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Die Wiederentdeckung und philologische Erschließung von Otfrids 'Evangelienbuch'
in der frühen Neuzeit

Ein Beitrag zur frühen Wissenschaftsgeschichte der Germanistik

  • Norbert Kössinger: Otfrids 'Evangelienbuch' in der Frühen Neuzeit. Studien zu den Anfängen der deutschen Philologie. (Frühe Neuzeit 135) Tübingen: Max Niemeyer 2009. X, 341 S. Gebunden. EUR (D) 84,95.
    ISBN: 978-3-484-36635-0.
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Intention – methodischer Ansatz – Anlage

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Im jüngsten Beitrag zur lebendigen Otfrid-Forschung 1 der letzten Jahre verfolgt Norbert Kössinger die Absicht, »die Wiederentdeckung und Geschichte der Erforschung des Evangelienbuchs Otfrids von Weißenburg vom Ende des 15. bis zum ersten Drittel des 19. Jahrhunderts […] als eigenständigen und eigenwertigen Gegenstandsbereich einer Geschichte der deutschen Philologie auszuweisen« (S. 15).

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Mit der Absicht, über eine deutsche Philologie in der Zeit vor ihrer Begründung als universitär etablierte Wissenschaft zu sprechen, betritt der Autor einen Bereich, den die ältere und neuere Geschichtsschreibung der Germanistik bislang als ›vorwissenschaftlich‹ bzw. nicht zur Geschichte des institutionalisierten Faches gehörig ansah und dem sie daher kaum Aufmerksamkeit widmete. Dass aber gerade in dem für seine Untersuchung abgesteckten Zeitraum von 1494/95 bis 1833/36 wesentliche Voraussetzungen und Bedingungen für die Wissenschaftlichkeit der Germanistik geschaffen wurden, hat Norbert Kössinger am Beispiel der philologischen Erschließung von Otfrids von Weißenburg Evangelienbuch in seinem Buch überzeugend nachgewiesen.

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Möglich und für die Geschichte einer voruniversitären deutschen Philologie von großer Bedeutung ist die Umsetzung seiner Intention, weil an Otfrids Werk zum ersten Mal überhaupt »in bezug auf einen volkssprachigen Text des Mittelalters in aller Deutlichkeit […] philologische Grundkompetenzen« (S. 15–16) zur Anwendung kommen. Es sind dies in erster Linie die »problemlos historisierbaren Kategorien philologischen Arbeitens: Sammeln, Edieren, Kommentieren und Historisieren« 2 (S. 16). Sie werden von humanistischen Gelehrten der frühen Neuzeit aus bewusster historischer Distanz zu seiner frühmittelalterlichen Entstehungszeit auf das Evangelienbuch appliziert, um es für ihre Zwecke verfügbar und verständlich zu machen. 3

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Diese Grundformen sprach- und literaturwissenschaftlicher Praxis liefern Kössinger den methodischen Rahmen für seinen Forschungsbericht, der zugleich ein tragfähiges Konzept zur Erarbeitung einer Geschichte der deutschen Philologie vor ihrer disziplinären Institutionalisierung formuliert. Innerhalb dessen verknüpft der Autor in fünf in sich chronologisch gegliederten Abschnitten die von der Wiederentdeckung der Handschriften (Kap. 2) über erste interpretatorische und editorische Ansätze (Kap. 4) bis zur Erstellung einer kritischen Ausgabe (Kap. 6) reichenden philologischen Bemühungen namhafter Otfridforscher mit deren vielgestaltigen Motiven und Interessen für die wissenschaftliche Erschließung des Evangelienbuchs. Abschließend werden in einem editorischen Anhang (Kap. 8) bislang kaum oder überhaupt nicht verfügbare Materialien bereitgestellt, welche die aufgezeigten Formen einer frühen philologischen Auseinandersetzung mit Otfrids Evangelienharmonie in Ausschnitten dokumentieren und nachvollziehen lassen.

