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Schiller - ein Dramatiker des Widerstands

  • Walter Müller-Seidel: Friedrich Schiller und die Politik. »Nicht das Große, nur das Menschliche geschehe«. München: C. H. Beck 2009. 400 S. Gebunden. EUR (D) 29,90.
    ISBN: 978-3-406-57284-5.
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Schillers Zeitgeschichte und unsere Gegenwart.
Der doppelte Kontext
von Müller-Seidels neuem Schiller-Buch

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Walter Müller-Seidels Beschäftigung mit dem Werk Friedrich Schillers reicht bis an die Anfänge seiner wissenschaftlichen Laufbahn zurück: 1949 wurde er in Heidelberg mit der ungedruckt gebliebenen Dissertation über Das Pathetische und Erhabene in Schillers Jugenddramen promoviert – ein Thema, das vor dem Hintergrund der damals gerade erst überwundenen nationalsozialistischen Rhetorik durchaus als brisant, vielleicht sogar als provozierend bezeichnet werden kann. Müller-Seidel ist Schiller treu geblieben, all seiner weit ausgreifenden wissenschaftlichen Interessen und Forschungsgegenstände unerachtet. Seine Mitwirkung an der Schiller-Nationalausgabe, seine Tätigkeit als Herausgeber des Jahrbuchs der deutschen Schillergesellschaft, zahlreiche Editionen, Interpretationen, Vorträge und Aufsätze bezeugen das.

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Müller-Seidels nun erschienenes Schiller-Buch ist alles andere als eine Rekapitulation oder Zusammenfassung seiner früheren Bemühungen um das Werk Schillers; keine Aufsatzsammlung also und keine bloße Summierung. Es beansprucht vielmehr, ein neues Verständnis zum Dichten und Denken Schillers dadurch zu vermitteln, dass es nach der politischen Dimension seines dramatischen Werkes fragt.

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Diese Fragestellung hört sich vergleichsweise harmlos an, und als ›neu‹ wird man sie dann kaum bezeichnen dürfen, wenn man die zahlreichen Inanspruchnahmen Schillers für diese oder jene politische Richtung oder Weltanschauung in der Forschung und Publizistik teilt oder ernst nimmt. Dass der Autor der Räuber, des Wallenstein und des Wilhelm Tell, der Historiker der Rebellionen und der Balladendichter des Handschuh – um nur diese wenigen Beispiele anzuführen – auch ein politischer Autor war, ist oft bemerkt worden und wird kaum ernsthaft bezweifelt werden. Nicht der Tatsache der Präsenz des Politischen selbst in seinem Werk, sondern der Eigenart ihrer Erscheinungsweise, der ethischen und ästhetischen Fundierung dieser Präsenz gilt die Aufmerksamkeit des Buches. Es ist gewissermaßen ein doppelter politischer Kontext, in den Schillers dramatisches Werk gestellt wird: Einerseits ist es Schillers Zeitgeschichte, auf die der Dichter reagiert; und andererseits ist es die jüngere deutsche Geschichte (und hier vor allem die Zeit der nationalsozialistischen Diktatur und ihrer Folgen), vor deren Hintergrund Schillers Werk gelesen wird. Diese doppelte Betrachtungsweise gibt dem Schiller-Buch von Walter Müller-Seidel Seite für Seite Spannung und Bedeutung. Vergegenwärtigt man sich die Verbrechen des Dritten Reiches und die Bemühungen, ihnen entgegenzutreten, dann erhalten die in Schillers Dramen behandelten historischen Stoffe ein ganz neues, aktuelles Gewicht.

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Die zentralen Stichworte:
Tyrannenmord, Todesstrafe, Widerstandsrecht

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Das Buch nimmt seinen Ausgangspunkt von der Hinrichtung Ludwigs XVI. am 21. Januar 1793, auf die Schiller mit Entsetzen reagiert: »Ich kann seit 14 Tagen keine französischen Zeitungen mehr lesen, so ekeln diese elenden Schindersknechte mich an« (SNA 26, S. 183), schrieb er an Körner. Seine Erschütterung resultierte, wie Müller-Seidel entwickelt, aus dem Umstand, dass die Exekution des französischen Königs sich gerade zu der Zeit ereignete, als Schiller damit beschäftigt war, ein »Memoire«, eine Verteidigungsschrift zugunsten des Königs, zu verfassen. Schiller habe, schreibt Müller-Seidel, nichts anderes im Sinn gehabt als einen unblutigen »Gegenentwurf zu der zunehmend blutig verlaufenden Revolution in Frankreich« (S. 11), eine »politische Ästhetik […], die auf einen Akt staatlichen Tötens antwortet« (ebd.); in diesen Zusammenhang gehören die Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, die Müller-Seidel als einen Beitrag Schillers zur notwendigen Bewusstseinsveränderung durch Ästhetik in einer aufgeregten Zeit betrachtet, deren zentrale »Stichworte […] Tyrannenmord, Todesstrafe, Widerstandsrecht oder Menschenopfer« (S. 22) heißen.

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Diese »Stichworte« sind es denn auch, die im Zentrum von Müller-Seidels Schiller-Buch stehen. Ihnen gelten zunächst Müller-Seidels Referate der zeitgeschichtlichen Diskussionen über das Widerstandsrecht und über den Tyrannenmord, soweit sie sich im Blickfeld Schillers abgespielt haben. Da ist von Kants strikter Zurückweisung jedes gewalttätigen Widerstands ebenso die Rede wie von den Einschränkungen dieses Verbots durch die Kantianer Friedrich von Gentz, Anselm von Feuerbach und vor allem durch den von Schiller umworbenen Arzt und Schriftsteller Johann Benjamin Erhard. Dieser widerspricht mit seiner Schrift Über das Recht des Volkes zu einer Revolution (1795) Kant geradezu: »Eine Insurrektion, die aus dem Grunde entsteht, um die Menschenrechte geltend zu machen, ist heilig und ein Triumph der Menschheit« (S. 29).

