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Als Alessandro Perosa im Jahr 1939 die erste kritische Ausgabe von Cristoforo Landinos Gedichten vorlegte,
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hätten die Zeichen eigentlich günstig dafür gestanden, dass das poetische Werk des für das Florentiner Quattrocento so zentralen Intellektuellen die ihm gebührende Aufmerksamkeit in der Wissenschaft finden würde. Dennoch dauerte es 69 Jahre, bis die erste Monographie über die Xandra erschien, die neben einigen verstreuten Carmina das Gros der poetischen Produktion des Lehrers von Marsilio Ficino und Angelo Poliziano ausmacht. Aber vielleicht kann die Landino-Forschung ja nun abheben. Christoph Piepers Bonner Dissertation führt jedenfalls eindrucksvoll vor Augen, dass die Beschäftigung mit dem Werk lohnt. Zudem wird sie von zwei anderen einschlägigen Publikationen flankiert: In ihr Erscheinungsjahr fällt eine von Mary P. Chatfield besorgte bibliophile Ausgabe mit englischer Übersetzung und kurzem Anmerkungsteil in der Tatti-Library,
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2009 veröffentlichte Antonia Wenzel eine textkritische Edition mit deutscher Übersetzung und ausführlichem Kommentar der früheren, in die Mitte der 1440er Jahre fallenden Fassung des Werks, die mit einigen – signifikanten! – Abweichungen dem ersten der drei Bücher entspricht, die Landino in den Jahren 1458/59 veröffentlicht hatte und denen Pieper seine Aufmerksamkeit schenkt.
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Dichten und Handeln
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Auf eine »Einführung«, die u.a. einen Überblick über die bisherige Forschung zur Xandra bietet (S. IX–XX) folgt ein Vorspann mit methodologischen Überlegungen (»Renaissancelyrik zwischen Literarizität und Historizität«, S. 1–20), auf die ich wegen ihrer Bedeutung weiter unten noch ausführlicher zurückkommen werde. Es schließt das erste Kapitel an, welches die Sammlung in ihren historischen Kontext einordnen soll (Die Ausgangslage – Landino im Florenz der 1450er Jahre, S. 21–62), aber wesentlich mehr enthält, als es verspricht. Die Zusammenhänge, die der Autor hier ausbreitet, gehen nämlich über das hinaus, was man sich von Hintergrundinformationen erwartet, stellen sie doch den Schlüssel zum Verständnis des Werks dar. Nach Pieper handelt es sich bei der Xandra nämlich um eine Art »Bewerbungsschrift« auf die nach dem Tod von Carlo Marsuppini vakante Professur für Poetik und Rhetorik am Studio Fiorentino. Der Prozess der Wiederbesetzung erwies sich als äußerst zäh und war geprägt von Interventionen verschiedener akademischer und politischer Seilschaften, die durchaus ernstzunehmende Konkurrenten wie z.B. Francesco Filelfo unterstützten. Letztendlich konnte sich der Autor der Xandra aber durchsetzen – zumindest partiell. Die Stelle wurde nämlich geteilt: Johannes Argyropoulos bekam den griechischen Teil, Landino den lateinischen. Das war für beide Kandidaten vielleicht keine Ideallösung, aber insgesamt konnte Landino doch zufrieden sein – zumindest aus heutiger Sicht: An einer fortschrittlichen Bologna-Universität wäre der Lehrstuhl wahrscheinlich gestrichen worden.
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Aber zurück in den Humanismus und zu Piepers Landino-Buch: In Kapitel 2 »Die ›Xandra‹ und ihre Vorläufer – Liebe und Dichtung« (S. 63–117) arbeitet der Autor den literarischen Hintergrund der Sammlung auf. Dabei geht er nicht so sehr auf ihre antiken Wurzeln ein, sondern betrachtet sie vielmehr vor dem Hintergrund der Literatur ihrer Zeit. Im Wesentlichen findet dieser Kontext auch im nächsten Kapitel (»Modellierung des Dichter-Ichs«, S. 118–192) Berücksichtigung: Allerdings stehen hier eher Querverbindungen zu theoretischen Texten im Vordergrund, und es geht um Themen wie das Verhältnis der Dichtung zu Philosophie und Rhetorik oder die Bezüge, welche das Werk zu zeitgenössischen Diskussionen um das Wesen poetischer Inspiration aufweist. Kapitel 5 (»Die ›Xandra‹ als Teil des florentinischen Machtdiskurses«) schließlich ist das Herzstück des Buches. In ihm spürt der Autor der Frage nach, auf welche Weise die Elegiensammlung ihre Funktion als »Bewerbungsschrift« tatsächlich wahrnimmt. Die Antwort läuft – ich muss Piepers Gedankengang hier natürlich etwas verkürzen – darauf hinaus, dass sich Landino zu einem würdigen Nachfolger seiner antiken Vorbilder stilisiert, gerade damit aber seinen Wirkungskreis Florenz zur geistigen und politischen Nachfolgerin Roms adelt. Mit dieser panegyrischen Konstruktion suggeriert er den Entscheidungsträgern – unter ihnen waren natürlich auch die Medici –, dass Florenz’ Führungsanspruch in Italien auch an seine eigene berufliche Position gekoppelt ist bzw. seine Ernennung zum Lehrstuhlinhaber auch das Prestige der Stadt befördern würde.
