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Computerspiellesefähig

  • Danny Kringiel: Computerspielanalyse konkret. Methoden und Instrumente - erprobt an Max Payne 2. Verlags GmbH kopaed 2009. 349 S. Paperback. EUR (D) 19,80.
    ISBN: 978-3-86736-069-2.
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Erklärtes Ziel der Studie von Danny Kringiel ist es, ein Analyseinstrumentarium für Computerspiele zu entwickeln und in seiner Anwendbarkeit zu überprüfen. Damit grenzt sich der Autor von der üblichen Berichterstattung über das Medium ab, die zumeist die Wirkungen, die von Computerspielen auf ihre Nutzer ausgehen, diskutiert, ohne den Gegenstand Computerspiel selbst genauer zu betrachten. Kringiel bezweifelt, dass sich die Frage nach den Wirkungen des Computerspielens überhaupt sinnvoll behandeln lässt, ohne zunächst zu untersuchen, »wie Computerspiele grundsätzlich funktionieren, wie sie aufgebaut sind, über welche typischen Gestaltungsmittel und Genrekonventionen sie verfügen« (S. 21). Durch die Fokussierung dieser Fragen soll eine »Computerspiellesefähigkeit« entwickelt werden, die im analytisch-kritischen Umgang mit den Gestaltungsmitteln des Mediums besteht und eine souveräne Nutzung von Computerspielen ermöglicht (vgl. S. 30).

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Für seine exemplarische Analyse hat Kringiel mit Max Payne 2 (2003) bewusst ein Spiel ausgewählt, das dem Shooter-Genre zuzuordnen ist und auch in der journalistischen Berichterstattung über »Killerspiele« aufgetaucht ist.

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Game Studies

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Methodisch orientiert sich Kringiel in seiner medienpädagogischen Dissertationsschrift an den Game Studies, ein Begriff, der sich zur Bezeichnung geistes- und sozialwissenschaftlicher Auseinandersetzung mit digitalen Spielen eingebürgert hat. Interessant aus der Sicht der Literaturwissenschaft ist es, dass verschiedene Methoden und Begriffe aus ihrem Arsenal hier Anwendung finden. Kringiel unterscheidet sechs verschiedene Ansätze innerhalb der Game Studies, die er selbst alle für eine möglichst facettenreiche Analyse des ausgewählten Spiels heranzieht. In seinem »Close Playing« (S. 32) unterzieht er Max Payne 2 nacheinander einer ludologischen, einer narrativistischen, einer cyberdramatischen, einer filmischen, einer architektonischen und einer lernbezogenen Analyse.

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Ludologie

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In der ludologischen Betrachtungsweise wird das Computerspiel zuerst als Spiel betrachtet, das heißt es wird die Zuordnung zu Spielgenres untersucht; nach den Spielregeln, nach den Zielen, die im Spiel angestrebt werden und nach der Art der Aufgaben, die im Spiel zu bewältigen sind, gefragt. Außerdem beschreibt die ludologische Analyse die Form von Spielkonflikten, den zeitlichen Aufbau sowie den Komplexitätsgrad des Spiels und achtet dabei auch auf »interludische« Bezugnahmen des Spieles Max Payne 2 auf andere Spiele. Kringiel weist darauf hin, dass einige Vertreter der ludologischen Betrachtungsweise von Computerspielen diese für die einzig angemessene halten und andere Untersuchungsansätze, die sich an den narrativen Medien Literatur und Film entwickelt haben, grundsätzlich ablehnen, weil sie darin eine kategoriale Verkennung der Besonderheit des Gegenstandes Spiel sehen. Kringiel schließt sich dieser Auffassung jedoch nicht an, sondern versucht im Gegenteil, durch die Anwendung verschiedener methodischer Ansätze zu einer möglichst differenzierten Beschreibung des Spiels zu gelangen.

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Narratologie

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Die narrativistische Analyse des Spiels beginnt mit der Frage nach der Erzählperspektive. Dabei wird mit Bezug auf die Begrifflichkeiten Genettes zwischen Erzählinstanz und Fokalisationsinstanz unterschieden. Das Medium Computerspiel bietet die Möglichkeit, dass die visuelle Perspektive des Spielers und die Perspektive des Erzählers voneinander abweichen können, woraus sich für die Spielenden spannungsreiche Effekte erzielen lassen.

