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Narzissmus revisited

  • Eckart Goebel / Elisabeth Bronfen (Hg.): Narziss und Eros. Bild oder Text? (Manhattan Manuscripts 2) Göttingen: Wallstein 2009. 302 S. 15 Abb. Gebunden. EUR (D) 34,90.
    ISBN: 978-3-8353-0492-5.
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Wir Narzissten

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Sind wir nicht alle etwas narzisstisch? Unabhängig von psychoanalytischen Theoremen eines ›primären Narzissmus‹ stellt in der Einleitung des Bandes, der aus einem Symposium an der New York University hervorging, Eckart Goebel am Beispiel des Lebens in New York die Frage, ob Narzissmus das in heutiger Zeit typischste Persönlichkeitsmuster sei. Kulturelle Forderungen von Durchsetzungsfähigkeit und Rücksichtslosigkeit machten die Kultivierung der Selbstliebe zu einer notwendigen Bedingung.

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In der Hinwendung auf die Gegenwart impliziert die Einleitung eine Frage, die der Klappentext des Bandes anspricht, nämlich ob dem Phänomen des Narzissmus im Zeitalter der social networks nicht eine gesteigerte Aktualität zukomme und vor diesem Hintergrund eine neue Behandlung des Themas geboten sei: »Kann der antike Mythos ein Schlüssel sein, die heutige My-Space-Generation zu verstehen, die ihr Image vor dem Spiegel des World Wide Web gestaltet?« Die reizvolle, weil zunächst kontraintuitive, Kombination selbstbezüglicher Isoliertheit und sozialer Integration wird in dem Band jedoch höchstens implizit behandelt. Die Annäherung an das Thema soll nämlich nicht mit dem Fokus auf dem »Bereich der Psychologie narzisstischer Persönlichkeitsstörungen« geschehen, sondern sich auf »den seit Ovid beobachteten Zusammenhang zwischen Bild und Erzählung« richten (S. 11). Dieser Zusammenhang ist dokumentiert in der Ausgangsthese, dass Narziss verbunden sei mit der Stillstellung und dem Bildlichen, Eros als dynamisierendes Prinzip hingegen mit der Narration.

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Ovid

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Den Auftakt machen zwei Aufsätze, welche Ovids Metamorphosen-Text genau unter die Lupe nehmen. Henri de Riedmatten unterteilt dabei Narziss’ Begegnung mit seinem Spiegelbild in zwei Stadien: die »Phase des Anderen« und die »Spiegelphase« (S. 48). Der Prozess, der sich dabei entfalte, sei der einer »Medienerkenntnis« (S. 49). Der Wahnsinn des Narziss inszeniere ein »Drama der Identifikation« (S. 57), das bereits angelegt sei in der Rahmung der Geschichte, der Legende von den seherischen Fähigkeiten des Tiresias und dessen Behauptung, dem Jüngling sei ein langes Leben beschieden, »›[w]enn er sich nicht selbst kennenlernt‹«. 1

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John T. Hamilton unterzieht die Passage Ovids einer poetologischen Lektüre: Er beschreibt anregend in einer geschickten Neukontextualisierung des bekannten Mythos einen komplexen Mechanismus literarischer Aneignung, den er »Echographie« nennt (S. 18). Echo wird stellvertretend für den Dichter gelesen, weil dieser die Tradition zum Sprechen bringen müsse und insofern nur nachsprechen könne. Im Szenario der mythischen Erzählung komme Narziss dabei die Rolle der »einnehmende[n] Überlieferung« (S. 20) zu. Die Narziss-Figur beinhalte unterschiedliche literarische, mythische und kultische Traditionen, die in der Wiederaufnahme des Textes eine »Wiederholung mit einer Differenz« hervorbrächten, was die Tradition verwandle. Die Figur Echos, die erst von Ovid in die Narziss-Geschichte eingeführt wurde, präsentiere genau diese »Aktualisierung« (S. 19) von bereits in der Vorlage Enthaltenem. So interpretiert Hamilton die Kommunikationssituation der beiden Figuren nicht als reines Nachsprechen der Aussagen Narziss’ durch Echo; vielmehr sei es die Aussage der Nymphe, die Narziss’ Sprechen bereits beinhalte.

