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Zum Briefwesen des Spätmittelalters

Eine Untersuchung aus fachübergreifender Perspektive

  • Julian Holzapfl: Kanzleikorrespondenz des späten Mittelalters in Bayern. Schriftlichkeit, Sprache und politische Rhetorik. (Schriftenreihe zur Bayerischen Landesgeschichte 159) München: C. H. Beck 2008. XXXVI + 404 S. Gebunden. EUR (D) 42,00.
    ISBN: 978-3-406-10775-7.
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Territoriale und städtische Verwaltungsschriftlichkeit
von ca. 1300 bis 1450

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Die Dissertation Julian Holzapfls hat zum Ziel, einen begrenzten Ausschnitt der schriftlichen Kommunikation im Spätmittelalter hinsichtlich ihrer »Quellengattungen und ihre[r] Auswertung zu präzisieren und zu konkretisieren« (S. 2). Dazu wählt der Verfasser die Korrespondenz territorialer Verwaltungsschriftlichkeit (der wittelsbachischen Landesherrenschaften Bayern-München, Bayern-Landshut und Bayern-Ingolstadt) im Kontrast zu städtischer Verwaltungsschriftlichkeit (der Reichsstädte Regensburg, Nürnberg und Augsburg). Im ersten Teil sollen »Briefe als Realien der Kommunikation« mittels der Methoden der historischen Hilfswissenschaften als »System von formalen und sprachlichen Regeln und Gewohnheiten« beschrieben werden (ebd.), um im zweiten Teil exemplarisch ihre Funktion als »Korrespondenz für Informationsaustausch und Verwaltung, Herrschaftsausübung und Konfliktaustrag« darzustellen (ebd.). Die Untersuchung schließt insofern eine Lücke, als zwar die früh- und hochmittelalterliche Briefüberlieferung bereits gut erforscht ist, nicht aber die spätmittelalterliche, genauer im Zeitraum von ca. 1300 bis 1450.

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In die Darstellung des Forschungsstandes zur Diplomatik, zur territorialen Kanzleigeschichte, zur Aktenkunde, zum Boten- und Gesandtenwesen, zur historischen Auswertung von Briefen, zur »pragmatischen Schriftlichkeit«, Kommunikations- und Mediengeschichte sowie zur linguistischen Pragmatik und Textgeschichte fließen zentrale Bemerkungen zur Abgrenzungsproblematik zwischen Brief und Urkunde ein.

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Für sein Korpus wählt Holzapfl also deutschsprachige Briefe archivalischer Überlieferungen. Neben der räumlichen Begrenzung erfährt es folgende weitere Beschränkungen: Die Briefe gehören in den Bereich kontinuierlicher Schriftgutführung, der weder den »Mystiker-« noch den kaufmännischen Briefen zuzuordnen ist (S. 4 f.). Holzapfl vermeidet damit von vornherein die sowohl in der Geschichts- als auch in der Sprachwissenschaft gängige Einteilung in ›geschäftlich‹, ›privat‹ und ›öffentlich‹ u.ä., die sich im Laufe der Untersuchung auch als nicht haltbar erweist. Gleichermaßen kann er territoriale Schriftlichkeit mit städtischer kontrastieren.

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Schlussendlich untersucht der Verfasser etwa 2.800 zum überwiegenden Teil ungedruckte Briefe, die sich den vier Kategorien Ausfertigungen (48 %), Briefkonzepte (22 %), Abschriften (26 %) und Registereinträge (4 %) zuordnen lassen.

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Methodologisch orientiert sich Holzapfl auf übergeordneter Ebene an der Einteilung in die Kategorien Aussteller (fürstliche Kanzlei, städtische Kanzlei, private Aussteller) und Kommunikationsachse (horizontal und vertikal, d.h. formale Gleichrangigkeit und Rangunterschiede zwischen den Kommunikationspartnern).