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Die Traditionsgeschichte des zu Schillers Zeit allgemeinen Interesses an Tyrannen, tyrannischem Verhalten und am unter Umständen legitimen Tyrannenmord behandelt Müller-Seidel zugleich weiträumiger (indem er auf die Tyrannislehre der Antike zurückgreift) und konkreter auf Schillers dichterisches Werk eingehend, indem er diejenigen Balladen Schillers diskutiert, in denen tyrannische Verhältnisse und potentielle Formen des Widerstands gegen sie begegnen. Zum Tyrannenmord komme es indes nirgends. Dieser Befund lässt sich bestätigen und ergänzen. Der zum Spielball eines Tyrannen gewordene Taucher bekennt nach seinen entsetzlichen Unterwassererfahrungen unbelehrt: »Lang lebe der König«, und Die Bürgschaft kann geradezu als eine Mordvermeidungsballade angesprochen werden, wobei die Rührung des Tyrannen durch die Freundschaftstreue des verhinderten Attentäters durchaus Bertolt Brechts Folgerung (in seinem Sonett Über Schillers Gedicht »Die Bürgschaft«) rechtfertigt, wonach am Ende dieser rührbare »Tyrann gar kein Tyrann« gewesen sein könne. Die Schwierigkeit, einen Tyrannen als solchen überhaupt definitiv zu erkennen, erhöht deutlich die Zweifel an der Berechtigung, ihn zu beseitigen. Wenn die Grundsätze der ›Menschlichkeit‹, der ›Humanität‹ jede Form der Lebensvernichtung rigoros zurückweisen, kann es zu keiner Beseitigung von lebensvernichtenden Tyrannen kommen. Wenn aber umgekehrt der Tyrannenmord legitimiert wird, wird die Tötung von Menschenleben der fragwürdigen Definition oder Interpretation dessen überlassen, der den Tyrannen als Tyrannen erkennt. Das ist die aporetische Grundkonstellation in Schillers Dramen, die Müller-Seidel, ihrer chronologischen Entstehung folgend, auf ihre zeitgeschichtlich-politischen Themen hin betrachtet, unter besonderer Berücksichtigung der Darstellung tyrannischer Verhältnisse und des Widerstands gegen sie. »Schillers Dramen ohne die zeitgeschichtlichen Bezüge verstehen zu wollen, kommt mir hermeneutisch verwegen vor«, bekennt Müller-Seidel (S. 20), und nicht zuletzt von daher erklärt es sich, dass seine eigenen Interpretationen dort explizit forschungskritisch angelegt sind, wo solchen ›Verwegenheiten‹ mit Revisionen entgegenzutreten war.

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»In tirannos«: Die Räuber

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Schon in den Räubern wird das Politische, wie Müller Seidel darlegt, in einem erweiterten Sinn thematisch: Denn »In tirannos« sei das Drama in der Tat gerichtet, und das Tyrannische sei »fast gleichbedeutend mit Macht, Machttrieb und dem Willen zur Macht« (S. 83); Macht ihrerseits werde »faßbar als Verfügung Einzelner über andere« (ebd.). Das streben beide Brüder mit freilich sehr unterschiedlichen Mitteln und Zielen an. Der Revoluzzer Karl findet in Müller-Seidel zwar nicht geradezu einen Apologeten, aber doch einen verständnisvollen Anwalt, weil er immerhin eine »Änderung der Verhältnisse« (S. 81) im Sinn habe, während Franz die Inkarnation des Bösen schlechthin sei. Betrachtet man die epochengeschichtliche Repräsentanz der beiden Brüder, so könnte man demgegenüber zu bedenken geben, ob nicht zuletzt doch wohl beide Brüder als Zerrbilder, wenn nicht gar als Perversionen der Aufklärung (Franz) und der Geniezeit (Karl) zu verstehen wären.

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Fiesko: Ein republikanisches Trauerspiel oder
ein Trauerspiel der Republik?

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Eine politische Intention Schillers, die auch auf seine Gegenwart gerichtet ist, lässt sich schon der Gattungsbezeichnung des »republikanischen Trauerspiels« Die Verschwörung des Fiesko zu Genua entnehmen. Das Republikanische ist eine Bezeichnung, deren terminologische und politische Vieldeutigkeit Schiller in seinem Drama ebenso entfaltet wie die vielfältige Rede von dem oder den Tyrannen, die getötet werden sollen. Schiller betreibt Sprachkritik am für solche Zwecke ungewöhnlichen Ort, dem Drama, wie Müller-Seidel mit Recht bemerkt, und diese Sprachkritik fördert durchgehend Ambivalenzen zutage, die es nicht erlauben, das Stück als ein uneingeschränktes Plädoyer für die Ausweitung republikanischer Freiheiten zu lesen. Könnte man nicht eher mit Hans Heinrich Borcherdt von einem »Trauerspiel der Republik« 1 sprechen? Es gibt in diesem republikanischen Trauerspiel keine untadeligen Republikaner. Am besten kommen bei Müller-Seidel im Hinblick auf die »Entfaltung republikanischen Denkens« (S. 99) noch die Handwerker weg, die Fiesko zum Widerstand gegen die Dorias gewinnen wollen; aber sind sie nicht für den gewieften Taktiker Fiesko nur ein Spielball, den er leicht in eine andere Richtung lenken kann? Und selbst Verinna ist mit Fieskos Worten als Republikaner »hart wie Stahl«, ein Ideologe, dessen Mordtat Müller-Seidel unverblümt »Meuchelmord« (S. 97) nennt. Aber die Ermordung Fieskos war ja bekanntlich nicht die einzige ›Lösung‹, die Schiller für sein Drama gefunden hat. Zwar hält auch Müller-Seidel die verschiedenen Fassungen für »legitim« (S. 96), doch in seinem Argumentationsgang setzt er sich nur mit der Buchfassung des Dramas auseinander, in der es zum Mord an Fiesko kommt, was Müller-Seidel einen »Rückfall in barbarische Zeiten« (S. 102) nennt. Die verschiedenen Fassungen des Dramas könnten indes, zumal im Hinblick auf den Schluss, nicht nur Schillers Theaterrücksichten, sondern auch eine gewisse ›politische‹ Unentschlossenheit Schillers zu erkennen geben. Das zumindest machte sich Carl Martin Plümickes rührselige »Verhunzung« (ein Ausdruck Schillers) des Dramas (ohne Mordtat, aber mit der Selbsttötung Fieskos) zunutze, die zu Schillers Lebzeiten öfter gespielt wurde als eine der Fassungen des Dichters. Doch davon spricht Müller-Seidel nicht.

