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Erfindung der Nation = Erfindung der 'Zigeuner'

  • Herbert Uerlings / Iulia-Karin Patrut (Hg.): 'Zigeuner' und Nation. Repräsentation - Inklusion - Exklusion. (Inklusion - Exklusion - Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart 8) Frankfurt/M.: Peter Lang 2008. 712 S. Hardcover. EUR (D) 64,00.
    ISBN: 978-3-631-57996-1.
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Repräsentationsproblematiken

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Der letzte Absatz der instruktiven Einleitung zu diesem umfangreichen Sammelband spricht (2008) eine Mahnung aus, deren Dringlichkeit sich anlässlich der Kontroverse um die Ausweisung von Roma in Frankreich und der Wahl der Nationalisten in Ungarn (2010) noch einmal verstärkt hat: Die Herausgeber stellen fest,

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dass in Europa, zumindest im hier untersuchten Mittel- und Osteuropa, die Erfindung der Nation eng mit der Erfindung der Zigeuner verbunden war – mit katastrophalen Folgen für die größte Minderheit des Kontinents – und dass diese Geschichte noch nicht zu Ende ist, sondern vielmehr alles dafür spricht, dass sie sich, wenn sie nicht aufgearbeitet wird und Eingang in das kollektive Gedächtnis aller Beteiligten findet, unter den veränderten Bedingungen eines teilweise post-nationalen Europas fortsetzt. (S. 63)
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Es handelt sich hier um einen Meilenstein der Aufarbeitung, deren Ansatz vielleicht nicht neu, aber deren disziplinäre Breite und methodologische Reflexion ihresgleichen sucht.

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Der Ansatz ist der der Repräsentationsproblematik: Was ist der Zusammenhang zwischen der Repräsentation von ›Zigeunern‹ und ihrer gesellschaftlichen Inklusion und Exklusion? Dreh- und Angelpunkt der Geschichte dieser Repräsentation bildet das moderne, nationale Homogenitätsparadigma, dessen unmittelbare Konsequenz es ist, dass kulturelle Differenz als negativ konnotierte Abweichung, Bedrohung oder Irritation wahrgenommen wurde. Das kommt nicht nur im Antiziganismus zum Ausdruck, sondern auch im Philoziganismus: »Philoziganismus ist nicht selten eine Form des ›einschließenden Ausschlusses‹, der inkludierenden Exklusion« (S. 11) so die Herausgeber.

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Dieser Ansatz ist insofern methodologisch reflektiert, als darauf verwiesen wird, dass der Begriff der Nation mit der Entstehung der Moderne als funktionaler Ausdifferenzierung, die eine vollständige Inklusion der ›Person‹ in die Funktionssysteme nicht mehr erlaubt, eng verbunden ist. Die Mitglieder moderner Gesellschaften werden an Stelle von ›Personen‹ als Funktionsträger in die arbeitsteiligen Systeme inkludiert. Damit ist aber keiner mehr als ›ganz‹ Person inkludiert und die daraus resultierende Fremdheit ist daher systemisch. Dem passiven Gefühl der Selbstentfremdung entspricht die aktive Ausgrenzung von Fremden, sei es auf der Außen- oder wie im Fall der ›Zigeuner‹ auf der Innenseite der Gesellschaft. 1 Der Nationalstaat ist eine Antwort auf diese »Generalisierung der Fremdheit« (Alois Hahn, 14), er kompensiert die durch funktionale Differenzierung bewirkte (Selbst-) Fremdheit. Mit der Erfindung der ›Nation‹ hat sich eine Inklusionssemantik institutionalisiert, deren Kehrseite entsprechend harte Exklusionen sind.

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»Die mit der Nation versprochene ›Inklusion aller in alle Funktionsysteme‹ ist eine unerfüllbare Fiktion.« (16) Deshalb ist das Bedürfnis nach Klärung der Grenzen, nach Unterscheidung zwischen Eigenem und Fremdem unstillbar. Die (fiktive) Nation muss also ständig performativ neu hervorgebracht werden und das erklärt die ständige Ambivalenz im Verhältnis zum äußeren und inneren Fremden und auch die Ambivalenz in der Repräsentation der ›Zigeuner‹.

