strukturanalogie »zwischen Lyrik und Erzählliteratur […] als potentiell zu verstehen« sei, treffe sie doch für »eine erstaunlich große Zahl von Gedichten« zu (vgl. S. 2 f.). Und zwar für »Vertreter des Kanons deutschsprachiger Lyrik« (S. 13) – so lautet der Anspruch der Textauswahl.

[9] 

Anders, als es der Untertitel des Bandes verspricht, reicht diese Auswahl nicht nur vom 16. Jahrhundert bis zum 20. Jahrhundert, sondern mit der Analyse von Ilma Rakusas »Limbo« sogar bis ins 21. Jahrhundert. Chronologisch sortiert setzen die Analysen mit einem »Lied« von Paul Schede ein, untersuchen Gedichte von Gryphius, Klopstock, Goethe, Hölderlin, Heine, Storm, C. F. Meyer, Hofmannsthal, Rilke, Benn, Celan und anderen. Insgesamt vier Autorinnen wurden in der Auswahl berücksichtigt: Droste-Hülshoff, Lasker-Schüler, Bachmann, Rakusa. Das thematische Auswahlkriterium, die deutliche »Selbstreflexivität oder Selbstthematisierung« (S. 13) der Gedichte, ist dabei so weit gefasst, dass es in den Hintergrund tritt.

[10] 

Theoretisch-methodologische Grundlagen

[11] 

Das narratologische Analysekonzept, das die Herausgeber vorstellen, greift Begriffe aus der Psycholinguistik und der kognitiven Psychologie (Schema, Skript, Frame) auf. Diese verbindet sie mit Elementen von Lotmans Sujet-Theorie und dem Konzept von »canonicity and breach« nach Bruner, insbesondere der Schema-Abweichung und des Erwartungsbruchs.

[12] 

Auf der Geschehensebene unterscheiden die Autoren zwischen Gegebenheit (›existent‹) und Geschehenselement (›incident‹) (vgl. S. 6). Diese werden durch Auswahl, Verkettung und Bedeutungszuschreibungen zu »sinnhaft kohärenten Sequenzen« verknüpft (S. 7). Vorgängige Sinnstrukturen (kognitive Schemata) können unterteilt werden in thematische oder situative Kontexte, d. h. Bezugsrahmen (Frames), sowie Sequenzmuster, d. h. auf »bekannte Prozesse oder Entwicklungen, auf konventionelle Handlungsabläufe oder stereotype Prozeduren« (S. 8) (Skripts).

[13] 

Unter »Ereignis« verstehen die Autoren eine Abweichung von der erwarteten Fortsetzung eines Skripts (vgl. S 8 f.). Eine solche Abweichung kann sowohl auf der Ebene des Geschehens (Geschehensereignis) als auch auf der Ebenen der Darbietung (Darbietungsereignis) eintreten. Das Darbietungsereignis wiederum hat zwei besondere Unterkategorien: 1) das Vermittlungsereignis, bei dem der »entscheidende Umschlag« nicht auf Geschehensebene, sondern vor allem durch eine »textuell-rhetorische Umstrukturierung der Darbietungsform« (S. 8) vollzogen wird, 2) das Rezeptionsereignis, das auf eine Einstellungsänderung beim Leser abzielt, während eine solche Änderung beim Erzähler oder beim Protagonisten des Geschehens unterbleibt (vgl. S. 9 f.).

[14] 

Gewinn für die Lyrikanalyse

[15] 

In Hinblick auf die Medialität übernehmen die Autoren die klassischen narratologischen Kategorien der Vermittlungsmodi und der Vermittlungsinstanzen. Im Bereich der Vermittlungsmodi ist die »Stimme« die verbalisierte Vermittlungsaktivität und die Fokalisierung die »Verhaltensweise und Einstellung, mit der die Geschehenselement und Gegebenheiten wahrgenommen und dargeboten werden« (S. 11). Die Vermittlungsinstanzen hingegen sind gestaffelt: vom empirischen Autor, über den »abstrakten« Autor (Kompositionssubjekt), den Sprecher bzw. Erzähler bis zur intradiegetischen Figur (vgl. S. 11).