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Die Vorgängigkeit des Nachträglichen richte folglich das Augenmerk auf die Reflexion als zentrales Merkmal der Geschichte und deren Umgang mit Quellen. Hamilton vergleicht Ovids Text mit Homers Demeterhymnos – der wiederum eine literarische Verarbeitung der Eleusinischen Mysterien darstellt –, in welchem Persephones Erschauen und versuchtes Ergreifen einer Narzisse ihren Raub in die Unterwelt vorbereitet. Hamilton sieht Ähnlichkeiten zwischen beiden Texten in dem »fundamentalen Rollentausch«, der zwischen »Agent und Rezipient« und der »Identifikation der beiden miteinander« stattfinde (S. 31) – bei Ovid in dem Verhältnis von Narziss und seinem Spiegelbild, bei Homer in dem von Persephone und der Narzisse.

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Die poetische Leistung der Metamorphosen liege folglich in der Verarbeitung der Tradition und der gleichzeitigen Reflexion dieser Verarbeitung:

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Es ist, als ob Ovids Narziss-Erzählung, indem sie mit einem Jungen beginnt und mit einer Blume endet, eine literarische Tradition, die mit einer Blume beginnt und mit einem Jungen endet, perfekt reflektiert und ein perfektes Echo von ihr bildet (S. 30).
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Hamilton legt dar, wie die Dichtung einen kulturellen Resonanz- und Rückkopplungsraum konstruiert und sich in diesen einschreibt. Mit der ›Echographie‹ wird der Versuch unternommen, die allgemeine Frage zu konzeptualisieren, »wie sich Kult zur Kultur verhält und wie durchdacht Dichtung sich mit archaischen Ritualen beschäftigt« (S. 30).

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Narzissmus in der Literatur

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Die Betrachtung narzisstischer Konfigurationen im literaturgeschichtlichen Querschnitt macht einen Teil des Sammelbandes aus. Das historisch früheste Beispiel nach Ovid liefert Andreas Kraß, der das Narzisslied Heinrichs von Morungen einer Queer-Lektüre unterzieht. Seine Hauptthese lautet, dass der Minnesang eine »kulturgeschichtlich folgenreiche Variante von Sigmund Freuds Konzept des Narzissmus und Jacques Lacans Modell des »Spiegelstadiums« sei (S. 78). Das Lied inszeniere unterschiedliche »Spiegelverhältnisse« (S. 80), in denen der Ritter etwa sein eigenes Idealbild als höfische Dame vorstelle, in dem der Makel des Minnesängers verschoben als Makel der Dame wiederkehre. So gelangt der Beitrag zu der Einsicht, dass der Minnesang wie ein »narzisstisches Spiegelkabinett« (S. 100) operiere.

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Achim Geisenhanslüke legt zwei miteinander verbundene Themenkomplexe des Tasso frei: Den Narzissmus und die Problematik der Gabe. Die Situation am Hof werde durch die Einführungsszene der beiden Leonoren illustriert, die sich gegenseitig ineinander spiegeln: Die Ordnung des Hofes beruhe auf dieser wechselseitigen Identifikation des Ich im und durch den Anderen. Konsequenterweise spiele darin die Gabe eine zentrale Funktion: Der Gastgeber verlange vom Gast eine Gegenleistung und werde folglich wiederum zu dessen Gast. Mit der Figur des »sentimentalische[n] Künstler[s]« (S. 116) gerate nun eine Figur in diese Ordnung, welche dieser Ökonomie nicht gewachsen sei:

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Wie Tasso sich in der höfisch geprägten Welt zu behaupten versucht, indem er – buchstäblich – alles gibt, was er hat, ist eines der zentralen Themen des Dramas und zugleich Ausdruck eines verzweifelten Ausbruchs aus dem Narzissmus, der den Helden zuletzt in den überlieferten Untergang stürzt (S. 117).
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Das Hofpersonal verlange von Tasso eine Gegenleistung für dessen Aufenthalt – die Verewigung in der Kunst. Tasso, der alleine schon aufgrund seiner melancholischen Disposition gegen höfische Codes verstoße, ›gebe‹ jedoch zugleich mit seiner Dichtung seine dichterische Begabung und versuche die »Spaltung seiner Person in den Dichter und den Menschen« (S. 126) zu kompensieren, indem er sich Antonio und der Prinzessin Leonore ganz zu geben trachte, was jedoch nicht gelinge. Somit realisiere sich im Tasso »das Schicksal des Dichters als verhängnisvolle Gabe« (S. 133).