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Quellen – Editionen – Auswertung

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Die zum überwiegenden Teil unedierten Briefe wurden mit Hilfe einer Datenbank systematisch erfasst und mittels der Methoden der historischen Hilfswissenschaften analysiert (S. 32). Aus linguistischer Sicht ergeben sich daraus in der Folge viele Möglichkeiten der sprachwissenschaftlichen Auswertung. Leider sind in der vorliegenden Monographie nur vergleichsweise wenige originale Briefauszüge abgedruckt, häufig in den Fußnoten. Tatsächlich schade ist es, dass die wenigen Abbildungen weder in einem Verzeichnis erscheinen, noch explizite Hinweise darauf in den Text eingebunden sind (S. 70, Abb. 1, S. 71 Abb. 2, S. 73, Abb. 3, S. 78, Abb. 4, S. 79, Abb. 5). Sie dienen offenbar alleine dazu, die Handschriften einzelner Schreiber zu zeigen, wobei sie aber auch die Aussagen Holzapfls zur Anlage der Briefe illustrieren können.

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In der »Dokumentation« folgt die Orientierung offenbar den Gepflogenheiten der Geschichtswissenschaft (S. 47 f.). »Bei der Zeichensetzung geht im Zweifelsfall Eindeutigkeit vor sprachlicher [sic] Eleganz«; die Interpunktion wird »zum besseren Verständnis« (ebd.) modernisiert, eine durchaus übliche, wenngleich nicht in allen wissenschaftlichen (Teil-)Disziplinen begrüßt Praxis im Editionswesen. 1 An anderer Stelle findet sich der Hinweis darauf, dass »Satzzeichen als Lese- und Orientierungshilfen […] noch nicht im Repertoire der Schreiber« (S. 81) seien, obwohl etwa in Abbildung 5 auf S. 79 Virgeln erkennbar sind.

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Holzapfels Auswertung beschränkt sich in einem ersten Schritt auf die Materialität der Briefe: Anhand des Beschreibstoffs, des Formats, der Verschlusstechnik, des Schriftniveaus, der graphischen Gesamtgestalt und der Verzierung entwirft er einen Idealtyp, abgehoben von Anlass und Inhalt (S. 41). Im Anschluss daran werden die einzelnen Bestandteile von Briefen (Intitulation, Adresse usw.) und deren Ausprägung im horizontalen und vertikalen Schriftverkehr synchron und diachron dargestellt.

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Neben den Quellschriften sieht der Verfasser auch »Kanzleibehelfe« und »Formelbücher« ein, um »den Kanzleibrief des Spätmittelalters nicht zu einseitig mit moderner Terminologie zu erfassen« (S. 42) und auch, um die sprachliche Realität mit den Regelwerken abzugleichen und überhaupt die Rolle von Briefen im Alltag der Kanzleien ausmachen zu können.

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Holzapfel weist das Korpusmaterial Funktionstypen zu, er berücksichtigt aber auch die Eigenbezeichnungen der Briefe, die zeitgenössische Klassifikation und die der Kopisten und Kompilatoren. So wird der ›Kredenzbrief‹ im Spätmittelalter als gelaubbrief bezeichnet, der ›Fehdebrief‹ als absagbrief, wiedersagbrief, entsagbrief und widerpot.

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Weitere Aspekte der Studie sind die Beschreibung von Briefbeilagen und Zetteln und deren Funktion im Rahmen der Korrespondenz sowie die Briefzustellung und das Botenwesen. Damit einher geht der Versuch, die Relation zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit im Informationsaustausch zwischen einzelnen Parteien zu ermitteln, ob Briefe in Auftrag gegeben oder selbst geschrieben wurden, ob sie vorgelesen oder selbst gelesen wurden, inwieweit dem Medium Pergament bzw. Papier spezifische Informationen anvertraut wurden oder das Vertrauen, Informationen angemessen weiterzugeben, eher in Boten gesetzt wurde. Es geht also nicht um das linguistische Konzept von Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Sinne von Peter Koch und Wulf Oesterreicher, die einzelne Text- und Diskurssorten und ‑traditionen den Parametern Nähe und Distanz zuordnen. 2 Im beschriebenen Rahmen geht es Holzapfl dann um »Begriffe und Phrasen für schriftliche und mündliche Modi der Kommunikation« (S. 44). Hier liegen aus der germanistisch-linguistischen Perspektive die Schwächen der Studie. Auch wenn es dem Verfasser nicht um »historische Semantik im eigentlichen Sinn« geht, sondern um eine quellensprachliche Basis für weitere Analysen (ebd.), wäre es ein nahe liegender, mit wenig Aufwand verbundener Schritt gewesen, die gewonnenen Erkenntnisse mittels lexikographischer Informationen abzusichern bzw. dieselben sogar zu ergänzen oder gar zu modifizieren. 3