[16] 

Ein Gewinn für die Lyrikanalyse ergibt sich aus dieser Differenzierung insofern, als dass »Widersprüche zwischen der Äußerung des Sprechers und der Komposition des Textes (die dem abstrakten Autor zuzuordnen ist)« als »unzuverlässiges Erzählen« beschrieben werden können – wo doch die Lyrikanalyse aus Sicht der Autoren des Bandes die Unzuverlässigkeit des Sprechers »noch nicht programmatisch untersucht« hat (S. 12).

[17] 

Spezifik lyrischen Erzählens

[18] 

Als Spezifik von Gedichten nennen die Autoren die Kürze sowie die Situationsabstraktheit im Vergleich zu narrativen Prosatexten (vgl. S. 8). Dadurch werde der Leser stärker darin gefordert, Frames und Skripts der fiktionalen Kommunikationssituation sowie auf der Geschehensebene zu rekonstruieren. Außerdem bediene sich Lyrik auf besonders variable Weise möglicher Vermittlungsebenen und Vermittlungsinstanzen: Je nach Gedicht könnten Sequentialisierung des Geschehens einerseits sowie Staffelung von Vermittlungsinstanzen und Differenzierung der Vermittlungsmodi andererseits gleichermaßen realisiert werden – oder die eine zugunsten der anderen scheinbar gänzlich zurücktreten (vgl. S. 4).

[19] 

Eine weitere lyrikspezifische Tendenz, die die Autoren im Vergleich mit der Erzählprosa ausmachen, ist die höhere Häufigkeit von Darbietungsereignissen im Gegensatz zu Geschehensereignissen. Einen Grund hierfür sehen die Autoren in der Tendenz zu einer besonderen Sprechsituation: der »Gleichzeitigkeit von Geschehen und Vermittlung als ein mögliches (aber nicht notwendiges) Kennzeichen von Lyrik« (S. 329). Nicht zuletzt könnte das mit der ebenfalls konstatierten Präferenz für homo- und autodiegetische Sprecher in der Lyrik zusammenhängen (vgl. S. 330).

[20] 

Die immer wieder evozierte und »notorisch problematische Subjektivität der Lyrik-Gattung« (S. 329) streiten die Autoren nicht grundsätzlich ab (vgl. S. 10). Aber sie wollen den Begriff umdeuten. Sie definieren ihn »nicht nur normativ, sondern operational« (S. 329), wobei sie die Subjektivität »als Selbstzuschreibung einer im Gedicht vermittelten Geschichte zur Konstitution der Identität des Sprechers« (S. 329) begreifen – also als Ergebnis einer gezielten Inszenierung des Sprechers.

[21] 

Fazit: Grenzen der narratologischen Lyrikanalyse

[22] 

An mehreren Stellen ist dem Band der Prozess einer Begriffsfindung und ‑klärung noch abzulesen. So werden die eingangs vorgestellten Kriterien in den einzelnen Gedichtanalysen nicht streng nach einem einheitlichen Schema abgearbeitet. Und es kommt vor, dass Begriffe in ihrer Problematik erst in einzelnen Beiträgen zu bestimmten Gedichten aufgearbeitet werden wie zum Beispiel der des »lyrischen Ichs« in Malte Steins Analyse von Ingeborg Bachmanns Gedicht »Im Zwielicht«. Das hat den Vorteil der Anschaulichkeit. Der Nachteil ist jedoch, dass manche gewinnbringende Überlegung im methodischen Teil etwas kurz kommt.

[23] 

Nun ist der Anspruch des Bandes nicht, einen umfassenden systematischen Entwurf zur narratologischen Lyrikanalyse zu liefern. Er soll »Modellanalysen« bereitstellen, die eine neue Herangehensweise veranschaulichen. Dieses erste Anliegen, die Ergiebigkeit des narratologischen Ansatzes vor Augen zu führen, ist gelungen. Zwar machen die Autoren darauf aufmerksam, dass dieser Ansatz nur unter bestimmten Bedingungen sinnvoll anwendbar erscheint. 7 Doch überzeugt das bereitgestellte Anschauungsmaterial von der Wirksamkeit des Ansatzes.