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Wedekinds Protagonistin Lulu kann, wie Nicola Behrmann diskutiert, zwar im Freud’schen Sinn als ›narzisstisch‹ verstanden werden, ihr Narzissmus richte sich jedoch »ausschließlich auf ein vom Mann projiziertes Spiegelbild, dem sie absolut gerecht wird« (S. 191). Sie müsse deshalb als »phallische[ ] Frau« verstanden werden, welche die Ambivalenzen des Phallus offenlege: Sie fungiere zugleich als Urfigur der Frau, werde dabei jedoch durch die Zuschreibungen der Männer erzeugt – ihre Vorgängigkeit ist also ein Effekt, der das männliche Begehren ausdrücke, »den Phallus als Ursprung und privilegierten Code des Symbolischen zu verstehen« (S. 192). Die Dynamik des Dramas entstehe aus dem Bemühen, diesen Code aufrechtzuerhalten, und setze wiederholt Verwundungen in Szene, welche dafür sorgen sollen, dass sich der »Unterschied zwischen Projektion und Gestalt« der Frau nicht auflöse (S. 195).

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Vivian Liskas Aufsatz erläutert die Poetik Else Lasker-Schülers anhand dreier Textbeispiele aus den NächtenTino von Bagdads. Diese ziele auf die Anerkennung des Dichters ab, der dem Publikum nicht »nach dem Munde« (S. 215) reden solle. Seine Aufgabe sei stattdessen, ein neues Sprechen zu ermöglichen, das die Aussöhnung von Ich und Welt erlaube. Die Nobilitierung des poète maudit gehe dabei nicht bruchlos vonstatten: Durch die Verzerrung ins Groteske werde der narzisstische Impetus des Dichters zugleich ironisiert.

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Die unterschiedlichen Aufsätze zeigen, wie diverse Semantiken des Narzissmus operabel gemacht werden können: Während bei Liska unter ›Narzissmus‹ vor allem Selbstliebe verstanden wird, bezeichnet er bei Behrmann ein psychoanalytisches Theorem, bei Kraß eine kulturgeschichtlich wirksame Disposition und bei Geisenhanslüke ein Verhaltensmuster. Auch wenn also unter dem Begriff ›Narzissmus‹ unterschiedliche Narzissmen firmieren, die entweder als jeweils historische Konstruktion oder als überzeitliches Konzept lesbar sind, tritt dieser Begriff gerade auf diese Weise als zentrale kulturelle Beschreibungskategorie hervor.

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Text und Bild

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Den Versuch, anhand von Narziss und Eros das Verhältnis von Bild und Text zu beschreiben, unternimmt Elisabeth Bronfen. Sie konstatiert eine »mythopoetisch[e]« Festschreibung des Verhältnisses von Visualität und Narration am Beispiel von Narziss und Eros als »traditionelle[ ] Opposition zwischen einem tödlichen Einfrieren des Selbstbildes, durchgespielt am Narzissmythos, und der Wiederbelebung durch Erzählung, wofür das Erotische als Trope dient« (S. 229). Ausgehend von der Psychoanalyse, welche eine ambivalente »erotische Komponente des Narzissmus« diagnostiziere, die das Liebesobjekt sowohl durch Fixierung im Bild töte als auch durch die Ersetzung des Körpers als Bild lebenserhaltend wirke, könne das Kind so doch »auf die Rückkehr eines abwesenden mütterlichen Körpers […] vertrauen«, verortet Bronfen das »Erotische als einen unheimlichen Gast im Narzissmus«.

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Daran anschließend müsse »zwischen verschiedenen Formen von Bildproduktion« unterschieden werden: »denjenigen, die die lebenserhaltende Komponente von Eros einfrieren und denjenigen, die die Todesneigung des Bildes gegen solch tödliches Einfrieren benutzen« (alle S. 230). Das üblicherweise angeführte Produktionsverständnis, dass Texte Bilder erzeugen, soll also erweitert werden um den »Vorschlag, dass Bilder Narrationen hervorrufen als eine Möglichkeit, visuelle Lust zu produzieren«. Daraus ergibt sich für Bronfen der grundsätzlich interessante Vorschlag, den »Einsatz von Licht und das sich daraus ergebende Spiel von Schatten und Illumination als narrative[ ] Kategorie« zu fassen (S. 231). Ihre Überlegungen ergänzt sie mit Barthes und Hegel: Die ›Lust am Text‹ auf Leserseite müsse folglich auch auf die Visualität übertragbar sein und erzeuge ein »Spiel des Visuellen mit dem Narrativen, das es für mich und mit mir aufführt« (S. 233). Hegels Aussagen zum ›reinen Licht‹ und der ›reinen Nacht‹ werden von ihr mit dem Erotischen beziehungsweise dem narzisstischen Einfrieren gleichgesetzt, die wiederum sich gegenseitig bedingende Triebe darstellten. Die Fallbeispiele – Die Wahlverwandtschaften, Middlemarch, Sunset Boulevard – ihrerseits