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Ist das »bürgerliche Trauerspiel« Kabale und Liebe unpolitisch?

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Das »bürgerliche Trauerspiel« Kabale und Liebe erhält in Müller-Seidels Abhandlung kein eigenes Kapitel; man muss wohl annehmen, dass er es für seine Fragestellung für nicht relevant oder jedenfalls für nicht ergiebig genug hält. Dabei kann die zumindest auch politische Thematik des Stückes kaum zweifelhaft sein, wobei nicht nur an die berühmte Soldatenverkaufs-Szene zu denken wäre, sondern auch an den gewissermaßen sozialgeschichtlichen Befund Schillers, demzufolge die historisch längst fällige Überschreitung, wenn nicht gar Überwindung der Ständeschranken an den Bindungen scheitert, die beide Protagonisten (nicht nur Luise, sondern auch Ferdinand) in ihre Liebesbeziehung einbringen: die Bindung ans Bürgertum und die Bindung an den Adel. Freilich geht es hier nicht um Tyrannenmord. Doch Kritik an absolutistischen Verhaltensweisen und Handlungen lässt sich durchaus beobachten, und sogar Müller-Seidels vermutliches Ausschlusskriterium, wonach nur ›Geschichtsdramen‹ im engeren Sinne (solche nämlich, die auf historische Geschehnisse Bezug nehmen) betrachtet und erörtert werden, muss im Fall von Kabale und Liebe nicht unbedingt in Anspruch genommen werden, denn die historische Situation des sich, wenngleich vergeblich, zu seinem Selbstbewusstsein entwickelnden Bürgertums ist dem Drama von Luise und Ferdinand durchaus zu entnehmen.

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Don Karlos: Rechtfertigt der Kampf gegen den Despotismus seinerseits Despotismus?

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Mit dem Don Karlos greift Schiller die Verschwörungsthematik (nach dem Fiesko) erneut auf. Hier geht es um die Befreiung der Niederlande von der Fremdherrschaft (= Tyrannenherrschaft) der Spanier. Müller-Seidel richtet den Blick zunächst hauptsächlich auf Marquis Posa, der diese Befreiung zu seiner Sache macht und dabei nun seinerseits despotische Züge entwickelt, ohne doch selbst zum Despoten zu werden. Das weist Müller-Seidel in ausdrücklicher Auseinandersetzung mit jüngeren Forschungspositionen und vor dem Hintergrund der Briefe über Don Karlos nach, ohne zu verkennen, dass »der Kampf gegen den Despotismus in den verschiedensten Lebenskreisen seinerseits Despotismus freigesetzt hat« (S. 110). Selbst die wichtigsten Zwecke für die menschliche Gesellschaft rechtfertigen nicht den Einsatz aller Mittel. Das zielt auf die Inquisition, die, wie sich herausstellt, Philipp II. in der Hand hat, und es zielt auf die von ihm geforderte Zustimmung zur Opferung seines Sohnes um der vermeintlich größeren Sache willen. Dieses Argumentationsmuster – der höhere Zweck legitimiert sogar das Menschenopfer – wirkt bis in unsere Zeit hinein verhängnisvoll fort oder wird jeweils wieder reaktiviert, wenn es, beispielsweise, um die Eugenik geht oder um die sogenannten Humanexperimente. – Auf die erneute Diskussion der viel erörterten, gut erforschten und selbstverständlich zum Gegenstandsbereich des Themas ›Schiller und die Politik‹ gehörenden ›Gedankenfreiheit‹ verzichtet Müller-Seidel.

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Wallenstein: Die neue Kategorie des Menschlichen

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Die Wallenstein-Trilogie betrachtet Müller-Seidel vorwiegend unter dem Aspekt von Veränderungen. Es geht dabei zunächst um Veränderungen des Bildes von Wallenstein im Vergleich zu Schillers Darstellung in seiner Geschichte des Dreißigjährigen Krieges; um Veränderungen darüber hinaus, die sich im Charakter Wallensteins im Verlaufe des Dramas zeigen: Zunehmend wird aus dem wegen seiner Tatkraft bewunderten Helden der nachdenkliche, reflektierende, zweifelnde, zaudernde »Möglichkeitsmensch« (S. 129); um Veränderungen schließlich, die einen durch die Französische Revolution ausgelösten »Wandel in Geschichte und Gesellschaft« (S. 133) anzeigen. Dieser weitreichende Wandel schließt eine partielle Rehabilitation Wallensteins ein: Er sei nicht einfach nur ein »schwankender« Charakter, sondern entwickele sich von offensichtlichen Willkürakten (Tötung eines unschuldigen Soldaten) über die Fähigkeit zur tiefempfundenen Erschütterung und Trauer über den Tod des Max Piccolomini zu einem um Erkenntnis und Selbsterkenntnis ringenden Menschen. Es ist die Kategorie des Menschlichen, die er sich erwirbt, und der jüngere Piccolomini hat wesentlichen Anteil daran. Von ihm, Max Piccolomini, stammt denn auch die Formulierung, die Müller-Seidel seinem Buch zum Untertitel gegeben hat: »Nicht das Große, nur das Menschliche geschehe« (SNA II, S. 490). Von daher erscheint die Tötung Wallensteins durch Buttler als tragischer Irrtum und als »Meuchelmord« (S. 123) zugleich.