[24] 

Wie es mit dem zweiten Anliegen ist, die besonderen narrativer Strukturen von Lyrik herauszuarbeiten, sei angesichts des schmalen Corpus von lediglich 20 Gedichten dahingestellt. Diese Ergebnisse sind ebenso wie die komparatistischen Überlegungen zum Vergleich englischsprachiger und deutschsprachiger Lyrik sicher mit Vorsicht zu genießen. Doch auch wenn die abschließenden systematisierenden Überlegungen, etwa zu den Modalitäten von Koppelung von Frames und Skripts in Lyrik (S. 317 – 320), nicht durch einen großen Textcorpus abgesichert sind – man kann sie wie die Autoren der Studie als »heuristische Annahmen zur Theorie und Geschichte der Lyrik sowie als Anstoß zu weiterführenden Untersuchungen« (S. 312) verstehen. Dass Fragen offen bleiben, ist im modellhaften Ansatz der Studie angelegt. 8 Gerade diese Offenheit trägt mit zum anregenden Charakter des vorliegenden Bandes bei.

 
 

Anmerkungen

Die Reihe erscheint unter der Herausgabe von Fotis Jannidis, John Pier und Wolf Schmid sowie inzwischen Matías Martínez bei De Gruyter.    zurück
Vgl. Matías Martínez / Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, 3. Aufl., München: Beck 2002, S. 7.   zurück
Vgl. Tom Kindt / Hans-Harald Müller: What is Narratology? Questions and Answers Regarding the Status of a Theory (Narratologia. Contributions to Narrative Theory / Beiträge zur Erzähltheorie 1) Berlin, New York: Walter de Gruyter 2003 und Wolf Schmid: Elemente der Narratologie. (Narratologia. Contributions to Narrative Theory / Beiträge zur Erzähltheorie 8) Berlin, New York: Walter de Gruyter 2005 sowie Peter Hühn / John Pier / Wolf Schmid / Jörg Schönert: Handbook of Narratology (Narratologia. Contributions to Narrative Theory / Beiträge zur Erzähltheorie 19) Berlin, New York: Walter de Gruyter 2009.    zurück
Jörg Schönert im Vorwort zum vorliegenden Band.   zurück
Peter Hühn / Jens Kiefer: The Narratological Analysis of Lyric Poetry. Studies in English Poetry from the 16th to the 20th Century. Translated by Alastair Matthews. (Narratologia. Contributions to Narrative Theory / Beiträge zur Erzähltheorie 7) Berlin, New York: Walter de Gruyter 2005. Vgl. dazu die Rezension von Ralf Haekel: Telling Poems. Studien zur erzähltheoretischen Lyrikanalyse. In: IASLonline (09.08.2007). URL: http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=2582 (Datum des Zugriffs: 21.10.2009).   zurück
Vgl. Wolf Schmid: Elemente der Narratologie. (Narratologia. Contributions to Narrative Theory / Beiträge zur Erzähltheorie 8) Berlin, New York: Walter de Gruyter 2005, S. 13.   zurück
Als Voraussetzungen nennen sie etwa 1) eine zeitlich geordnete Reihe von Elemente (auf Geschehens- oder auf Darbietungsebene), 2) das »Markiertsein einer kontinuierlich wirksamen (in der Regel personalen) Instanz« (ebenfalls auf Geschehens- oder auf Darbietungsebene) (vgl. S 330). Damit werden konkrete Poesie und reine Lautgedichte als Objekte einer narratologischen Lyrikanalyse ausgeschlossen.   zurück
Die vorgelegten »Modellanalysen« sollen explizit »keine umfassende Interpretation der Gedichttexte in detaillierter Auseinandersetzung mit den bislang erarbeiteten Deutungen« (S. 13) sein. Doch wäre die Auseinandersetzung mit den bisher angebotenen Interpretationen und der Vergleich mit ihnen hilfreich, um die innovative Kraft des narratologischen Analyseinstrumentariums für die Lyrikanalyse voll einschätzen zu können.   zurück