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Ergebnisse

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Überlieferungssicherung: Die Wiederentdeckung
der Evangelienbuch-Handschriften im Rahmen der Mittelalter-Rezeption deutscher Humanisten

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Die Wiederauffindung der drei Überlieferungsträger des Evangelienbuchs (V, P, F) zwischen 1490 und 1555 steht ganz im Zeichen der philologischen »Bemühungen und Leistungen des deutschen Humanismus […], die Entdeckung und versuchte Rekonstruktion des frühen und hohen Mittelalters« 4 je nach eigenen Interessen erstmals auch aus volkssprachigen Quellentexten zu leisten. Lediglich der fragmentarisch erhaltene Codex Discissus (D) kommt »als Ganzes für die Geschichte der Wiederentdeckung und Erforschung des Evangelienbuchs in dieser Zeit nicht in Betracht, wurde er doch »um das Jahr 1470 zerschnitten, wie die Datierung der Handschrift (1467) belegt, in deren Bindematerial Hermann Herbst [1935/36] die zuletzt entdeckten D-Fragmente Fragmente fand« (S. 57).

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Otfrids ›Handexemplar‹, den Wiener Codex V (Cod. Vind. 2687), hat der Sponheimer Benediktinerabt und ›Klosterhumanist‹ Johannes Trithemius (1462–1516) aufgefunden. Dies geschah im Zuge einer Visitationsreise nach Weißenburg, die Trithemius 1490 im Auftrag der Bursfelder Kongregation unternahm. Auf der Grundlage der Wiener Handschrift V beschreibt Trithemius Otfrid und sein Werk in seinem Schriftstellerkatalog, »der ersten gedruckten Literaturgeschichte (De scriptoribus ecclesiasticis, 1494)« 5 , mit der »in der frühen Neuzeit die gelehrte Beschäftigung mit mittelalterlich-volkssprachigen Texten überhaupt ein[setzt]« (S. 12). In diesem bibliographischen Verzeichnis wird Otfrid stilisiert zum »herausragende[n] Repräsentant benediktinischer Gelehrsamkeit einer besseren, für die eigene Gegenwart vorbildhaften Vergangenheit« (S. 7) und als Vertreter der karolingischen Erneuerung ganz im Sinne der Ordensreform des 15. Jahrhunderts und ihres Interesses an einer geistlichen ›Erneuerung durch Erinnerung‹ 6 .

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Im Jahr 1530 entdeckte der elsässische Humanist Beatus Rhenanus (1485–1547) die zwischen 902 und 906 auf der Grundlage von V angefertigte Münchner Handschrift F (cgm 14) in der Freisinger Dombibliothek, wie sich aus seiner Geschichte der germanischen Stämme, den Res Germanicae 7 , nachvollziehen lässt. Beatus Rhenanus datiert die Entstehung des in F anonymen »Liber Euangeliorum in Teodiscam linguam versus« (S. 34) auf das Ende des 5. Jh.s zur Zeit der Christianisierung des fränkischen Stammes. Nach Kössinger entspricht diese Datierung dem Interesse, »eine autonome, über einen möglichst langen Zeitraum ausgedehnte, kontinuierliche Sprachentwicklung der germanischen Sprache aufzuzeigen, die er von der Christianisierung bis zu seiner Gegenwart gehen lässt. In diesem diskursiven Kontext innerhalb der Res Germanicae sind die Zitate aus dem Evangelienbuch zu verstehen« (S. 36–37), die »den Beginn der Auseinandersetzung mit Otfrids Evangelienbuch auf textueller Ebene« (S. 40) markieren.

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Den Heidelberger Codex P (cpg 52) entdeckte und erwarb der Humanist und Protestant Matthias Flacius Illyricus 8 (1525–1575) im Jahr 1555 vermutlich aus dem Bestand des Magdeburger Kollegiatsstifts St. Marien (vgl. Eintrag auf Bl. 202v der Handschrift). Flacius wertete die Heidelberger Evangelienbuch-Handschrift für die 2. Auflage seines Catalogus testium veritatis (1562) aus. Zwischen 1557 und 1560 verkaufte er die Handschrift offenbar an seinen Freund und Mäzen Ulrich Fugger (1526–1584). Von ihm entlieh sie der Augsburger Stadtarzt und Humanist Achill Pirmin Gasser (1505–1577) im Jahr 1560. Er fertigte eine Abschrift an, die zur Vorlage einer dann von Flacius erarbeiteten Edition (1571) wurde. Letztere diente vorwiegend konfessionsapologetischen Interessen.