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Die Erfindung der Nation

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Der Band gliedert sich in sieben Abschnitte: eine beispielhafte Extrapolation inkludierender Exklusion, drei Beiträge zum Verhältnis der Repräsentation von Juden und ›Zigeunern‹, zwei Analysen des Boheme-Diskurses um 1900, vier Abhandlungen zu Erfassung, Verfolgung und Spurensuche, sechs Beiträge zur osteuropäischen Perspektive – naturgemäß ein Schwerpunkt dieses
Bandes –, drei Artikel zu ›Zigeuner‹-Mythen des Alltags wie Wahrsagerei, Hexerei und Kindsraub und schließlich zwei Beiträge zur Repräsentation von ›Zigeunern‹ in Lexika.

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In seinem Eröffnungsbeitrag vergleicht Herbert Uerlings Leni Riefenstahls Film Tiefland und Elfriede Jelineks Stück Stecken, Stab und Stangl, zwei Fälle, in denen – im ersten unausgesprochen, im zweiten ausgesprochen – der Völkermord den Hintergrund abgibt. Uerlings fragt nach dem Zusammenhang von künstlerischer Bildproduktion und ›Erfindung der Nation‹, von ästhetischen und politischen Praktiken, von Kunst und kollektivem Gedächtnis. In Tiefland wird die Figur der Zigeunerin zugunsten der Herstellung eines geschlossenen Volkskörpers am Ende ›angeeignet‹ bzw. zum Verschwinden gebracht. Dabei handelt es sich nicht nur um das exotisierende ›Othering‹, sondern um ein filmästhetisches Pendant zur realen Auslöschung, in welche die Regisseurin durch den Einsatz von Sinti-Komparsen verstrickt ist, die aus Lagern rekrutiert und nach dem Set auch wieder dorthin verbracht wurden. Ironischerweise verkörpern die Sinti-Komparsen spanische Landbevölkerung, während die Figur der Zigeunerin von Riefenstahl selbst verkörpert wurde. Uerlings sieht hier wie nirgendwo sonst den Übergang von Philoziganismus in Antiziganismus, d.h. den Übergang von inkludierender Exklusion in Totalexklusion. Bezeichnend für das kollektive Gedächtnis der Deutschen ist auch, dass Riefenstahls Rehabilitation in den 1990er Jahren gerade bei Tiefland seinen Anfang nahm.

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Elfriede Jelineks Stecken, Stab und Stangl ist eine literarische Reaktion auf die Ermordung von vier Roma im Burgenland im Februar 1995 und entschieden gegen diese Form der »Erfindung der Nation« und das für sie konstitutive Verschwinden der Opfer – hier der ›Zigeuner‹ – gerichtet. Dem Repräsentationsproblem des anderen als ›Angeeignetem‹ versucht Jelinek dadurch zu entgehen, dass sie auf eine Repräsentation von Roma verzichtet und stattdessen nur das Gerede über sie zitiert und sie so als blinden Fleck im Diskurs über das Eigene, d.h. als Erfindung der Nation erscheinen lässt und ausstellt. Uerlings weist aber zu Recht darauf hin, dass diese überzeugende Strategie der Nicht-Repräsentation in das Dilemma gerät, die Stummheit der Opfer zu reproduzieren. Im Stück wird ihre Stimme hörbar durch die Stimme Paul Celans, wodurch die Roma nicht mehr nur bei der Erfindung der Nation, sondern auch auf der poetologischen Ebene zum Verstummen gebracht werden und damit kehrt auch hier, in einem Theatertext, der die mit der Erfindung der Nation verbundenen Exklusionen vorführt, die Figur des einschließenden Ausschlusses wieder.

