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Die Sprache der österreichischen Bürokratie

  • Michael Hochedlinger: Aktenkunde. Urkunden- und Aktenlehre der Neuzeit. 1 CD-ROM. (Oldenbourg Historische Hilfswissenschaften 3) München: Oldenbourg 2009. 292 S. 164 s/w Abb. Broschiert. EUR (D) 39,90.
    ISBN: 978-3-486-58933-7.
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Vorbereitende Lektüre für den Archivbesuch

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Michael Hochedlinger legt einen weiteren Band der Reihe »Oldenbourg Historische Hilfswissenschaften« vor, in der das Wiener Institut für Österreichische Geschichtsforschung grundlegende Lehr- und Studienbücher zu den Historischen Hilfswissenschaften auf modernem Stand publiziert. Man erwartet von seinem Buch also eine systematische Zusammenfassung des Wissensstandes, der dem Historiker bei der Arbeit mit den Originalquellen hilft, in seinem Fall der Originalquellen, die als »Akten« bezeichnet werden. Diese Erwartung wird voll erfüllt. Nach einem Überblick über die Schriftgutarten, in die sich die Akten eingliedern und über ihre Überlieferungsformen, durchschreitet Hochedlinger dem von Heinrich Otto Meisner eingeführten Schema 1 folgend zunächst die Stufen der Entstehung von behördlichem Schriftgut (»genetische Aktenkunde«), wandert dann durch die äußeren und inneren Merkmale des in den staatlichen und kommunalen Archiven aufbewahrten Materials (»systematische Aktenkunde«) und fächert schließlich die Typologie dieses Schreibwerks auf (»analytische Aktenkunde«).

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Das Meisner’sche Modell, den Stoff zu gliedern, funktioniert gut in den beiden ersten Kapiteln: Die Arbeitsabläufe in den Kanzleien, die Prinzipien der Verwaltungs- und Behördenorganisation, die Bedeutung der Registratur, die Revolution der Aktenverwaltung durch die »Büroreform« und ihrem österreichischen Verwandten, dem »System Kielmannsegg«, liefern ein anschauliches Bild dessen, was tagtäglich in den Amtsstuben passierte. Die Bandbreite der Gestaltungsmöglichkeiten behördlichen Schreibens, von der Titularenkunde (S. 137–150) bis zum »Stilbruch« unter Einfluss von J. v. Sonnenfels’ »Über den Geschäftsstil« (1784) (S. 167–170), vom Siegel (S. 127–131) bis zur Halbbrechung (S. 123), ist immens. Dass für die Inneren Merkmale das Modell der Diplomatik dominant ist und die erst jüngst aufgeworfenen Fragen nach der Rhetorik des Formulars 2 keine Berücksichtigung finden, tut dem Gehalt dieses Kapitels keinen Abbruch.

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Hochedlinger stößt erst in der systematischen Aktenkunde an die Grenzen der Meisnerschen Gliederung. Die Einteilung in Schriftgut der Über-, der Unter- und der Gleichordnung funktioniert nicht mehr, wenn gedruckte Stellungnahmen zur aktuellen Politik (Farbbücher, Deduktionen u.ä.) zum Schriftgut der Unterordnung sortiert werden (S. 214), wo es statt dessen um propagandistische Instrumente geht, die nur schwer einem ständischen Modell der Über- und Unterordnung zugeschrieben werden können. Ebenso bedarf es einer relativ komplizierten Argumentation, um Adressen an den Herrscher im Zeitalter der konstitutionellen Monarchien (S. 217 f.) als Schriftgut der Gleichordnung zu betrachten. Die hierarchische Ordnung abbildenden Merkmale, die in der Frühen Neuzeit Typenbildung ermöglichten, sind im 19. und 20. Jahrhundert immer schwerer anzuwenden. Eine Aktenkunde der Neueren und Neuesten Geschichte ist wohl jedoch erst aus einer größeren historischen Distanz zu erwarten. Ob die Ansätze der spätmittelalterlichen Amtsbücherkunde helfen werden, Rechnungsschriftgut, Steuerverzeichnisse oder Personenstandsregister auch der Zeit nach 1550 besser zu fassen, als es Hochedlinger vermag, wird ebenso die Zukunft zeigen.

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Mit illustrierenden Bildausschnitten und einer umfangreichen Beispielsammlung auf CD-ROM, mit Checklisten und Marginalien wird diese Stoffmasse übersichtlich und anschaulich vermittelt, so dass man das Buch jedem Archivbesucher zur Vorbereitung empfehlen kann und es guten Gewissens zur Lektüregrundlage einschlägiger Vorlesungen machen kann.