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Philologische Erschließungsarbeit an den Codices des Evangelienbuches: Abschriften, textkritische Arbeiten und Handschriftenbeschreibung

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Auf dem Weg zur Edition: Abschriften

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Die Abschrift des Heidelberger Codex P durch Achill Pirmin Gasser und der 140 Jahre später von Johann Philipp Schmid angefertigte Auszug aus der Wiener Handschrift (V), die Kössinger vom Textbestand bis zum Layout mit ihren Vorlagen vergleicht und ihnen jeweils hohe Qualität bescheinigt, sollten beide ursprünglich als Grundlage für eine Ausgabe des Evangelienbuchs dienen. Während aber Gasser zusammen mit dem Schweizer Universalgelehrten Konrad Gesner (1515–1565) aus patriotisch-konfessionellen Motiven selbst die dann von Flacius realisierte Herausgabe geplant hatte, führte Schmid mit seiner Abschrift eine bezahlte Auftragsarbeit für den Rechtsgelehrten Johann Schilter (1632–1705) aus. Schilter arbeitete für seinen Thesaurus antiquitatum Teutonicarum (1726) an einer Edition von Otfrids Werk auf der Basis einer synoptischen Gegenüberstellung von V und P. Nach Kössinger lässt dies die Anlage der allerdings mit Buch III abgebrochenen Abschrift Schmids (Hs. 96 UB Gießen) erkennen, in der die Blätter 1r-23r und alle übrigen recto-Seiten für die Übernahme von P (nach der Abschrift Gassers) leer gelassen sind.

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Allein paläographisch-kodikologische Interessen stehen wohl hinter der weitgehend anspruchslosen Abschrift (1724/25) der Freising-Münchner Handschrift (F, Cgm 14) für den Göttweiger Abt Gottfried Bessel (1672–1749), der sie als Material für den der Handschriftenkunde und Paläographie gewidmeten Einleitungsband seiner Göttweiger Stiftschronik (1732) kopieren ließ.

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Frühe textkritische Arbeiten
anhand des Heidelberger Otfrid-Codex

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Frühe textkritische Arbeiten zum Evangelienbuch stammen von dem Heidelberger Juristen, Historiker und Staatsmann Marquard Freher und dem dänischen Gelehrten Frederik Rostgaard. Freher korrigierte in seinen Emendationes et castigationes (1631) »eine Reihe von Fehllesungen des Druckes von 1571 auf der Grundlage des Heidelberger Otfrid« (S. 105). Das Ziel von Rostgaards Emendationes (1720) war die Erfassung aller Stellen, an denen sich der Flacianische Druck von 1571 und der Heidelberger Otfrid unterscheiden. Damit sollte Johann Schilters geplanter Neuausgabe des Evangelienbuchs in dessen Thesaurus antiquitatum Teutonicarum (1726) zugearbeitet werden. Kössinger dokumentiert und vergleicht das Niveau beider Arbeiten, indem er exemplarisch die jeweiligen Emendationes zu Otfrid I, 16 ediert. Dabei konstatiert er einen nach Maßstäben moderner Textkritik enormen quantitativen wie qualitativen Zugewinn bei Rostgaard.

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Peter Lambecks Beschreibung der Wiener Handschrift

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Aus den vor dem 19. Jh. äußerst rar gesäten Beschreibungen der Evangelienbuch-Handschriften ragt die 50 Seiten umfassende Erläuterung des Wiener Otfrid-Codex im zweiten Band der Commentarii (1669) Peter Lambecks (1628–1680) als »ein Meilenstein in der Geschichte der Handschriftenbeschreibung« (S. 115) heraus. Lambecks eigentliche philologische Leistung liegt nach Kössinger »darin, in seiner Beschreibung erstmals die gesamte damals bekannte handschriftliche Überlieferung des Evangelienbuchs nebeneinander gestellt, die Lücken der Ausgabe von Flacius nach V ergänzt und die Bedeutung von V im Vergleich mit P auf der Grundlage des Flacius-Druckes herausgearbeitet zu haben« (S. 115).