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Maria Stuart: ein Drama der Rechtskritik

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Das Trauerspiel Maria Stuart ist oft als Musterbeispiel klassischer Formvollendung in Anspruch genommen und bewundert worden. Dass eine solche Betrachtungsweise geradezu als »Verdrängung« (S. 148) bezeichnet werden muss, weil darüber die »zahlreichen Fälle von Mord, Hinrichtung oder anderen Tötungsdelikten« (ebd.) vergessen werden, die das Drama durchziehen, legt Müller-Seidel nahe, um im Gegenzug seine These zu entwickeln, wonach es sich bei Maria Stuart um ein »Rechtsdrama«, genauer: um ein »Drama der Rechtskritik« (S. 149) handele. Willkür- und Fehlurteile, Rechtsverdrehungen, Folterungen, Tötungen im Namen der ›Staatsraison‹ bestimmen den Gang der Handlung, so dass die Rede vom »Läuterungsdrama« (S. 157) und von der Entwicklung der schottischen Königin zur ›schönen Seele‹ »nur die halbe Wahrheit« (ebd.) enthält. »Im Gewand des historischen Dramas versteckt Schiller hochbrisante Zeitbezüge«, ja er spreche sogar »eine Art Geheimsprache« (S. 153), wenn er den Prozeß gegen die schottische Königin mit dem Vokabular des französischen Königsmord-Prozesses des Jahres 1793 verbalisiert: »In Maria Stuart wird dem französischen Königsmord-Prozeß in literarischer Form der Prozeß gemacht« (ebd.). Verhandelt wird ein Justizmord.

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Vom Innewerden des Humanen: Die Jungfrau von Orleans

Die Fremdherrschaft der Engländer in Frankreich, ihrem Vaterland, so führt Müller-Seidel aus, wird von Johanna als Tyrannenherrschaft empfunden. Davon will sie ihr Vaterland befreien. Sie will es zur Selbstbestimmung führen, wodurch auch das »soziale Los seiner Bürger« (S. 166) verbessert werde. Das Vaterländische ist hier also an soziales Denken gebunden. Es ist »eine Form der Humanitätsidee« (S. 166). Das Menschliche durchzusetzen, setzt allerdings im Sinne einer tragischen Dialektik eine vorübergehende Anwendung von Unmenschlichkeit voraus. Anfangs erweist sich Johanna als eine »chauvinistische Furie« (S. 167). Aber allmählich setzt ihr Erkenntnisweg ein, der sie zur Einsicht in die »menschliche Bestimmung« und zum »Innewerden des Humanen« (ebd.) führen wird. Entscheidend ist hierfür die Szene der Begegnung mit Lionel, in der sie ihm ins Angesicht schaut. Müller-Seidel sieht hier eine »Poetik des spontanen Sicherblickens mit weitreichenden Folgen« (ebd.) am Werk: Sie kann ihn nicht töten und gelangt zur Selbsterkenntnis, die sie vom Sendungsbewusstsein mit Tötungsgebot Abstand nehmen lässt. Allerdings wird deutlich, dass Schiller in diesem Drama nicht mehr (wie in den vorangegangenen Dramen) die »Schäbigkeit des Tötens und Mordens« (S. 170) herausstellt, sondern Johanna im Widerstand gegen die Fremdherrschaft »einen gewissermaßen gerechten Krieg« (S. 170) führen lässt: Der Krieg wird bejaht, damit Menschlichkeit und Autonomie der Kunst künftig wieder ins Recht gesetzt werden können.

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Die Braut von Messina:
»insgeheim ein Widerstandsdrama«

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In mancher Hinsicht ist Die Braut von Messina Schillers künstlerisch kühnstes Drama, weil sich darin nichts als das erweist, was es zu sein scheint: Das vom Chor mehrfach apostrophierte »Schicksal« ist nicht wirklich ein Schicksal, sondern persönlich zu verantwortende Schuld der Protagonisten, der Chor selbst ist keine das Geschehen verläßlich kommentierende oder gar bewertende Instanz, sondern eine in sich widersprüchliche Gruppierung von Opportunisten und willfährigen Rechtfertigern tyrannischer Verhältnisse. Die Braut von Messina ist »ein Drama des Tyrannentums«, das auf Fremdherrschaft gründet, und damit ein »eminent politisches Drama« (S. 185). Es gibt keine Identifikationsfiguren oder gar »Helden« und kaum eindeutige Hinweise, die darauf schließen ließen, wo der Autor Schiller sich mit den vorgebrachten Vorstellungen, Meinungen, Wertungen zu Wort meldet. »Man darf ganz sicher sein, daß Schiller […] nicht sagt, was er meint, sondern seine Personen sagen läßt, was dem eigenen Denken widerspricht« (S. 191), heißt es bei Müller-Seidel. Mit anderen Worten: Hier ist ein betont dialektisches Drama entstanden, ein Drama, dessen Wortlaut nicht ohne weiteres zu trauen ist und das gerade dadurch »indirekt […] Widerstand« hervorruft. Pointiert sagt der Verfasser am Ende seiner Interpretation: »Weil Widerstand unterbleibt und unterblieben ist, ist Schillers antikisierendes Trauerspiel Die Braut von Messina insgeheim ein Widerstandsdrama« (S. 192).