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Was den Aufbau seiner Argumentation betrifft, so führt Pieper im ersten Abschnitt des Kapitels in die seit Beginn des 15. Jahrhunderts in Rom und in Florenz mit großem Engagement geführte Debatte um den Primat der beiden Städte ein. Dann zeigt er im Rahmen von ausführlichen und umsichtigen Interpretationen einzelner Gedichte oder Gedichtsequenzen, wie Landino auf diesen Diskurs, an dem sich führende Intellektuelle wie Leonardo Bruni, Lorenzo Valla und Biondo Flavio beteiligten, rekurriert und für seine Sache nutzt. Den Band beschließen eine übersichtliche Zusammenfassung der Ergebnisse (»Resümee – (Self-) fashioning«, S. 310–323) und eine sehr ausführliche Bibliographie (S. 324–356).
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Zuständigkeiten und Kompetenzen im Bereich der neulateinischen Dichtung
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Eine Schwierigkeit, welche der Erforschung der neulateinischen Literatur besonders im deutschsprachigen Raum immer wieder im Wege steht, ist der Umstand, dass sie institutionell zu wenig verankert ist, weil ihr an der Universität kein bestimmtes Fach oder gar Studium zugeordnet wird: Während die im 19. Jahrhundert entstandenen Nationalphilologien ihr Forschungsinteresse auf die in den jeweiligen Volkssprachen verfassten Texte legen,
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kümmert sich die Latinistik traditionell um die römische Literatur und betrachtet die neulateinische bestenfalls als Nebenschauplatz. Dies resultiert – ich selbst nehme mich hier nicht aus – sehr oft in einem Tunnelblick, der nur Antikes wahrnimmt.
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Bei Pieper, der von seiner Ausbildung her auch germanistische und romanistische Kompetenzen mitbringt, ist dies nicht der Fall, sondern er versucht die Xandra primär aus ihrer Zeit heraus zu verstehen. Als methodisches Rüstzeug benutzt er dabei den New Historicism. Dieser kommt ihm natürlich insofern entgegen, als ihn sein Begründer Stephen Greenblatt gerade in Auseinandersetzung mit der Literatur der Renaissance entwickelt hat
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und dabei Texte nicht nur als Ergebnisse historisch-politischer sowie soziokultureller Prozesse betrachtete, sondern ihre aktive Rolle in der Gestaltung von Wirklichkeit herausstrich. Genau dieses Potential macht Pieper an der Xandra sichtbar, die ja ebenfalls ganz offensiv an mehreren, über verschiedene Ebenen laufenden Diskursen partizipiert, diese über die Strategien des fashioning und self-fashioning ineinandergreifen lässt und letztendlich einen ganz konkreten Zweck verfolgt.
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Theorie-Synopsen
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Es ist positiv hervorzuheben, dass Pieper sich nie zum Sklaven von Greenblatt und seinen Anhängern macht. Dabei profitiert er natürlich von dem Umstand, dass der New Historicism ein sehr dynamischer und flexibler Ansatz ist, der sich ausgehend von Positionen Foucaultscher Prägung prinzipiell offen gegenüber anderen Methoden und verschiedensten Weiterentwicklungen zeigt. Besonders wichtig sind hier die Querverbindungen zur Intertextualitätsforschung. Ihr weist Pieper in Kapitel 1 einen zentralen Platz zu, und zwar in der von Richard J. Schoeck
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entwickelten Spielart, die dem von Julia Kristeva und Roland Barthes aus der automatisierten Welt der Intertexte verbannten Autor wieder neue Geltung verschafft. Pieper ist ehrlich und gesteht ein, dass Schoecks Ansatz einen konservativen Touch besitzt. Seiner Einschätzung, dass es sich um eine Theorie handelt, »die der Praxis dient« (S. 8), lässt sich aber durchaus etwas abgewinnen, auch wenn man es zunächst vielleicht begrüßen möchte, dass hochgradig topische Texte wie die Xandra-Elegien dem Zugriff eines wie auch immer greifbaren historischen Autors entzogen und auf diese Weise jene Sünden vermieden werden, deren sich v.a. die Philologie des 19. Jahrhunderts schuldig gemacht hat. Pieper jedoch liest die Gedichte Landinos eben als Aktanten in einem System von in letzter Konsequenz gesellschaftlichen Wechselbeziehungen, und da wird es schwierig, auf ein Subjekt zu verzichten, das intentionale Handlungen setzt. Dies zeigt sich v.a. im literaturwissenschaftlichen Alltag, in dem theoretischer Anspruch und die konkrete Arbeit am Text gelegentlich zu weit auseinanderklaffen und der Autor, dem in methodischen Einleitungen feierlich abgeschworen wird, in der interpretatorischen Praxis regelmäßig fröhliche Urständ feiert – und sei es auch nur über die Diktion, in der über die jeweiligen Texte gesprochen wird: Sie operiert ja mit bestimmten historisch gewachsenen und deshalb nicht ohne weiteres eliminierbaren Vorstellungen.