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Österreich

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Wenn man das Buch liest, dann ist es dennoch auch etwas völlig anderes als ein modernes Lehrbuch für den Historiker und Archivar. Es ist ganz klar auf Österreich fokussiert. Das ist einerseits dem Umstand geschuldet, dass Heinrich Otto Meisners bisher dominante Aktenkunde ihren Fokus auf Preußen legt, die preußische Bürokratie also als Musterfall für frühneuzeitliche und neuzeitliche Schriftgutproduktion nimmt. Es tut deshalb gut, dass Hochedlinger der zweiten deutschen Großmacht und insbesondere der Bürokratie des Alten Reiches ihr angemessenes Gewicht verleiht. Sein geographischer Fokus ist andererseits darin begründet, dass Hochedlinger Archivar im Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv ist, und das dortige Material gründlich kennt. Wenn man dann im Literaturverzeichnis den Hinweis liest, dass »das Kapitel zur ›genetischen Aktenkunde‹ besonders auf eingehendem Studium einer Vielzahl (großteils ungedruckter) österreichischer Kanzleiordnungen und -vorschriften basiert« (S. 246), dann wird klar, dass der Fokus auf Österreich nicht nur als Ergänzung und Neugewichtung der bislang stark von Preußen dominierten Aktenkunde dient, sondern dass das Buch mehr ist als ein Handbuch: Es ist eine längst fällige Erweiterung des hilfswissenschaftlichen Forschungsgebiets »Aktenkunde«, stellt also eine Summe von Forschungen dar. Es ist aus dieser Perspektive bedauerlich, dass das Buch ohne einen wissenschaftlichen Apparat auskommt, dass also gerade die Quellen, aus denen Hochedlinger schöpft, nur summarisch in der Bibliographie nachgewiesen sind.

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Aus dieser Perspektive wünscht man sich, dass aus den Unterschieden zwischen der von Hochedlinger dokumentierten österreichischen und der Meisnerschen preußischen Aktenkunde sich ein Bewusstsein dafür entwickelt, dass frühneuzeitliches Behördenschriftgut ein Forschungsthema ist, das Detailstudien und Publikationen mit einem regionalen Fokus vertragen kann, um das nächste Handbuch der Aktenkunde als echte Zusammenschau schreiben zu können.

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Sprache

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Das Buch sei aber nicht nur dem Hilfswissenschaftler und dem Historiker zur Lektüre empfohlen, sondern auch dem Sprachwissenschaftler. Es ist hoffentlich selbstverständlich, dass eine historische Sprachwissenschaft textsortenspezifisches Wissen mit einbezieht und damit ein Buch über die Verwaltungsabläufe in der habsburgischen Monarchie, über die Unterfertigungsvarianten, über die Unterschiede zwischen »Handschreiben« und »Reskript« zur Vorbereitung einer Forschungsarbeit über »bürokratische Sprache« benutzt wird. Hochedlinger bringt dafür ein sehr feines Gespür für die sprachlichen Besonderheiten der bürokratischen Formulierungsgewohnheiten mit, bis hin zu den Eigenwilligkeiten ihrer Syntax und Grammatik wie z.B. das »falsche« Partizip Präsens: »die vorseyende Untersuchung« (S. 169). Es sei aber zusätzlich darauf hingewiesen, dass er viel Wert darauf legt, Sprachgebrauch zu dokumentieren. Er liefert zu all den Phänomenen, die er beschreibt, die Varianten der zeitgenössischen Bezeichnungen. Dass österreichische Kanzlisten den Entwurf ihrer Schreiben »Copey« nannten (S. 77), kann vielleicht als Warnung für alle dienen, die glaubten, dass frühneuhochdeutsche Behördensprache nicht so weit vom modernen Sprachgebrauch entfernt sein kann, um sich auf sie vorzubereiten. 3 Dass der Vermerk »ad mandatum speciale« explizit die Beteiligung des Herrschers ausschließt (S. 199), ist dann nur noch ein besonders klares Beispiel des quellenkritischen und sprachhistorischen Wertes dieses Buches.

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Fazit

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Insgesamt liegt mit Hochedlingers angenehm, ja sogar unterhaltsam zu lesenden Handbuch ein Referenzwerk vor, das dem Historiker ebenso wie dem Sprachwissenschaftler, Philologen oder Kulturwissenschaftler einen Bereich menschlichen Zusammenlebens erschließen hilft, der gerade wegen der ihm stereotyp zugewiesenen Langeweile und Bedrohlichkeit zu informierter und wissenschaftlich distanzierter Reflexion aufruft. Michael Hochedlingers Aktenkunde ist dafür ein wichtiger Ausgangspunkt.

 
 

Anmerkungen

Heinrich Otto Meisner: Archivalienkunde vom 16. Jahrhundert bis 1918. Göttingen 1969.   zurück
So jüngst Julian Holzapfl: Kanzleikorrespondenz des späten Mittelalters in Bayern. Schriftlichkeit, Sprache und politische Rhetorik. (Schriftenreihe zur Bayerischen Landesgeschichte 159) München 2008.   zurück
Auch das Frühneuchdeutsche Wörterbuch, Bd. 8, Lieferung 3, Berlin u.a. 2008 kennt »Copei« nur im Sinne von »Abschrift«.   zurück