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Wilhelm Tell – ein antinapoleonisches Widerstandsdrama

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Das gilt erst recht für den Wilhelm Tell. Auf die Erörterung dieses Schauspiels läuft die Folge der Interpretationen zu, die nach dem Politischen im Allgemeinen und nach dem Recht und der Pflicht zum Widerstand bis hin zum Tyrannenmord im Besonderen fragen. Dass sich Schiller bei der Darstellung des klassenübergreifenden eidgenössischen Widerstands gegen die tyrannische Fremdherrschaft und der Wiederherstellung eines demokratisch-republikanischen Vaterlands von den Ideen der Französischen Revolution leiten ließ, steht für Müller-Seidel fest; ebenso freilich, dass die auf dem Rütli vereinbarte Absage an jegliches Blutvergießen zugleich eine Absage an diese Revolution bedeutet - »die Praxis der Revolutionäre in Paris« (S. 199) werde damit verworfen; es handele sich um ein antijakobinisches Drama. Tells Mord-Tat sei deutlich als Privatsache motiviert und – wegen ihrer Vorsätzlichkeit – keineswegs als Notwehr zu qualifizieren; der Tyrannenmord sei aber gleichwohl (hier folgt Müller-Seidel dem Strafrechtler Günther Spendel) gerechtfertigt als vertretbare Form des Widerstandsrechts (S. 201), vergleichbar dem Attentat des Grafen von Stauffenberg. Der »doppelte Kontext«, in den Müller-Seidel seine gesamte Schiller-Deutung stellt – die Zeitgeschichte Schillers und die Zeitgeschichte des Interpreten – wird hier besonders prägnant sichtbar.

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Was die Zeitgeschichte Schillers angeht, so stellt Müller-Seidel mit großem Nachdruck fest: »Die zweifellos wichtigsten Zeitbezüge gelten der damaligen Schweiz« (S. 208), also der Helvetischen Republik, die »von Bonaparte zunächst favorisiert und später liquidiert« (S. 210) worden sei, womit auf Napoleons Mediationsakte (1803, im Jahr der Hauptarbeit Schillers am Wilhelm Tell) angespielt wird. Wie konkret Schiller auf diese Vorgänge reagiert hat, geht aus dem von Müller-Seidel zitierten Brief an Wilhelm von Wolzogen vom 27. Oktober 1803 hervor, in dem er bemerkt:

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»auch bin ich leidlich fleißig und arbeite an dem Wilhelm Tell, womit ich den Leuten den Kopf wieder warm zu machen gedenke. Sie sind auf solche Volksgegenstände ganz erpicht und jetzt besonders ist von der schweizerischen Freiheit desto mehr die Rede, weil sie aus der Welt verschwunden ist« (SNA 32, S. 81).
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Zur Ergänzung der von Müller-Seidel angeführten Zeitbezüge könnte auf folgende Begebenheit verwiesen werden: Schiller hat vorübergehend ernsthaft daran gedacht, sein Drama in den Dienst derjenigen Schweizer zu stellen, die die anstehende 500-Jahrfeier des Rütli-Schwurs im Jahre 1807 zu einer machtvollen Widerstandsdemonstration gegen die napoleonische Beherrschung der Schweiz nutzen wollten. Die entsprechende Anfrage des Schriftstellers Johann Georg Albrecht Höpfner aus Bern, die ihn über Friedrich Justin Bertuch erreichte, beantwortete Schiller überaus entgegenkommend mit der Versicherung, dass »dieses große Jubilaeum der schweitzerischen Eidgenoßenschaft (…) auch für mich ein erfreuliches Fest seyn werde, wenn es dereinst zur Ausführung kommt« (SNA 32, S. 136). 2 Umgehend bat Schiller seinen Verleger Cotta, dem Initiator des Vorhabens, den Wilhelm Tell bei dieser Gelegenheit zur Aufführung zu bringen, eine Abschrift des Dramas zukommen zu lassen: »Man darf allerdings diese gute Gesinnung der Schweizer nicht gleichgültig ansehen, und ein Misbrauch ist unter disen Umständen nicht wohl zu fürchten« (SNA 32, S. 136), 3 schrieb Schiller an Cotta. Der, ein großer Bewunderer Napoleons, riet seinem Autor jedoch am 6. Juli 1804 nachdrücklich von dieser Unternehmung ab; der Initiator Höpfner sei stets zu »Windbeuteleien« und zu »dummen Streichen« aufgelegt, wie er aus sicherer Quelle (Paul Usteri) wisse; er selbst kenne ihn als einen »elenden Menschen«, und Schiller würde sich nur kompromittieren, wenn er sich auf Höpfners Vorschläge einließe. (SNA 40, S. 223). So unterblieb diese Aktion, und Höpfner erhielt keine Abschrift des Dramas. Dennoch zeigt diese Affäre, dass Schiller durchaus bereit war, mit seinem Tell-Schauspiel Partei zu ergreifen, und dass es die antinapoleonische Partei war, deren vaterländischen Freiheitskampf er auf diese Weise zu unterstützen gedachte.