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Um den Aufbau der Spielerzählung zu beschreiben bedient sich Kringiel vorliegender Modelle wie dem von Brenda Laurel 1 , die sich ihrerseits auf das Dramenmodell Gustav Freytags beruft, und dem von Karla Schmidt 2 entwickelten Ansatz, der selbst eine Verbindung verschiedener Modell ist, wie etwa der »Hero’s Journey« von Joseph Campbell.

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Außerdem beschäftigt sich die narrativistische Analyse mit dem Spannungsverlauf sowie mit dem Verhältnis von Erzählzeit zu erzählter Zeit im Spiel. Mithilfe der von Andrew Glassner von der Literatur auf Computerspiele übertragenen Kategorien 3 werden Erzähltechniken und Stilmittel untersucht. In die Aufmerksamkeit rückt dabei auch, dass der Spieler den Verlauf der Spielerzählung fast nur in den Kampfsequenzen beeinflussen kann. Sonst ist der Handlungsverlauf ebenso vorgegeben wie in den narrativen Medien Roman oder Film und wird durch Cutscenes, Dialoge, Scriptereignisse und Comic-Sequenzen vorangetrieben. Kringiel arbeitet auch intertextuelle Bezüge des Spiels zur Literatur heraus. Besonders auffällig sind die Bezüge zur amerikanischen Kriminalliteratur, insbesondere der »Hard-Boiled-Fiction« von Raymond Chandler oder Dashiell Hammett mit ihren einzelgängerischen und abgebrühten Detektivfiguren als Helden. Wie diese bewegt sich auch der Avatar Max Payne, ein New Yorker Drogenfahnder, im Spiel durch den Großstadtdschungel und ist geprägt von Zynismus, Gewaltbereitschaft und moralischer Uneindeutigkeit. Es werden noch zahlreiche weitere literarische Anspielungen im Spiel identifiziert, wie etwa auf die Bibel, die griechische Mythologie, verschiedene Märchen und John Miltons Paradise Lost (vgl. S. 130–135).

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Cyberdramatische Analyse

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In dem sich an Kategorien der Dramenanalyse orientierenden Teil wird das Computerspiel im Hinblick auf die Gestaltung der Figuren durch ihre Äußerlichkeit, Gestik sowie durch ihre sprachliche Ausdrucksweise untersucht. Figurenkonstellationen und ihre Entwicklung werden betrachtet und die einzelnen Figuren des Spiels mithilfe einer Typologie eingeordnet, die einem Schreib-Ratgeber von James N. Frey entnommen wurde 4 (vgl. S. 166 ff.). Kringiel verweist darauf, dass der Spieler die Figuren im Spiel bereits gestaltet vorfindet und darauf selbst so gut wie keine Einflussmöglichkeit hat.

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Die graphisch gestalteten Hintergründe im Spiel werden als virtuelles Bühnenbild betrachtet, das die Fähigkeit hat, Atmosphäre zu vermitteln und auch metaphorische Qualitäten annehmen kann. Außerdem wird gezeigt, wie auch in der Gestaltung der Computerspielwelt der Einsatz von Licht und Farbe zur Aufmerksamkeitslenkung der Rezipienten verwendet wird (vgl. S. 188).

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Filmanalyse

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Der Bezug zum Medium Film wird bei dem Spiel Max Payne 2 explizit hergestellt durch den Untertitel »A Film Noir Lovestory«. Diesem Genre entsprechen auch Figurengestaltung, Grundstimmung und Handlung des Spiels. Kringiel zeigt jedoch auf, dass der Film Noir nicht das einzige Genre ist, auf das verwiesen wird. Die Kampfszenen des Spiels weisen ästhetisch deutliche Bezüge zu Hongkong-Actionfilmen, insbesondere zu denen des Regisseurs John Woo auf (vgl. S. 192). Außerdem bedient sich das Spiel zitathaft visueller Elemente aus den Matrix-Filmen. Durch virtuelle Fernsehszenen im Spiel werden gängige Nachrichten- und Serienformate sowie Werbespots aufgerufen (vgl. S. 194).