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Spezifische Lexeme und Phraseologismen, deren Deutung und Bewertung sind auch im letzten großen Teil der Arbeit relevant, wenn Holzapfl einzelne Korrespondenzen näher beleuchtet, mit dem Schwerpunkt auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit verschiedener Parteien, insbesondere auch innerhalb einer Fürstenfamilie. Dabei spielen dann wiederum der Anteil des Öffentlichen und der Anteil des Privaten eine Rolle und deren sprachliche Realisierung, auch mit der Fragestellung, inwiefern die Briefe von den Mitgliedern der Familien selbst niedergeschrieben wurden. Eine Vorabklassifikation im Sinne von privat und öffentlich (vgl. Abs. 2) hätte zweifelsohne die Zusammenstellung des Korpus beeinflusst und gegebenenfalls zu anderen, weniger gewinnbringenden Ergebnissen geführt. Die im Untertitel der Arbeit genannte »politische Rhetorik« kommt insofern zum Tragen, als die Korrespondenz im dynastischen Rahmen als »Referenzrahmen für Politik« (S. 331) gesehen wird. Phrasen wie als ir das selbs wohl verstet werden unter der Überschrift »Eigene Einsicht und öffentliches Urteil« erfasst; es geht ferner um den Ausdruck des Prinzips der Gegenseitigkeit und »politische Kernformeln« (S. 337), so beispielsweise als ir das uns und ew schuldig seit, um die Wortfelder ›Freundschaft‹, ›Sippe‹, das haws Bayern und Land und leute sowie den Ausdruck von persönlicher Ehre und Eigeninteresse. In einer Nachbemerkung (S. 353–355) weist der Verfasser explizit darauf hin, dass diese Zusammenstellung im Rahmen der vorliegenden Studie selektiv bleiben muss. Er kommt zu dem Schluss, dass politische Briefe gerade nicht dazu dienten, ein Gegenüber zu überzeugen oder zum Handeln zu bewegen, sondern dass Streitbriefwechsel als Rollenspiele zu verstehen seien (S. 356).

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Terminologische Probleme über die Fachgrenzen hinweg

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Bei der Vorstellung von Briefen und Briefformularen in Formelbüchern und Kanzleihilfsmitteln weist Holzapfl darauf hin, dass etwa im »Genzinger’schen Formelbuch« die »Terminologie […] durchaus um Differenzierung [bemüht …], aber nicht nachvollziehbar konsequent« sei (S. 200). Wie schwierig terminologische Genauigkeit ist, kann man in der Studie selbst verfolgen: So erscheint der Brief als »Textsorte« (S. 27) und als »Schriftguttypus« (S. 36), der Rechtfertigungsbrief als »Briefgattung« (S. 184), der Fehdebrief als »briefliche Sondergattung« (S. 191), die credenz als »Brieftypus« (S. 196). Briefe in der Regensburger Musterurkunden- und Briefsammlung von 1412 sind keine eigene »Gattung« (S. 196 f.). Das soll dem Verfasser aber nicht zum Vorwurf gemacht werden. Weder in der Sprach- noch in der Literaturwissenschaft herrscht Einigkeit darüber, auf welcher Ebene Textsorten und Gattungen angesiedelt sind und wie Hyperonyme und Hyponyme in Relation dazu bezeichnet werden sollten.

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Aus dem Literaturverzeichnis und den vielen Fußnoten geht hervor, dass Holzapfl sich mit Forschungsliteratur auseinander gesetzt hat, die weit über den Bereich der Geschichts- und Hilfswissenschaften hinausgeht. So wird die Studie nicht nur durch die Berücksichtigung von Briefliteratur im engeren Sinne wie die Monographie von Karl Ermert 4 , sondern auch durch Titel wie »Schriftliche Anleitung zur mündlichen Kommunikation. Die Schülergesprächsbüchlein des späten Mittelalters« 5 und »Duzen und Ihrzen im Mittelalter« 6 bereichert – ohne dass dabei ein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden darf. Wünschenswert wäre es gewesen, wenn diese Studien nicht nur wahrgenommen, sondern – zum Teil sicherlich auch kritisch – aus fachfremder Perspektive, nämlich der der historischen Hilfswissenschaften und im weiteren Sinn der Geschichtswissenschaft, diskutiert worden wären.