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demonstrieren sowohl das tödliche Einfrieren von Bildern als auch das Wiedererlangen von Leben nicht gegen das Visuelle, sondern mit dem Visuellen. Dadurch reflektieren sie auch die Handlung unseres eigenen kritischen Lesens, d.h. das Unternehmen, den dem Imaginären inhärenten Todestrieb aufzudecken, selbst während wir eine kritische Narration produzieren, die diese Tätigkeit neu belebt. Das Vergnügen liegt meiner Meinung nach darin, diesen Widerspruch auszuhalten (S. 235).
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Der voraussetzungsreiche theoretische Apparat, der aufgerufen, aber nicht in seinen ganzen Konsequenzen ausformuliert wird, bietet die Grundlage für die Analyse von Textstellen, welche den »Austausch zwischen der Visualität und dem Narrativen« (S. 246) inszenieren. Dafür wird Warburgs Konzept der ›Denkräume‹ belehnt, wenn Bronfen in den Texten unterschiedliche »Tableaux« identifiziert, die auf Darstellungs- und Figurenebene hergestellt werden. Die Wahlverwandtschaften etwa forderten den Leser dazu auf, »einen Denkraum zu konstruieren, einen Ort, wo wir sie [die Tableaux, B.M.] nebeneinander stellen und über ihre Übereinstimmungen nachdenken müssen« (S. 237). In einem Roman, der mit Spiegelszenen operiert, ist dies jedoch nicht grundsätzlich außergewöhnlich: Gerade das Gegenüberstellen der Szene von Ottilie mit dem toten Otto auf dem See als »Tableau mort« (S. 236) sowie der Szene des tatsächlichen »Tableau vivant« (S. 237) von Ottilie als Maria mit dem Kind ist so evident, dass die Anwendung von Warburgs Konzept nicht zwangsläufig überzeugt und den eigentlichen dynamischen Gehalt dieser Gegenüberstellung nicht zu erklären imstande ist. Die daraus abgeleitete These, »dass die Wahlverwandtschaften thematisieren, wie das Spiel von Licht konstitutiv ist für das Auftreten eines Protagonisten« (S. 238), bleibt letztlich vage. Der dahinter stehende Gedanke einer Nobilitierung des Visuellen, also von Darstellungen der Beleuchtung und der expliziten Thematisierung von In-Szene-Setzungen als eigenständiger Untersuchungsgegenstand, verliert dadurch jedoch nichts von seinem Reiz.

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Bild, Film, Psychoanalyse

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Eine tatsächliche Verbildlichung des Narziss thematisiert Claudia Blümle. Blümle überlegt, warum Jacques Derrida in seiner Ausstellung Aufzeichnungen eines Blinden. Das Selbstporträt und andere Ruinen im Louvre die Zeichnung Narziss von Lodovico Cardi, genannt Le Cigoli, auswählte. Die Zeichnung inszeniere eine »Blindheit […], die in einer Verbindung von Auge, Zeichnung und Hand liegt« (S. 110), die gerade Derrida ansprechen musste, da sich für ihn jedes Zeichnen durch einen »permanente[n] Wechsel zwischen Sehen und Blindheit« konstituierte (S. 111).

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Hans-Christian von Herrmann setzt sich mit Steven Spielbergs A.I. auseinander. Ihn interessiert dabei besonders die »Spielbergschicht des Films […], deren ödipale Grundstruktur es nahe legt, psychoanalytische Begriffe und Konzepte zu verwenden« (S. 252). In der Figur des künstlichen Jungen, dessen Fähigkeit zu lieben aktiviert wird, stelle der Film die Frage nach der »Wirklichkeit der Wirklichkeit« (S. 253). Dem Film komme dabei die Rolle eines Reflexionsmediums zu, welches den »grundsätzlich phantasmatischen Status von Realität« verhandle (S. 256). Die »ostentative Künstlichkeit« (S. 267) der Darstellung auf der Kinoleinwand, für die Spielbergs Kino bekannt ist, verdecke ein traumatisches Reales. Dies erinnert an eine gängige Bestimmung des Kinos als Flucht vor der Realität.