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Diese (übrigens nicht restlos aufgeklärte) Episode, die auch in der jüngeren Schiller-Forschung weithin unbeachtet geblieben ist, hätte eigentlich gut zu Müller-Seidels Hinweisen auf die zeitgeschichtlichen Bezüge des Dramas gepasst, zumal auf zwei jüngere Arbeiten (von Thomas Höhle und Hans-Jörg Knobloch), die sich mit der Helvetischen Republik als dem zeitgeschichtlichen Hintergrund des Wilhelm Tell befassen, 4 verwiesen wird.

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Damit schließt Müller-Seidel den analytischen Durchgang durch Schillers Dramenwerk. Er führt dabei nicht nur eine Fülle von bisher unbeachteten Interpretationsaspekten zu dem Themenkomplex ›Schiller als politischer Dichter‹ zutage, sondern gibt vor allem seiner zentralen These die stabile Basis: Die in Schillers Dramen verhandelten Themen der Fremdherrschaft, der Verteidigung des Vaterlands, der Gegenwehr gegen diktatorische und tyrannische Verhältnisse vom Widerstand bis zum Tyrannenmord erklären sich in ihrer zeitgeschichtlich-politischen Relevanz erst vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund. Dass Schiller sie mit einer dezidiert antinapoleonischen Stoßrichtung behandelt, unterliegt danach kaum mehr einem Zweifel. Die sich aus dieser These ergebenden werkübergreifenden Fragen und Probleme der Entwicklung, Ausdehnung und Rezeption des schillerschen Geschichts- und Menschenbildes diskutiert Müller-Seidel in den sich anschließenden Kapiteln.

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Warum wird Napoleon von Schiller nie beim Namen genannt?

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Die napoleonische Zeit, ja Napoleon selbst ist in Schillers Dramen nicht erst im Wilhelm Tell gegenwärtig. Dennoch begegnet der Name Napoleons bei Schiller an keiner Stelle – ein merkwürdiger und bemerkenswerter Befund! Müller-Seidel nennt das »Das Verschweigen einer Gegnerschaft« (S. 212). Vielleicht hätte es besser heißen sollen: »Das Verschweigen des Gegners«, denn Schillers Gegnerschaft gegen den Erscheinungsformen einer tyrannischen Herrschaft machen schon die vorangegangenen Dramenanalysen offensichtlich, ohne den Herrscher selbst bei seinem Namen zu nennen. Doch warum ist das so? Die Antwort fällt differenziert, aber auch ein wenig spekulativ aus. Vom allgemein gebräuchlichen andeutenden »Zeitstil« (S. 220) ist die Rede, der mit der Fähigkeit des Lesers rechnet, die Andeutungen zu entschlüsseln; vom Horen-Programm, das direkte tagespolitische Aktualitäten ausschloss; von Goethes Bewunderung Bonapartes, der Schiller möglicherweise nicht ausdrücklich widersprechen wollte. Doch wie immer sich das Verschweigen des Namen Napoleons erklären mag, sein tyrannisches Herrschaftssystem bleibt nach Auffassung Müller-Seidels in Schillers Dramen seit dem Wallenstein doch als Zeitbezug und als Grund seiner Gegnerschaft erkennbar.

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Viele Gesinnungsfreunde hatte Schiller zu seiner Zeit nicht

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Viele Gesinnungsfreunde hatte Schiller im Hinblick auf die Gegnerschaft zu Napoleon zu seiner Zeit nicht. Diesen napoleonkritischen »Gesinnungsfreunden«, zu denen der Dichter in mehr oder weniger enger persönlicher Beziehung stand, ist ein eigenes Kapitel gewidmet. Zu ihnen werden auch Germaine de Staël und Benjamin Constant gezählt, die 1803 Weimar besuchten und dort allerdings in Goethe und Schiller völlig unpolitische, allein ihren idealistischen Vorstellungen verpflichtete Philosophen sehen wollten. Auch Friedrich von Gentz, der Schiller bewunderte, wird als Gesinnungsfreund genannt und schließlich Wilhelm von Humboldt, dessen kulturpolitischem Wirken (einschließlich der Berliner Universitätsgründung) Müller-Seidel ein außerordentlich eindringliches Porträt widmet. »Die Übereinstimmung mit Schiller in der Gegnerschaft zu Napoleon kann hinfort nicht zweifelhaft sein« (S. 239).

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Schillers neue Themen seit dem Wallenstein

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Im anschließenden Kapitel geht es, teils auf die Einzelinterpretationen zurückblickend, teils sie weiterführend, um die »neuen Themen«, die sich in Schillers dramatischem Werk seit dem Wallenstein beobachten lassen; sie können einerseits als das Resultat seiner Gegnerschaft gegen Napoleon verstanden werden und liefern andererseits die Begründung für diese Gegnerschaft. Zu diesen Themen gehört

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1. die Darstellung des großen, charismatischen Feldherrn, der von seinen ihm ergebenen Soldaten als Abgott bewundert wird, obwohl er sie als ihr Führer zum Töten verführt.

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2. Das Thema Vaterland und Patriotismus, das Schiller nun emphatisch aufgreift; es impliziert Widerstand gegen Bedrohungen von außen und Einheitsstreben und hat mit völkischem Nationalismus und Chauvinismus nichts zu tun.

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3. Die Thematik des Friedens. Die vielfach bezeugte Apostrophierung Napoleons als des europäischen Friedensbringers teilt Schiller nicht. Stattdessen beherrschen zunehmend geschichtspessimistische Töne sein Werk, sogar in dem Gedicht, das man meist mit dem Frieden von Lunéville in Verbindung bringt: Der Antritt des neuen Jahrhunderts.