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Uerlings bemerkt schon zu Anfang dieses Bandes, dass es sich bei der Repräsentationsproblematik um ein doppeltes Paradox handelt: einerseits sei es schwierig »jenen eine Stimme zu geben, die keine haben« (Jelinek), andererseits gehe im Übergang von gelebtem in erzähltes Leben und von erzähltem Leben in ein literarisches Produkt die Authentizität verloren. In Uerlings Extrapolation erscheint solches Sprechen sowohl in seiner Fremd- als auch Selbstbestimmung fragwürdig. Dennoch verweist Uerlings auf Gegenbeispiele und Texte, wie »Denk nicht, wir bleiben hier!« Lebensgeschichte des Sinto Hugo Höllenreiner von Anja Tuckermann, die gerade diese Problematik aufwerfen. Im Übrigen, so Uerlings, verhalten sich Fremd- und Selbstrepräsentation nicht wie wahr und falsch, sondern es gäbe durchaus auch Beispiele für »gelungene Repräsentationen« (S. 21), die quer zu diesen Dichotomien liegen.

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Zigeuner, Juden, Künstler

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Die Beiträge des zweiten Abschnitts befassen sich mit der angeblichen Verwandtschaft von ›Zigeunern‹ und Juden, wobei auch die gemeinsame Verfolgungsgeschichte eine zentrale Rolle spielt (Ulrich Kronauer); mit Gemeinsamkeiten und Unterschieden bei der Repräsentation von ›Zigeunern‹ und Juden – besonders der Kunst-Diskurs im 19. Jahrhundert, der eine wichtige Funktion für die Definition der ›deutschen Nation‹ hatte, konstruiert den idealen, deutschen Staat als Mittel zwischen »jüdischer Über-Religiosität« bzw. »Über-Zivilisation« und »zigeunerischer A-Religiosität« bzw. »bloßer Natur« (Andrea Geier und Iulia-Karin Patrut); sowie mit Wilhelm Raabes sehr differenziertem Umgang mit dem innergesellschaftlichen Fremden (Iulia-Karin Patrut). Raabe greife kollektive Semantisierungen von Juden und ›Zigeunern‹ auf und thematisiere Inklusions- und Exklusionsprozesse. Er kontrastiere, so die Autorin, die zunehmende Ausgrenzung von ›Zigeunern‹ und Juden mit dem offenkundig hybriden Charakter aller Kulturen, auch der deutschen. Er thematisiere Exklusionen als Schuld und interpretiere sie als Form seelischer Verkümmerung. Schließlich entwerfe Raabe ein Konzept von ›Menschlichkeit‹, das die Inklusion aller nicht mit der Aufhebung aller Differenzen verwechsle – was sicher das Gegenteil zeitgenössischer Formen nationaler Selbstkonstruktion bedeutete.

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Die Analysen, die sich dem Boheme-Diskurs des 19. Jahrhunderts widmen, zeigen die Komplementarität von Künstler- und Zigeuner-Diskurs einmal in Hinsicht auf die Konstruktion von ›Asozialität‹ bis hin zu der von ›Degeneration‹ und ›Entartung‹ (Anna-Lena Sälzer). Dann aber auch in Hinsicht auf eine vitalistisch-engagierte Lebensphilosophie bei Carl Hauptmann (Nicholas Saul). Aus der Denunziation des Parasiten werde hier seine Verklärung zur mythisch- messianischen Gestalt. Hauptmann habe hier durchaus eine darwinistische Variante der Zigeunerromantik entwickelt. So unterschiedlich die beiden analysierten Diskursstränge gewichtet sind, die Repräsentation der ›Zigeuner‹, so die Befunde, bleibe rassistisch.