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Matthias Flacius Illyricus und die Konfessionalisierung des Mittelalters: Die hermeneutisch-philologische Erschließung des Evangelienbuchs in seiner ersten Druckausgabe

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Dass »der Weg von der Handschrift zum Druck […] vermittelt über frühneuzeitliche Abschriften« (S. 69) verläuft, weist Kössinger anhand der philologischen Otfrid-Rezeption bei Matthias Flacius 9 , des Wiederentdeckers des Heidelberger Codex P, nach. So gelingt es Kössinger, neben Gassers Abschrift von P noch eine weitere frühneuzeitliche Kopie als Vorlage für den Flacianischen Druck des Evangelienbuchs plausibel zu machen. Zudem ergibt ein textkritischer Vergleich von V und P mit Gassers Abschrift und dem Druck von Ad Liutbertum der Ausgabe von 1571 die Wahrscheinlichkeit, dass bereits für den Druck des Liutbertbriefes in der zweiten Auflage des Catalogus testium veritatis (Straßburg 1562) eine wohl von Flacius selbst erstellte Zwischenabschrift als Vorstufe vorlag.

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Otfrid war für Flacius ein wertvoller Zeuge für »die Legitimität volkssprachiger Bibelübersetzung« (S. 131), die der Weißenburger ja bereits selbst in seinem dem Evangelienbuch beigegebenen lateinisch abgefassten Brief an den Mainzer Erzbischof Liutbert ausführlich begründet hat, weswegen er auch Eingang in den Catalogus fand.

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Für die Herausgabe des ersten, wie man erst seit neuestem weiß, von Heinrich Petri 1571 in Basel besorgten Druckes des Evangelienbuchs zählt Flacius gleich elf causae in der lateinischen Vorrede auf (vgl. S. 218–231). Zu verstehen sind sie sind nach Ernst Hellgardt und Martina Hartmann wohl mit Recht als immer neue Variationen des im Untertitel anklingenden, allein der Rechtfertigung protestantischer Theologie dienenden Doppelmotivs, »der alten Teutschen spraach und gottsforcht zuerlernen«. 10 Unter Berücksichtigung der Argumente Ulrich Seelbachs für eine Erweiterung dieses Interessenhorizontes 11 , bietet auch für Kössinger »der protestantische Hintergrund als Matrix den großen Rahmen, innerhalb dessen Flacius freilich ein ausgefeiltes methodisches Instrumentarium bedient, das den Text historisch, philologisch und interpretatorisch erschließt« (S. 143).

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Dieses Instrumentarium zur Situierung des Evangelienbuchs faltet Flacius in den »Paratexten« (S. 142) seines Druckes aus und zwar im Bewusstsein eines hermeneutischen Wissensdefizits, das auf der kulturellen und sprachgeschichtlichen Distanz zu Otfrids Werk beruht. Das Beiwerk der Paratexte »nach Aspekten philologischer Zugriffsweisen« (S. 143) auf das Evangelienbuch befragend, rückt Kössinger mit dem althochdeutsch-(früh)neuhochdeutschen Glossar das philologische Herzstück des von Flacius gebotenen »textgestützten, hermeneutischen Ansatzes zur Gesamtinterpretation des Evangelienbuchs« (S. 149) in den Mittelpunkt.

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Die Rezeption der Rezeption: Johann Schilters und
Dietrich von Stades Otfrid-Arbeiten auf Grundlage der Edition des Evangelienbuchs von Matthias Flacius

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Von welch weitreichender Wirkung die Otfrid-Ausgabe des Matthias Flacius war, zeigt deren Rezeption im ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhundert durch Johann Schilter (1632–1705) und Dietrich von Stade (1637–1718). Mit ihren auf dem Druck von 1571 beruhenden Arbeiten löst sich nach Kössinger ab Ende des 17. Jh.s die philologische Erschließung von Otfrids Werk weitgehend von der Kenntnis der überlieferten Handschriften, und es öffnen sich zugleich neue Interessen und Motive für eine verstärkt wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Evangelienbuch.