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4. Der Themenkomplex von Selbstbestimmung und Fremdbestimmung. Schiller hält an dem aufklärerischen Postulat der Selbstvollendung des Menschen durch Selbstbestimmung fest und politisiert es unter dem Eindruck der napoleonischen Eroberungskriege und Fremdherrschaften: Auch die Völker, nicht nur die Individuen haben unter diesen Umständen das Recht auf Selbstbestimmung und die Pflicht zum Widerstand, wo ihnen dieses Recht genommen wird.

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5. Das Thema der Tyrannei und Despotie, das sich bei Kleist und E.T.A. Hoffmann (Die Vision auf dem Schlachtfelde bei Dresden) explizit, in Schillers Wilhelm Tell nicht weniger drastisch, aber ohne Namennennung auf Napoleon bezieht. Müller-Seidel spricht von einer »Rückkehr des Tyrannen im Zeichen Napoleons« in Schillers Werk (S. 278), insbesondere im Wilhelm Tell. Im Zeichen der Mythisierung Napoleons im 19. Jahrhundert hatte man für Schillers Dramen des Widerstands gegen Napoleon wenig Verständnis, wie ein Blick auf die Rezeptionsgeschichte des Wilhelm Tell zeigt.

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Zur Rezeptionsgeschichte des Wilhelm Tell

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»Schillers Dramen liegen nicht auf dieser Linie der Bewußtseinsgeschichte des 19. Jahrhunderts« (S. 281), stellt Müller-Seidel mit Blick auf die Rezeptionsgeschichte am Beispiel des Wilhelm Tell fest; denn in dieser Zeit schwinde in Deutschland das Interesse am Widerstand gegen Tyrannei, und das Bild des Tyrannen Napoleon wandle sich zum Mythos vom großen, bewunderten Individuum. Hella Mandt, an die Müller-Seidel hier referierend anschließt, erläutert die zunehmende Erblindung gegenüber Tyrannentum und Widerstandsrecht im 19. Jahrhundert am Beispiel von Hegels Rechtslehre, von Treitschkes Vorlesungen zur Politik und von Max Webers Herrschaftstypologie. Der sich anschließende knappe Abriss der Geschichte der Aufführungen des Tell-Dramas zeigt, dass erschreckenderweise dort die Brisanz dieses Widerstandsdramas genauer erfasst wurde, wo Aufführungsverbote ausgesprochen wurden, während in aller Regel die Umdeutungen des Stückes zu einem Vaterlandsdrama Verharmlosungen gleichkommen. Mit gebotener Vorsicht, aber spürbar ambitioniert geht Müller-Seidel dem »inneren Zusammenhang« nach, der zwischen dem Hitler-Attentäter Graf Stauffenberg und dem George-Kreis besteht, einem Zusammenhang, »in dem auch Schiller seinen Ort hat«. »Der Vergleich mit der Tat Wilhelm Tells drängt sich auf« (S. 290).

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Der Mythos Napoleon

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Die allgemeine Erblindung gegenüber dem Tyrannen Napoleon korreliert mit seiner Mythisierung als großem Menschen. Die Geschichte dieser Mythisierung, die Barbara Beßlich beschrieben hat, nennt Müller-Seidel aufgrund ihrer Allgemeingültigkeit nahezu unglaublich und »atemberaubend«. Diese Geschichte wurde fast ausnahmslos kultiviert von Hegel, Ranke, Treitschke, Mommsen und auch von Gundolf. Auf Schiller können sich alle diese Heroisierungen nach Müller-Seidels Auffassung nicht berufen: »Die vielfach unbegrenzte, unkritische und gedankenlose Verehrung für die großen Individuen in der Welt, nicht selten jenseits ethischer und moralischer Maßstäbe, ist eine dieser Tendenzen, gegen die sich Schillers Dramen darstellend verwahren« (S. 300).

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Schillers Absage an den »großen Menschen«

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Solche Relativierung historischer Größe bei gleichzeitiger Zuwendung zu denen, die unter den Verhältnissen zu leiden haben, ist im 19. Jahrhundert nicht häufig anzutreffen, doch wo sie, sei es in dichterischen Werken oder in der Historiographie, zu finden ist, beispielsweise bei Georg Büchner oder in Jakob Burckhardts Weltgeschichtlichen Betrachtungen, da sieht Müller-Seidel »Wegbereiter der Moderne« (S. 305) am Werk. Schiller gehört nicht von Anfang an uneingeschränkt zu ihnen. In seinem dramatischen Jugendwerk zeigt er sich noch fasziniert von jeglicher Größe, auch von derjenigen, die von Grund aus böse ist. Doch spätestens seit dem Don Karlos setzt eine kritische Betrachtungsweise menschlicher Größe ein, und in der Maria Stuart wird es heißen: »Nicht Größe lockt mich mehr«. Die großen Menschen mögen für den gedeihlichen Fortgang der Geschichte unentbehrlich sein, doch menschliche Größe kann leicht umschlagen in Unmenschlichkeit. Die Unvereinbarkeit von menschlicher Größe mit Menschlichkeit erweist sich als der tragische Grundton im Wallenstein-Drama; sie ist der Ausdruck einer prinzipiell unauflöslichen Disharmonie menschlichen Lebens im Denken und im Handeln. Daraus folgert Müller-Seidel: Die klassische »Humanitätsidee hat einen tragischen Untergrund« (S. 324).