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Während der Narzissmus in dem Aufsatz eines von mehreren psychoanalytischen Konzepten ist, das Verwendung findet, hätte sich gerade am Beispiel Spielberg eine weitere Anschlussstelle eröffnen können: Der Kinosaal als Aufführungsort eines narzisstischen Spiels, das den Zuschauer mit einem idealen Gegenbild auf der Gegenseite versorgt, das jedoch unerreichbar ist, erscheint gerade im effektreichen Kino dieses Regisseurs hypertrophiert. Eine weitere Dimension der ›Spielbergschicht‹ könnte durch die Frage eingezogen werden, ob dies nur eine besonders beeindruckende Version des Popkornkinos sei oder ob sich in dieser Befragung der Wirklichkeit auch ein – möglicherweise ethisches oder politisches – Sendungsbewusstsein herauslesen lasse.

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Den Aspekt des Eros behandelt Martin von Koppenfels in seinem Aufsatz, der eine minutiöse Lektüre von Lacans Symposion-Lektüre vornimmt, welche den Auftakt für das Seminar VIII bildet. Von Koppenfels kann dabei die substantielle Rolle, welche diese Lektüre für ein Verständnis der Lacan’schen Psychoanalyse darstellt, eindrücklich klarmachen. Sie beschreibe eine psychoanalytische Annexion des Textes durch Lacan, die Sokrates zum »›Vorläufer der Psychoanalyse‹« mache und eine »Reihe von Motivverbindungen« (S. 271) anstimme, die von diesem Zeitpunkt an in Lacans Schriften stets auftauchten.

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Von Koppenfels zeigt, wie in Lacans Lesart Sokrates an Alkibiades die »erste gelungene Auflösung einer Übertragungsliebe« (S. 279) vornimmt und dies eine Neubestimmung der Position des Analytikers ermöglicht, der »›[r]ein begehrend‹« sein soll und damit nicht Objekt des Begehrens (S. 289). Profil gewinnt der Aufsatz dadurch, dass er auch jene Themenkomplexe des Symposions zur Sprache bringt, die Lacan im Sinn seiner theoretischen Agenda auslässt – etwa die Motivkette von Verstümmelungen und Verletzungen, die sich durch den Text zieht, oder auch die Abwertung der Rolle des Agathon. Diese Aussparungen erklärt von Koppenfels damit, dass Lacan dem Text nicht zuspreche, eine Theorie der Kastration zu liefern, und an der bedeutungsnivellierten Figur Agathons die Beliebigkeit der Objektwahl ausstelle. So gelingt es dem Beitrag, die Lacan’sche Theoriegenese um einen wichtigen Zwischenschritt zu bereichern.

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Freundschaft

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Elke Siegel und Avital Ronell widmen sich in ihren Aufsätzen dem Thema der Freundschaft. Siegel geht von der Ausgangsbeobachtung aus, dass nie ein Freund Narziss’ erwähnt werde, und versucht die Rolle der »überdeterminierte[n] Bedeutung der Frage, ob einer einen Freund hat« (S. 164) vor der Folie unterschiedlicher Thematisierungen von Freundschaft und Narzissmus in der Literatur zu erhellen. Es lasse sich erkennen, dass Freundschaft zwischen den »Polen von Ähnlichkeit […] und Differenz […] sowie zwischen Symmetrie […] und Asymmetrie« schwanke (S. 140). Der fehlende Freund weise zum einen auf Selbstbezogenheit hin, sei als »sublimierte Autoerotik« (S.149) zum anderen ein Gegenstand des eigenen Narzissmus. Der Freund besetze den Ort der Gleichzeitigkeit von Identität und Differenz, er sei »Ich und ein Anderer« (S. 159) und damit ein »Relais für den Selbstbezug« (S. 160).