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»Dass der Umgang mit dem Evangelienbuch nun in weiten Teilen nicht mehr die Kenntnis der Handschriften selbst zur Voraussetzung hat« (S. 163), relativiert Kössinger jedoch insgeheim selbst, indem er bemerkt, dass Schilter und von Stade zwar jeweils eine auf dem Flacianischen Druck basierende Neuausgabe geplant hatten, hierfür aber ebenso »die Nachforschungen zu den unmittelbaren handschriftlichen Quellen des Evangelienbuchs intensiviert« (S. 187) haben. Dies zeigt die Tatsache, dass beide bei Johann Schmid jeweils um eine Abschrift bzw. um ein Lesartenverzeichnis und eine Beschreibung der Wiener Handschrift nachfragten. Auch die auf der Heidelberger Handschrift basierenden Emendationes Rostgaards entstanden für Schilters Edition. Es scheint in dieser Zeit vielmehr neben eine fortlaufende Rezeption der Evangelienbuch-Handschriften eine intensive Rezeption des leichter verfügbaren Otfrid-Druckes von Flacius zu treten. Dies verdeutlicht ebenso Bessels Abschrift des Münchner Codex. In manchen Fällen scheint auch beides, Nutzung des Druckes und Studium der Handschriften, ineinander zu verlaufen.

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Dem an sprachwissenschaftlichen Fragen interessierten Dietrich von Stade gelingt 1708 lediglich die Herausgabe eines textlich jedoch erstaunlich präzisen Specimen. Es beruht auf einer vollständigen Abschrift der Edition von Flacius, der er das von Schmid 1704/05 angefertigte Verzeichnis zur Seite stellt; dieses listet gegenüber dem Druck »3744 errata« (S. 174) auf! Dahingegen hatte der erstmals »aus einem universitären Kontext heraus mit deutscher Sprache und Literatur des Mittelalters« (S. 165) sich befassende Straßburger Rechtsgelehrte Johann Schilter bereits 1692 eine vollständige Otfridausgabe für den Thesaurus antiquitatum Teutonicarum abgeschlossen, wie er selbst in der Praefatio ad Otfridi libros Evangelicorum angibt. Jedoch sammelte Schilter in den Jahren 1697 bis 1700 weiteres Material zu den handschriftlichen Quellen des Evangelienbuchs, darunter Gassers Abschrift und Rostgaards handschriftliche Emendationes sowie Johann Schmids Abschrift.

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Die Bearbeitung des Evangelienbuchs nach Schilters Materialien übernahm nach dessen Tod der Straßburger Jurist Johann Georg Scherz. Dieser hat »zwar alle Materialien zu einem Vergleich mit Schilter nach der Ausgabe von 1571 herangezogen, aber aus Respekt vor seinem Lehrer nicht in den Text selbst eingegriffen« (S. 189), sondern die Heilung von Fehlern lediglich im Apparat vorgenommen. Eine entsprechend negative Bewertung der 1726 im ersten Band des Thesaurus veröffentlichten Ausgabe des Evangelienbuchs war unvermeidlich.

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Otfrid-Philologie im 19. Jahrhundert zwischen Eigeninteresse und wissenschaftlichem Anspruch in Kloster und Universität

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Rund hundert Jahre später erarbeitet der Kremsmünsterer Bendediktiner P. Leopold Koplhuber (1763–1826) die »erste vollständige Edition und Reimübersetzung von Otfrids Evangelienbuch ins Neuhochdeutsche« (S. 194). Dabei greift er auf den Text in Schilters Thesaurus zurück und »arbeitet alle Anmerkungen von Scherz aus den Fußnoten in seinen Haupttext ein« (S. 199).

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Die Auseinandersetzung Koplhubers mit Otfrid ist geleitet von einem genuinen Eigeninteresse an der Übersetzung des althochdeutschen Textes. Er begründet den Ansatzpunkt für ein Verstehen des Evangelienbuchs von der Beherrschung seiner »grammaticalischen Regeln« (vgl. S. 197) her. Hierzu erstellt er zwei umfangreiche Handschriften, die in alphabetischer Reihenfolge den Wortschatz Otfrids mit Bestimmungen von Wortart, neuhochdeutscher Bedeutung und genauer Stellenangabe enthalten. Dabei übersetzt er »nie einzelne Wörter, sondern bindet sie, übrigens als erster Wortschatzbearbeiter zu Otfrid überhaupt, immer syntagmatisch-kontextuell ein« (S. 199). Dem althochdeutschen Text und seiner neuhochdeutschen, aus Jamben bestehenden Übersetzung fügt Koplhuber einen Fußnotenapparat bei, den Kössinger am Teilstück aus Ad Ludovicum (V. 1–7) anschaulich macht. Hier stehen vor allem »Beschreibungen sprachlich-grammatikalischer Phänomene und Probleme bei ihrer Umsetzung ins Neuhochdeutsche im Vordergrund« (S. 203).