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Im Rahmen der Beiträge des vierten Abschnitts zeigt Juliane Hanschkow in ihrer Untersuchung zur Kriminalisierung und Marginalisierung anhand von Polizeiberichten im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, dass keineswegs klar gewesen sei, wer oder was ein Zigeuner war und dass gerade diese Unstimmigkeiten zu einer immer schärferen rechtlichen Ausgrenzung geführt hätten. In jener Zeit wurden die Voraussetzungen für die ab 1933 erfolgende Umstellung auf einen ethnisch-rassischen, kriminalbiologischen NS-Zigeunerbegriff gesetzt. Mit diesem rassischen Zigeunerbegriff befasst sich Karola Fings, die feststellt, dass die ›Zigeuner‹ zwischen die Mühlsteine einer sich wechselseitig forcierenden Radikalisierung sowohl auf lokaler als auch auf Reichsebene gerieten. Auf der Grundlage der pseudowissenschaftlichen Rassehygiene eines Robert Ritter wurden die ›Zigeuner‹ doppelt stigmatisiert als ›Fremdrasse‹ und als ›gemeinschaftsunfähig‹. In der Nahsicht zeige sich aber, so die Autorin, dass dem eindeutigen, wissenschaftlich gesicherten ›Rasse‹-Konzept ein Durcheinander von persönlichen Überzeugungen, subjektiven Eindrücken und Asozialitätsklischees zugrunde liege und das Konzept so inkonsistent und willkürlich gewesen sei, dass es nicht mehr nachvollziehbar war. Gerade deshalb, weil die Widersprüchlichkeit des Konzepts Handlungsspielräume eröffnet habe, habe man mit der Definition von Zigeunern als ›minderwertiger Rasse‹ willkürlich hantieren können: die Bewegungsfreiheit von ›Zigeunern‹ sei eingeschränkt worden, ›Zigeuner‹ seien präventiv verhaftet und isoliert, deportiert und sterilisiert worden.

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Dass die Beziehungen zwischen Nation und ›Zigeunern‹ innerhalb Europas unterschiedlich sein können, zeigt der Beitrag von Thomas Huonkers, der sich mit den Zigeunern, Jenischen und Heimatlosen in der Schweiz befasst. Klaus-Michael Bogdal interpretiert dagegen den Roman Zoli des Iren Colum McCann, der die Geschichte einer slowakischen Romni von den dreißiger Jahren bis zur Gegenwart wiedergibt. Bogdal konstatiert, der Roman entgehe nicht dem Problem, dass die Bearbeitung von Lebensberichten deren Aussagen verändere. Gefundene und erfundene Geschichten, zusammengefügt zu einer dichten, ethnographischen Beschreibung und der Wunsch, eine individuelle Lebensgeschichte als kollektive Geschichte zu erzählen, führe letztlich zur Entindividualisierung der Hauptfigur und zu ihrer Ethnisierung. Statt mit Authentizität haben wir es hier mit Folklore zu tun.

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Osteuropäische Perspektiven

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Zu den Beiträgen der osteuropäischen Perspektive. Auch der ›Diskursraum Mittel- und Osteuropa‹ ist davon geprägt, dass die Dominanzkultur sich ihren ›Anderen‹ erfindet. Für Mitteleuropa ist das der Osten, für den Osten wird dann je nach Binnenhierarchie der Alteritätsdiskurs reproduziert. Simina Melwisch-Birăescus weist auf aufschlussreiche Umbrüche und Ungleichzeitigkeiten in der österreichisch-ungarischen und rumänischen Wissensproduktion über die ›Zigeuner‹ hin. Einerseits gebe es hier den Rekurs auf deutschsprachige Wissensproduktion, andererseits werde diese anders interpretiert, sodass es auch zu einem philanthropischen Diskurs komme, der die ›Zigeuner‹ zu emanzipieren suche. Anton Holzer befasst sich anlässlich des Mediums Photographie mit Österreichs kolonialem Blickregime auf Osteuropa, das letztlich auf Absonderung und Exklusion der ›Zigeuner‹ zielt. Ähnlich postkolonial motiviert ist die Untersuchung George Guţus, der den Reisebericht des Bischof Raymund Netzhammers analysiert. Wie andere Balkan-Reisende fand auch Nethammer im Osten das Exotische, aber er relativiere seinen hegemonialen Blick, so der Autor, da bei ihm genaues Beobachten und konkretes Erleben die Grenzen vorgefertigter Wahrnehmungsformate infrage stelle. Das Verschieben und Kommentieren solcher Wahrnehmungsformate mit spezifisch literarischen Mitteln in den Romanen von Catalin Dorian Florescus ist der Gegenstand des Beitrags von Markus Fischer. Hier werde die Zigeuner-Thematik zum kryptischen Zentrum der Migrationsproblematik bzw. des prekären Inklusionsverhältnisses, das die Hauptfiguren mit den Zigeunern verbinde.