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Pieper ist hier also nur konsequent, und wir verzeihen ihm auch, wenn er in der von ihm ausgebreiteten Archäologie des New Criticism (vgl. v.a. S. 1–15) einige konzeptionelle Glättungen vornimmt, welche die dort angeführten Theoretiker nicht in jedem Fall vorbehaltlos unterschreiben würden.
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Literatur und Öffentlichkeit
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Die historische Verortung der Xandra bedeutet natürlich nicht, dass Pieper sie völlig aus ihrem literarischen Bezugsfeld löst. Wie bereits weiter oben bemerkt, stellt er dabei v.a. die zeitgenössische neulateinische Dichtung in den Vordergrund: Die wichtigsten Verbindungslinien führen zu Landinos unmittelbaren elegischen Vorgängern Antonio Beccadelli (Hermaphroditus), Giovanni Marrasio (Angelinetum) und Enea Silvio Piccolomini (Cinthia) (S. 73–90). Auch die Liebespoesie im volgare fehlt nicht, wobei der Fokus auf Francesco Petrarcas Rerum vulgarium fragmenta gerichtet wird (S. 159–166). Laura und Xandra wurden in der jüngsten Forschung ja wiederholt gegenübergestellt,
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und Piepers Ausführungen machen einmal mehr deutlich, dass hier noch viel mehr zu holen wäre.
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Selbstverständlich bleibt auch aus der Antike viel. Mit der im Ablauf des Werks immer intensiver vorangetriebenen und für Pieper so zentralen Modellierung des Dichter-Ichs als einer öffentlichen Figur greift Landino nämlich auf einen Diskurs zurück, der sich in dieser Deutlichkeit zuerst in der Augusteischen Literatur fassen lässt. Dort hatte zuerst Vergil eine Karriere durchlaufen, die ihn von der Produktion »privater« Dichtung alexandrinisch-neoterischer Prägung zum Verfassen eines Nationalepos führte. Auf diesem Weg folgten ihm Horaz, dessen monodische Lyrik bei der Säkularfeier im Jahr 17 v. Chr. in den Chor des Carmen saeculare mündete, und v.a. Properz, der in seinen vier Elegienbücher die Liebe zu Cynthia sukzessive durch jene zur Stadt Rom ersetzte und – abgesehen von der gattungsspezifischen Sukzession – genau deshalb zum wichtigsten Vorbild für die Xandra wurde. Als Poeta doctus – und ein solcher ist Landino allemal, man betrachte hier v.a. seine spätere Laufbahn als Exeget lateinischer und volkssprachlicher Dichtung – wusste er, auf wessen Spuren der Dichter aus Assisi gerade in seiner Entwicklung zum öffentlichen Dichter gewandelt war, und verweist durch viele Vergil-Zitate auf diesen Zusammenhang. Ihn macht Pieper im Titel seiner Studie ganz programmatisch sichtbar, indem er dort den aus Marrasios Angelinetum (5.4) stammenden und an den Dichter Giovanni da Prato gerichteten Vers elegos redoles Virgiliosque sapis zitiert. Auch sonst arbeitet er den Aspekt immer wieder heraus, vgl. z.B. seine Ausführungen zu 1.25 auf S. 187–192 oder zu 3.3 auf S. 272–284, bes. 273–277.
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Überzeugende Textarbeit
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Am Text – das sei zum Abschluss dieser Besprechung gesagt – ist Pieper ohnehin sehr stark: Seine spannenden Deutungen von Einzelgedichten und Gedichtzyklen, die meist aus dem zweiten und dritten Buch der Xandra stammen, nehmen den Leser auf der ganzen Linie ein und zeugen von einer stupenden Kenntnis der antiken und zeitgenössischen Quellen, die durch einen umfassenden Überblick über die teilweise disparate Forschungsliteratur flankiert wird.
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Vielleicht ist Piepers größter Verdienst in diesem Zusammenhang der, dass er uns zeigt, wie viel man aus Landino machen kann: Am Ende der Lektüre spürt man jedenfalls ein paradoxe Freude darüber, dass er nicht auf alle Gedichte eingeht und so unsere Hoffnung am Leben hält, auch selbst noch etwas zur Erschließung dieses faszinierenden Autors beizutragen.
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