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Von Jacob Grimm wird der Benediktiner hingewiesen auf den für eine Edition mittlerweile herrschenden wissenschaftlichen Anspruch, wie ihn die nunmehr disziplinär etablierte Germanistik erhebt. Der von Grimm formulierte Anspruch kommt zum Tragen mit der ersten kritischen Ausgabe des Evangelienbuchs, die der Königsberger Professor für deutsche Sprache und Literatur, Eberhard Gottlieb Graff (1780–1841) herausbrachte. Doch diese Edition kann, so wie der Rahmen von Kössingers Arbeit abgesteckt ist, eigentlich nicht mehr Gegenstand der Diskussion sein. Gleichwohl kommt Kössinger noch auf Graffs Ausgabe zu sprechen, steht diese doch »gewissermaßen gleichzeitig auf zwei Seiten« (S. 209). Denn Graffs Edition berücksichtigt zwar alle Textzeugen, lässt aber zugleich alle Marginalien der Handschriften als unnütz beiseite, mit denen Otfrid, die Evangelien anzitierend, im althochdeutschen Text auf die biblischen Vorlagen referiert. Zudem wollte Graff seine Ausgabe nicht nur in einem schulisch-wissenschaftlichen Umfeld verortet sehen, sondern er hat sie mit einem für Otfrid-Arbeiten der frühen Neuzeit so oft formulierten »dezidiert patriotischen Anspruch« (S. 209) »auch für jeden gebildeten Deutschen, dem deutscher Geist und deutsches Wort nicht gleichgültig ist«, erstellt. 12

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Materialreichtum des Buches

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Herauszuheben ist zu aller erst der große Materialreichtum des Buches, der die philologische Arbeit am Evangelienbuch in der frühen Neuzeit exemplarisch veranschaulicht und auf grundlegende Probleme bei der Erschließung aufmerksam macht. Die Materialfülle ergibt sich aus den vielen Teileditionen innerhalb der einzelnen, nach philologischen Grundkompetenzen gegliederten Kapitel. Sodann aus dem editorischen Anhang (Kap. 8). Dieser umfasst die bislang nur schwer zugänglichen Vorreden zur Otfrid-Ausgabe des Flacius: die lateinische mit einer Übersetzung und die deutsche; er umfasst die Übersetzung von Ad Liutbertum in der deutschen Ausgabe des Catalogus testium veritatis (Frankfurt/M. 1573), einen buchstabengetreuen Abdruck der lateinischen Vorreden zur unfertigen Otfridausgabe und Otfridgrammatik Dietrich von Stades, sowie die Vorrede Leopold Kophubers zu seiner althochdeutschen Textausgabe. Schließlich und vor allem ist auch das Quellenverzeichnis zum Evangelienbuch von 1494–1836 zu nennen, das »darüber hinaus eine möglichst umfassende Bibliographie der Rezeptionszeugnisse zum Untersuchungszeitraum bieten« (S. 305) möchte.

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Fazit

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Norbert Kössinger leistet mit seinen Studien zu den Anfängen der deutschen Philologie zweifaches: Er setzt erstens ein exemplarisches Konzept zur Erschließung der frühgermanistischen Wissenschaftsgeschichte in die Tat um, indem er anhand ausgewählter Rezeptionszeugnisse Antwort gibt auf »die Frage nach elementaren philologischen Grundfertigkeiten und ihre Applikation auf Otfrids Evangelienbuch vom Ende des 15. Jh.s bis zum ersten Drittel des 19. Jahrhunderts: Sammeln, Abschreiben und Beschreiben, Edieren, Kommentieren und Interpretieren« (S. 214). Zweitens würdigt er auf diesem Weg die zum Teil erstaunlichen Leistungen auf dem Gebiet der deutschen Philologie vor ihrer eigentlichen disziplinären Etablierung, war doch nicht alles »unwissenschaftlich, und viele Bestrebungen der Zeit waren bereits von einer solchen Qualität, dass das beginnende 19. Jahrhundert darauf aufbauen konnte – was es im übrigen auch tat – und keineswegs überall erst mühsam einen Neuanfang suchen musste.« 13