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Wichtige Teile des Spiels bestehen aus genuin filmischen Elementen, den Cutscenes, animierten Filmsequenzen, die die interaktiven Abschnitte des Spiels immer wieder unterbrechen und die Handlung in filmischer Weise ohne Eingriffsmöglichkeit der Spielenden voran bringen.

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Gemeinsam mit dem Film ist dem Computerspiel insgesamt, dass der Spieler durch die Wahl einer Einstellungsgröße und einer virtuellen Kameraperspektive in ein bestimmtes Verhältnis zum Bildinhalt gesetzt wird. Für die interaktiven Spielabschnitte besteht dabei aber ein grundlegender Unterschied zum Film, wie Kringiel betont, denn beim Computerspiel »versucht kein Regisseur, einem Zuschauer durch Veränderung der Distanz zum Betrachteten etwas auf eine bestimmte Weise zu zeigen – es versucht vielmehr ein Spieler, durch Veränderung der Distanz zum Betrachteten selbst etwas auf eine bestimmte Weise zu sehen« (S. 205).

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Architektur

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Die architektonische Analyse bietet auf den ersten Blick am wenigsten Anknüpfungspunkte an literaturwissenschaftliche Kategorien. Kringiel arbeitet aber heraus, wie die virtuelle Architektur in der Spielwelt die Spiel-Erzählung formt. Sie kann retardierende oder beschleunigende Momente des Geschehens liefern und zur Charakterisierung von Figuren beitragen (vgl. S. 246 ff.). Außerdem können architektonische Elemente auf andere Erzählungen (Spiele oder Filme) verweisen oder aus ihnen zitieren. Kringiel macht darauf aufmerksam, dass die architektonische Gestaltung der Spielwelt nicht zuletzt die Aufgabe hat, die eigentliche Tunnelförmigkeit des gesamten Spielverlaufs zu kaschieren.

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Lernbezogene Analyse

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Die lernbezogene Analyse des Spiels lässt sich vor allem da für den Vergleich mit anderen Medien fruchtbar machen, wo es um Fragen der Motivation geht. Durch die Einbettung in die Erzählung und die fiktive Welt des Spiels können die Nutzer in besonderer Weise emotional gebunden werden, wie Kringiel feststellt (vgl. S. 278). Ziel des Spielens ist dabei jedoch zumeist nicht das Erlernen eines abstrakten Prinzips, sondern das erfolgreiche Handeln in einer interessanten Spielwelt und die Erfahrung der Wirksamkeit der eigenen Handlungen innerhalb dieser virtuellen Welt (vgl. S. 275).

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Fazit

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Danny Kringiel zeigt überzeugend, dass sich für die Analyse des Hybridmediums Computerspiel verschiedene vorliegende, an anderen Medien entwickelte Methoden fruchtbar machen lassen. Durch sein Verfahren der Addition und Kombination der unterschiedlichen Ansätze kommt er in seiner exemplarischen Analyse des Spieles Max Payne 2 zu sehr umfangreichen und detaillierten Ansichten, bleibt jedoch auch nicht ganz frei von Redundanzen, was bei der Anlage der Studie aber unvermeidlich ist. Kringiels eigener medienpädagogischer Ausblick fragt zum Schluss danach, wie die computerspielanalytische Arbeit weiter didaktisch umgesetzt werden könnte. Die aufgezeigten methodischen Möglichkeiten können aber auch für weitere medienkomparatistische Forschungen Anregungen geben.

 
 

Anmerkungen

Vgl. Brenda Laurel: Computers as Theatre. Reading, Massachusetts: Addison-Wesley 1993, S. 81 ff.   zurück
Vgl. Karla Schmidt: Der Archeplot im Game. Silent Hill 2 als klassische Heldenreise, S. 27–38. In: Britta Neitzel u.a. (Hg.): »See? I’m Real…« Multidisziplinäre Zugänge zum Computerspiel am Beispiel von Silent Hill. Münster: LIT 2004, S. 20–40.   zurück
Vgl. Andrew Glassner: Interactive Storytelling: Techniques for 21st Century Fiction. Natick, MA: AK Peters 2004, S. 99–107.   zurück
Vgl. James N. Frey: The Key. Die Kraft des Mythos. Köln: Emons-Verlag 2001.   zurück