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Beide Gruppen – Migranten und Roma – stehen quer zur Leitsemantik der ›Nation‹. Dabei fungiert ›Nation‹ immer noch als Inklusionskategorie und kann nicht etwa wie in postkolonialen oder Diskursen der Globalisierung zugunsten einer ›Weltgesellschaft‹ verabschiedet werden. Deshalb befassen sich die Beiträge von Herbert Heuß und Dan Oprescu-Zenda zu Recht mit der Rolle der Roma im Rahmen der aktuellen Politik von OSZE, EU und Weltbank. Hier liegen drei Defizite auf der Hand: Roma werden nicht als Nation anerkannt; Roma werden ungeachtet regionaler Differenzen als Gruppe homogenisiert; auf ihre Geschichte und Lebenswirklichkeit im Osten wird nicht eingegangen. Herbert Heuß kann zeigen, dass sog. ›Desegrationsprogramme‹ z.B. in Bulgarien zu einer verstärkten Segregation führe, weil die deutschsprachige Produktion des Bildes vom ›Anderen‹ übertragen werde.

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Inklusionen

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Die Frage wäre, wie Roma die Formen ihrer Inklusion mitgestalten können. Dieser Frage geht Dan Oprescu- Zenda aus der Doppelperspektive des Wissenschaftlers und aktiven Politikers nach. Er ist der für das Jahrzehnt der Roma-Inklusion zuständige Regierungssekretär in Rumänien. Er unterscheidet zwischen der idealisierten Differenz, die die Segregation noch befördere, und dem auf Assimilation zielenden Gleichheitsgrundsatz, der letztlich die Hegemonialkultur durchsetze. Während Roma-Interessenvertretungen oft die Seite der Differenz betonten, dränge der Staat auf Homogenisierung. Damit seien, so der Autor, die Konflikte vorprogrammiert. Da das Jahrzehnt der Roma-Inklusion unter Federführung der Weltbank konzipiert sei, trete nur der Staat als Akteur auf, während die Roma erneut zum Spielball staatlicher und Kapitalmarkt-Interessen würden. Diesen wichtigen Abschnitt des Bandes zusammenfassend kann man sagen, dass einerseits die Erfindung der Nation das Sichtbarwerden der Roma ermöglicht und ihnen zum Recht auf Staatsbürgerschaft verholfen hat, anderseits wirken quasi-koloniale Strukturen im europäischen Binnenverhältnis bis in die Gegenwart nach.

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Wahrsagerei, Hexerei und Kindsraub sind Mythen der ›alltäglichen‹ Repräsentation der ›Zigeuner‹ – und sie sind von langer Dauer. Im sechsten Abschnitt untersuchen Peter Bell und Dirk Suckow das Handlesemotiv in der Repräsentation von ›Zigeunern‹ in der Kunst des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. Dieses Motiv wurde zu einer Chiffre für ›Zigeuner‹ schlechthin und zwar wohl wegen der in dieser Interaktion selbst begründeten Ambivalenz: Fremden wurde die Deutung des eigenen Schicksals zugetraut. Dabei erscheinen in manchen Darstellungen ›Zigeuner‹ bekehrbar bzw. inkludierbar, in anderen aber samt ihren Klienten als falsch bzw. als zu exkludierende.