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Entscheidend für Kössingers Aufwertung einer deutschen Philologie der frühen Neuzeit ist dabei seine Beobachtung, dass sowohl die disziplinären als auch die frühneuzeitlichen Modi der Auseinandersetzung mit dem Evangelienbuch, ja mit der deutschen Literatur des Mittelalters überhaupt, den Versuch darstellen, im Sinne der zentralen Aufgabe von Philologie über die Distanz der Tradition Texte der Vergangenheit verfügbar zu machen und ihr Verständnis zu erschließen. Dies ist zunächst keine Frage der Qualität, sondern allein der Absicht. Mit dieser Absicht aber wird die philologische Auseinandersetzung mit dem Evangelienbuch in der frühen Neuzeit zum Bestandteil der Geschichte der deutschen Philologie wie auch der deutschen Literaturwissenschaft, die bis heute »ihre eigene Geschichte nicht eigentlich erforscht« 14 hat. Das gilt, auch wenn die Ergebnisse dieser vordisziplinären Forschung freilich den heterogensten persönlichen Interessen, Motiven und Zwecken dienten. Reflektiert man darauf, so wird man zugeben müssen, dass dies auf die eine oder andere Weise, bewusst oder unbewusst, wohl in jeder Epoche der Forschungsgeschichte etwas fast Selbstverständliches ist.

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Norbert Kössinger versteht sein Buch deshalb zu Recht als einen »Beitrag zur frühen Wissenschaftsgeschichte der Germanistik« (S. 215), der mit Blick auf eine Geschichte der deutschen Philologie vor ihrer disziplinären Institutionalisierung hoffentlich weitere Untersuchungen zur frühen philologischen Erschließung alt- und mittelhochdeutscher Texte inspirieren kann. Hierfür bietet das vorliegende Buch wichtige Ansatzpunkte, erinnert es doch u. a. an die Manesse-Philologie, insbesondere an die von Melchior Goldast herausgegebenen drei mittelhochdeutschen Lehrdichtungen König Tirol, Winsbeke und Winsbekin in den paraenetici veteres (1604), die Edition des Annoliedes durch Martin Opitz (1639), Johann Schilters Ausgaben des althochdeutschen Ludwigsliedes (1696) und der Psalterbearbeitung Notkers des Deutschen (1698) sowie schließlich an Frederik Rostgaards Ausgabe des Althochdeutschen Isidor (1738).

 
 