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Einen ganz konkreten Fall der Freundschaft untersucht Avital Ronell, deren Beitrag nicht dem Symposium entsprang, sondern die Übersetzung eines Teiles ihres Buches The Test Drive darstellt. Sie schlägt dabei eine Lesart von Nietzsches Bruch mit Wagner vor, die eine spezifisch Nietzsche’sche »Politik des Schlussmachens« illustriere. Nietzsche ist in Ronells Lesart ein ›höflicher‹ Angreifer, der Wagner nicht persönlich, sondern ethisch attackiert, denn der Komponist stelle einen Probe-›Fall‹ der Dekadenz dar. Nietzsches Verständnis von Freundschaft entspricht insofern keinem landläufigen Verständnis – und notabene auch keinem, wie Siegel es herausstellt:

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Nietzsche wusste, was Freundschaft ist, er verstand und nährte sie, artikulierte sie, lebte sie, und eben das ist der Grund, warum seine Politik des Schlussmachens so scharf ist. Das Ende war der Freundschaft eingeschrieben als deren eigenste Möglichkeit und endlicher Grund (S. 183).
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Nietzsches »Ehrenkodex des Angriffs« (S. 174) sei eher der Ausdruck eines Anti-Narzissmus, der die Bereitschaft zur völligen Einsamkeit in sich schließe und damit den Identifizierungsmechanismen der Freundschaft einen doppelten Boden einbaue.

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Fazit

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Der Versuch des Sammelbandes, Narzissmus nicht als Persönlichkeitsstörung, sondern als Inszenierungsstrategie zu lesen, liefert in den einzelnen Beiträgen eine Reihe von Einzelbeobachtungen und Kontextualisierungsvorschlägen, die für die Forschung impulsgebend sein können: So ließe sich etwa der Minnesang auf der Basis eines Funktionsmechanismus ›narzisstischer Spiegelungen‹ im breiteren Rahmen betrachten, exemplifiziert Kraß’ Aufsatz diesen Mechanismus doch zunächst am Beispiel Heinrichs von Morungen für einen Großteil der Minnedichtung.

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Das Dilemma des Dichters und seiner Begabung im Zusammenhang eines narzisstisch organisierten gesellschaftlichen Feldes könnte sich womöglich in weiteren Künstlerdramen nachweisen lassen. Zumindest liefert Geisenhanslükes Interpretation des Tasso die Möglichkeit, die Problematik des Künstlers nicht nur auf der Basis eines irgendwie gearteten Außenseiters zu sehen, sondern dieser besonderen Rolle auch ein Unvermögen zur Teilnahme an Tauschprozessen kulturellen Kapitals zuzuweisen, dessen einzelne Ausformungen in der Literatur nachzuzeichnen lohnten. Bronfens Vorschlag, Belichtung als Kategorie der Literaturwissenschaft einzuführen, mag zu zusätzlichen Überlegungen einladen. Er lässt jedenfalls den Blick darauf zu, dem Spiel von Licht und Schatten in literarischen Werken mehr Aufmerksamkeit zu widmen und so die Komplexität in der Betrachtung der textlichen Faktur zu steigern. Auch der Vorschlag einer ›Echographie‹ nach Hamilton ließe sich ausbauen oder im Feld von Intertextualitätstheorien bestimmen: Die Frage, wie ein Text sich nicht nur zu anderen Texten verhält, sondern aus diesen zunächst eine Traditionslinie konstruiert, zu der er sich dann in Beziehung setzt, wäre dabei ein Ansatzpunkt.

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Und was lehrt der Band uns Narzissten? Wollte man die Aufforderung des Klappentextes zum Nachdenken über den in sozialen Netzwerken ausgelebten Narzissmus einlösen, so ließe sich festhalten, dass der Computerbildschirm eine Oberfläche vorstellt, in der man sich selber spiegeln kann; dass dabei ›Freundeslisten‹ unersetzlich sind, weil nur diese ermöglichen, einen Bezug zu sich selber zu gewinnen; dass das Einstellen von Fotos den Rezipienten dazu auffordert, eine Geschichte des Preisgebenden zu erfinden; aber auch, dass die Präsentation eines Alter Ego im Internet nur eine weitere Form eines seit der Antike bestehenden Musters ist, sich selbst zu lieben, indem man eine Repräsentation von sich betrachtet.

 
 

Anmerkungen

Ovid: Metamorphosen. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Michael von Albrecht. Stuttgart: Reclam 1994, Buch III, 348, S.149.   zurück