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Die Untersuchung zur Kanzleikorrespondenz des späten Mittelalters in Bayern ist in ihrer Gesamtheit ein wertvoller Beitrag zur Erforschung von Briefen. Besonders hervorhebenswert sind die Grundsätze für die Erstellung des Korpus, sind die Vielfalt der behandelten Aspekte und das modellhafte Vorgehen. Das Ziel, »das Briefwesen des Spätmittelalters […] für weitere Forschung und Erschließung zu öffnen« (S. 400), ist in jedem Fall erreicht. Die Vielfalt macht die Studie aber auch von unterschiedlichen Disziplinen her angreifbar. Gerade in der gegenwärtigen wissenschaftlichen Kultur der Netzwerke und der interdisziplinären Zusammenarbeit ist sie ein ausgezeichnetes Beispiel für die Fruchtbarkeit fachübergreifender Forschungsansätze.

 
 

Anmerkungen

Es stellt sich die Frage, an welche Rezipienten der Verfasser denkt, wenn er die Lesbarkeit »verbessern« will. Der potentielle Leser muss sicherlich mit früheren Sprachständen und allen damit verbundenen Schwierigkeiten und Eigenheiten vertraut sein. Braucht er dann tatsächlich (Nach-)Hilfe in Bezug auf die Interpunktion? – Etwas hilflos erscheinen Aussagen zur Relation von Makrostrukturen und Initialen wie »[Es war] Gewohnheit vieler Schreiber, innerhalb wie außerhalb der Kanzleien, den Text durch leichte, oft nur angedeutete, Betonungen zu strukturieren und leichter lesbar zu machen, ohne dadurch die Blockform aufzubrechen. […] Betonte Buchstaben wurden dann eher in die Vertikale gezogen und vergrößert.« (S. 80) In der Folge schreibt der Verfasser bei der Beschreibung von Versalien von einem »bumerangähnlichen Gesamtbild« (S. 92) und »yin-yang-artig ineinander geschriebenen abgeflachten Halbkreisen« (S. 93). Das mag anschaulich sein, terminologische Sicherheit zeigt es nicht.   zurück
Peter Koch / Wulf Oesterreicher: Sprache der Nähe – Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte. In: Romanistisches Jahrbuch 36 (1985), S. 15–43; Wulf Oesterreicher: Zur Fundierung von Diskurstraditionen. In: Barbara Frank / Thomay Haye / Doris Tophinke (Hg.): Gattungen mittelalterlicher Schriftlichkeit. (ScriptOralia 99) Tübingen: Gunter Narr 1997, S. 19–41; Peter Koch / Wulf Oesterreicher: Schriftlichkeit und kommunikative Distanz. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 24 (2007), S. 346–375 u.ö.   zurück
An erster Stelle zu nennen sind hier die beiden folgenden, online zugänglichen Wörterbücher, die miteinander und mit weiteren Wörterbüchern verlinkt sind: das Deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm (http://germazope.uni-trier.de/Projects/DWB) und das Deutsche Rechtswörterbuch (http://drw-www.adw.uni-heidelberg.de/drw/).    zurück
Karl Ermert: Briefsorten. Untersuchungen zu Theorie und Empirie der Textklassifikation. (Reihe Germanistische Linguistik 20) Tübingen: Max Niemeyer 1979.   zurück
Ulrike Bodemann / Klaus Grubmüller, Schriftliche Anleitung zur mündlichen Kommunikation. Die Schülergesprächsbüchlein des späten Mittelalters. In: Hagen Keller / Klaus Grubmüller / Nikolaus Staubach (Hgg.): Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter. Erscheinungsformen und Entwicklungsstufen. (Münstersche Mittelalter-Schriften 65) München: Wilhelm Fink 1992, S. 157–176.   zurück
Gustav Ehrismann: Duzen und Ihrzen im Mittelalter. In: Zeitschrift für Deutsche Wortforschung 5 (1903/04), S. 127–220.   zurück