Anmerkungen

Vgl. Otfrid von Weißenburg: Evangelienbuch. Band I: Edition nach dem Wiener Codex 2687. Hg. und bearbeitet von Wolfgang Kleiber unter Mitarbeit von Rita Heuser. Teil 1: Text. Teil 2: Einleitung und Apparat. Mit Beiträgen von Wolfgang Haubrichs, Norbert Kössinger, Otto Mazal, Norbert H. Ott und Michael Klaper. Tübingen 2004. Und Otfrid von Weißenburg: Evangelienbuch. Band II: Edition der Heidelberger Handschrift P (Codex Pal. Lat. 52) und der Handschrift D (Codex Discissus). Hg. und bearbeitet von Wolfgang Kleiber unter Mitarbeit von Rita Heuser. Teil 1: Texte (P,D). Tübingen 2006. Vgl. auch Ernst Hellgardt: Die Rezeption Otfrids von Weißenburg von Johannes Trithemius bis zur neunten Centurie (1494–1565). In: Arno Mentzel-Reuters / Martina Hartmann (Hg.): Catalogus und Centurien. Interdisziplinäre Studien zu Matthias Flacius und den Magdeburger Centurien. (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation. Studies in the Late Middle Ages, Humanism and the Reformation 45) Tübingen 2008, S. 65–76.   zurück
Nach Hans Ulrich Gumbrecht: Die Macht der Philologie. Über einen verborgenen Impuls im wissenschaftlichen Umgang mit Texten. Frankfurt/M. 2003, S. 15.   zurück
Kössinger folgt der Definition von ›Philologie‹ nach Karl Stackmann: Philologie. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. III (2003), S. 74–79, hier S. 74: »Wissenschaft, die Texte der Vergangenheit verfügbar macht und ihr Verständnis erschließt.«   zurück
Franz Josef Worstbrock: Deutscher Humanismus 1480–1520. Verfasserlexikon, Bd. 1 A-K. Berlin [u.a.] 2008, S. VI. Zur Betonung des Humanismus als »philologische Tätigkeit« vgl. zuletzt Eckhard Keßler: Die Philosophie der Renaissance. Das 15. Jahrhundert. München 2008, S. 17.   zurück
Vgl. Klaus Arnold: Trithemius, Johannes. In: Verfasserlexikon, Bd. 11 (2004), Sp. 1560–1565, hier Sp. 1560.   zurück
Vgl. Klaus Schreiner: Erneuerung durch Erinnerung. Reformstreben, Geschichtsbewusstsein und Geschichtsschreibung im benediktinischen Mönchtum Südwestdeutschlands an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert. In: Kurt Andermann (Hg.): Historiographie am Oberrhein im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit. (Oberrheinische Studien Bd. 7) Sigmaringen 1988, S. 35–87.   zurück
Vgl. Felix Mundt (Hg.): Beatus Rhenanus: Rerum Germanicarum libri tres. Ausgabe, Übersetzung, Studien. (Frühe Neuzeit 127) Tübingen 2008.    zurück
Vgl. Norbert Kössinger: Sammeln, Edieren und Interpretieren: Matthias Flacius und die Heidelberger Otfridhandschrift (Cod. Pal. lat. 52). In: Arno Mentzel-Reuters / Martina Hartmann (Hg.): Catalogus und Centurien. Interdisziplinäre Studien zu Matthias Flacius und den Magdeburger Centurien. (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation. Studies in the Late Middle Ages, Humanism and the Reformation 45) Tübingen 2008, S. 77–94.   zurück
Vgl. Martina Hartmann: Humanismus und Kirchenkritik. Matthias Flacius Illyricus als Erforscher des Mittelalters. (Beiträge zur Geschichte und Quellen des Mittelalters 19) Stuttgart 2001.    zurück
10 
Vgl. Ernst Hellgardt: … der alten Teutschen spraach und gottsforcht zuerlernen. Über Voraussetzungen und Ziele der Otfridausgabe des Matthias Flacius Illyricus. Basel 1571, S. 281–286. Vgl. auch Hartmann, Humanismus und Kirchenkritik (Anm. 9), S. 117: »Für Flacius’ editorische Tätigkeit gilt somit wie für seine kirchengeschichtlichen Arbeiten überhaupt das Diktum von Dieter Mertens: »Das Mittelalter wird konfessionalisiert, d.h. die Jahrhunderte vor der Reformation werden einem konfessionell geprägten Denkschema einverleibt und zu Wort kommt nur eine der beiden Seiten.«   zurück
11 
Vgl. Seelbach, mittelalterliche Literatur in der frühen Neuzeit, S. 95–100.   zurück
12 
Eberhard Gottlieb Graff: Krist. Das älteste, von Otfrid im neunten Iarhundert verfaszte, hochdeutsche Gedicht, nach den drei gleichzeitigen, zu Wien, München und Heidelberg befindlichen, Handschriften kritisch herausgegeben von E. G. Graff. Mit einem Facsimile aus ieder der drei Handschriften. Königsberg 1831, S. XIV.   zurück
13 
Vgl. Bernd Neumann: Die verhinderte Wissenschaft. Zur Erforschung altdeutscher Sprache und Literatur in der ›vorwissenschaftlichen‹ Phase. In: Peter Wapnewski (Hg.): Mittelalter-Rezeption. Ein Symposion. (Germanistische Symposien. Berichtsbände VI) Stuttgart 1986, S. 105–118, hier, S. 107.   zurück
14 
Klaus Weimar: Literaturwissenschaft. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft; Bd. 2 (2000), S. 485–489, hier S. 488.   zurück