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Mit der Repräsentation von ›Zigeunern‹ als mit magischen Fähigkeiten ausgestattet befasst sich Marian Zăloagă. Ihm geht es um eine funktionale Erklärung, weshalb einerseits Magie fremden und dann andererseits Hexerei eigenen Gruppen zugeschrieben wurde. In beiden Fällen handle es sich einmal seitens der dominanten Gruppe um Techniken der Ausgrenzung, wobei es keinen Unterschied mache, ob es sich um positive Magie oder negative Hexerei handle. Dann aber handle es sich seitens der ›Zigeuner‹ auch um ein wichtiges Instrumentarium der Aufrechterhaltung der eigenen Identität. Während Chiromantie und Magie durchaus zum Repertoire der ›Zigeuner‹ gehörte, gibt es für den Kindsraub, wie Stefani Kugler in ihrem Beitrag zeigt, keinen Beleg – wohl aber die staatliche Praxis der Kindeswegnahme, die mit dem Kindes- und Gemeinwohl begründet wurde. Hier wurde aus einem literarischen Mythos (Cervantes, Thomasius) ein ›alltäglicher‹, der dann auch wieder literarisch dekonstruiert wurde (Fontane).

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Die beiden letzten Beiträge untersuchen nicht die Frage, was im Grimm bzw. im Brockhaus, dem wichtigsten Sprachwörterbuch und dem wichtigsten Sachwörterbuch, an Repräsentation und Stigmatisierung der ›Zigeuner‹ zu finden ist, sondern wie, mit welchen sprachlichen, aber auch bildlichen Mitteln sich lexikalische Stigmatisierung vollzieht. Anja Lobenstein-Reichmann zeigt, dass sich unter den Belegen keine Selbstäußerungen der Betroffenen fänden, keine positiv wertenden Belege aufgenommen worden seien und mit der Ausblendung der NS-Zeit aus der Sprachgeschichte jene Phase unterschlagen werde, die wie keine andere dazu gezwungen habe, den Sprachgebrauch als Stigmatisierung zu reflektieren. Wie Ramona M. Treinen und Herbert Uerlings zeigen, ist das Bild der ›Zigeuner‹ im Brockhaus nicht weniger stereotyp als im Grimm. Lange wurde hier an der Rasse-Vorstellung festgehalten und auch der Übergang vom ›unzivilisierten Wandervolk‹ zur ›diskriminierten Minderheit‹ ist nicht unproblematisch. Die Autoren vermuten, dass es sich hier um eine Sonderform inkludierender Exklusion handle und damit der Inklusion der Sinti und Roma langfristig einen Bärendienst erweise. Dies gelte im übrigen auch für die Bezeichnung »Sinti«, wo sie die Bezeichnung ›Zigeuner‹ beerbt: An der stigmatisierenden Repräsentation ändert sich dadurch nichts.

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Fazit

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Der Band ›Zigeuner‹ und Nation reflektiert das Problem Repräsentation der ›Zigeuner‹ in Mitteleuropa auf höchstem Niveau und in größtmöglicher Kohärenz, wenn vielleicht auch nicht erschöpfend, dann doch in einer exemplarischen Breite und Tiefe, die ihn zum unentbehrlichen Standardwerk machen. Es ist zu hoffen, dass von ihm die unterschiedlichsten Forschungsansätze angestoßen und erweitert werden. Angesichts der allgemeinen Defizite des kulturellen Gedächtnisses wird dies für die kommenden politischen und gesellschaftlichen Debatten zum Thema Inklusion, wie schon eingangs betont, von selbst-aufklärerischer Notwendigkeit sein.

 
 

Anmerkungen

Franz Kafka’s Parabel »Gemeinschaft« ist vielleicht die erste stringente Analyse dieses systemischen Zusammenhangs. Siehe: Thomas Wägenbaur: Semiotische und systemtheoretische Ansätze in der Literaturwissenschaft. In: Wie kommt die Wissenschaft zu ihrem Wissen? Band 3: Einführung in die Methodologie der Sozial- und Kulturwissenschaften. Hg. von Theo Hug. Baltmannsweiler: Schneider 2001, S. 232–254.

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