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Humanität –
Wo getötet wird, kann von Humanität nicht die Rede sein

Dem Begriffsfeld der Humanität und Menschlichkeit gelten die abschließenden Überlegungen Müller-Seidels. Die Geschichte des ideologischen Missbrauchs dieser Begriffe zu den unterschiedlichsten Zwecken ist von heute aus leichter darzulegen als jeder Versuch einer Ehrenrettung der Humanität. Zum entscheidenden Kriterium für die Verwendbarkeit des Begriffs der Humanität macht Müller-Seidel das Töten: Wo getötet wird, kann von Humanität nicht die Rede sein. Das gilt prinzipiell für alle Tötungsarten, also für die Todesstrafe ebenso wie für die Euthanasie, für den Tyrannenmord wie für das sogenannte »humane Sterben«, für das Menschenopfer wie für die Opfer von Kriegen. Mit einem bekenntnishaften Plädoyer für die Achtung und Bewahrung des Menschenlebens unter allen Umständen sowie mit Überlegungen zur Epochenverwandtschaft zwischen Schiller und der Moderne beschließt Müller-Seidel sein bewunderungswürdiges Buch.

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Resümee

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Man kann Müller-Seidels Buch eine Apologie Schillers nennen, doch man muss sogleich hinzufügen: den Schiller, dem hier eine Apologie zuteil wird, kannte man bisher nicht oder allenfalls ansatzweise. Es ist der Schiller, der sein dramatisches Werk in Auseinandersetzung mit den großen politischen Ereignissen seiner Zeit, also vor allem mit der Französischen Revolution und der despotischen Herrschaft Napoleons entwickelt hat. Aus diesem geschichtlichen Kontext erwachsen die Themen, die in Schillers Dramen verhandelt werden: Verschwörungen, Widerstandshandlungen, Mord und Tyrannenmord. Diese Themen haben sich seither nicht erledigt, sie sind vielmehr vor dem Hintergrund jüngerer Diktaturen in Deutschland eher noch dringlicher geworden, und dieser Hintergrund ist in Müller-Seidels Schiller-Buch jederzeit präsent; daraus bezieht es seine brennende Aktualität.

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»Schiller und die Politik« – in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wurde diese Verbindung als geradezu anstößig empfunden, wie beispielsweise die Bücher und Aufsätze von Benno von Wiese, Fritz Martini und Horst Rüdiger zeigen. »Tells Tat liegt außerhalb des politischen Bereichs«, dekretierte etwa Horst Rüdiger, 5 und in der marxistischen Literaturwissenschaft wurde Schiller wenn nicht als Kampfgenosse, so doch als Sympathisant sozialistischer Gesellschaftsverhältnisse interpretiert. Es spricht für die souveräne Position Müller-Seidels oberhalb einstiger Fronten, dass er Schiller weder auf dem Weg sieht, der in die Idyllik führt, noch auf jenem, der auf den Barrikaden endet. Doch ist daraus nicht zu schließen, Müller-Seidel huldige einer kompromißlerischen Ausgewogenheit; im Gegenteil! Er führt die Forschungsdiskussion temperamentvoll und mit großer Entschiedenheit weiter, er argumentiert differenziert, aber stets zielorientiert und findet nicht selten zu thesenhaften, pointierten Formulierungen. Vor allem aber ist das Buch getragen vom Ethos der Verantwortung des Wissenschaftlers gegenüber seinem Gegenstand, gegenüber der Geschichte und Gegenwart und denen gegenüber, die er mit ›seinem‹ Schiller bekannt machen möchte: mit einem Schiller, den die Auseinandersetzung mit der Politik seiner Zeitgeschichte zu einem Paradigma der Moderne hat werden lassen.

 
 

Anmerkungen

Friedrich Schiller: Theater-Fiesko. Die letzte neuaufgefundene Fassung der Verschwörung des Fiesko zu Genua. Hg. von Hans Heinrich Borcherdt. Weimar: Böhlau 1952, S. 9.   zurück
Brief vom 4. Juni 1804 an Friedrich Justin Bertuch, der Schiller den Brief von Höpfner mitgeteilt hatte. Höpfners Brief an Bertuch vom 19. Mai 1804 (SNA 32, S. 476) lag der Anfang einer »Anzeige« mit dem Titel »Wilhelm Tell, von Schiller« aus der von Höpfner herausgegebenen Zeitschrift »Gemeinnützige Schweizerische Nachrichten« (Nr. 80, 19. Mai 1804) bei, in dem u.a. der Vorschlag gemacht wird, mit der »Aufführung dieses Meisterwerks« ein »vaterländisches Jubiläum zu feyern«.    zurück
Diese Formulierung übernahm Schiller dem Brief Höpfners (vgl. Anm. 2), der Bertuch versichert hatte: »Die Art wie wir uns in unserm heutigen Blatt ausdrüken, läßt nicht vermuthen, daß wir hier einen Mißbrauch treiben werden« (SNA 32, S. 476). Ein möglicher »Mißbrauch« würde beispielsweise dann vorliegen, wenn der Autor Schiller damit hätte rechnen müssen, dass sein Drama für einen Aufruf zur revolutionären Volkserhebung instrumentalisiert werden sollte. Daran dachte Höpfner offensichtlich nicht; vielmehr hatte er eine Demonstration des vaterländischen Selbst- und Geschichtsbewusstseins der Schweizer im Sinn, das freilich seinerseits antinapoleonisches Widerstandspotential impliziert.    zurück
Thomas Höhle:Die Helvetische Republik (1798–1803) als zeitgeschichtlicher Hintergrund der Entstehung und Problematik von Schillers Wilhelm Tell. In: Helmut Brandt (Hg.): Friedrich Schiller – Angebot und Diskurs: Zugänge, Dichtung, Zeitgenossenschaft. Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag 1987, S. 320–328. – Hans-Jörg Knobloch: Wilhelm Tell: Historisches Festspiel oder politisches Zeitstück. In: Hans-Jörg Knobloch und Helmut Koopmann (Hg.): Schiller heute. Tübingen: Stauffenberg 1996, S. 151–166.   zurück
Horst Rüdiger: Schiller und das Pastorale. In: Euphorion 53, 1959, S. 28.   zurück