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Wilhelm Speyer

Zu einem Sammelband sowie der Neuauflage seines Romans »Charlott etwas verrückt«

  • Walter Fähnders / Helga Karrenbrock (Hg.): Wilhelm Speyer (1887-1952). Zehn Beiträge zu seiner Wiederentdeckung. (Moderne Studien 4) Bielefeld: Aisthesis 2009. 244 S. Kartoniert. EUR (D) 24,80.
    ISBN: 9783895286520.
  • Wilhelm Speyer: Charlott etwas verrückt. Roman. Erstveröffentlichung 1927. Mit einem Nachwort herausgegeben von Walter Fähnders und Helga Karrenbrock. (Archiv 9) Bielefeld: Aisthesis 2008. 226 S. Kartoniert. EUR (D) 19,80.
    ISBN: 9783895286469.
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Obwohl er einer der erfolgreichen Autoren des vergangenen Jahrhunderts war, wissen wir über Wilhelm Speyer doch bis heute herzlich wenig. Eine (intellektuelle) Biographie, die uns genauer über seine Herkunft, seinen Werdegang und sein Denken in Kenntnis setzte, fehlt bislang in der ohnehin nicht allzu umfangreichen Literatur über diesen 1887 geborenen Sohn eines jüdischen Fabrikanten. Das dürfte nicht zuletzt auf eine ziemlich prekäre Quellenlage zurückzuführen sein. Denn was uns neben seinen Werken an Nachlass-Schriften auch privaten Charakters – wie etwa Notizbücher, autobiographische Aufzeichnungen und Briefe – überliefert ist, füllte vermutlich kaum mehr als einen einzigen und nicht einmal allzu großen Koffer. Und der Betroffene selbst hat sich mit Auskünften über das eigene Leben und Schaffen zeitlebens sehr zurückgehalten. Nur hier und da gibt es kursorische autobiographische Äußerungen Speyers, beispielsweise im Anhang zu einem 1928 erschienenen Band seiner Erzählungen. Dort heißt es lapidar, er sei in einem Wohnviertel der Bessergestellten, im Berliner Westen, aufgewachsen und habe nur mit Unwillen die staatliche Schule besucht. (Es handelte sich dabei um das Königliche Wilhelms-Gymnasium, eine der vornehmeren höheren Lehranstalten der Hauptstadt, das vom Berliner Volksmund freilich mit dem spöttischen Namen ›Lackstiefel‹-Gymnasium bedacht wurde.) Allein auf einem Landerziehungsheim im thüringischen Haubinda habe er ernsthafte, fördernde Erziehung erfahren. Nach dem Abitur habe er dann mit den Rechtswissenschaften die »falsche Studienwahl« getroffen, sei 1915 freiwillig in den Krieg gezogen und habe sich am Ende für die Schriftstellerei entschieden.

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Einer – »genau so wie seine Bücher«

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Ein überaus treffendes, vor allem aber bündiges Porträt Wilhelm Speyers stammt aus der Feder des österreichischen Schriftstellers Otto Zoff. Nachdem er ihm erstmals im gemeinsamen französischen Exil begegnet war, hielt er in seinem Tagebuch unter dem Datum des 12. März 1940 fest: »Den ›Dichter‹ Speyer kennengelernt; er ist genau so wie seine Bücher.« Wie immer das gemeint sein mag – es ist, als habe der Satz Pate gestanden bei dem Versuch, dem »leibhaftigen« Speyer in »zehn Beiträge[n]« beizukommen, d. h. sein Werk und Wirken nach verschiedenen Richtungen hin auszuleuchten. Das Ganze in der bescheidenen Absicht, zu Speyers Wiederentdeckung beizutragen. Denn zu Lebzeiten war er alles andere als ein unbeschriebenes Blatt.

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Sein literarisches Debüt feierte Speyer als gerade einmal 20jähriger mit einem Oedipus betitelten Roman, der im renommierten Berliner Verlag von Bruno Cassirer erschien. Das Werk scheint ihm Tür und Tor zu Verlagen wie Zeitschriften geöffnet zu haben. Denn in kurzen Abständen folgten weitere Romane, Erzählungen und Schauspiele, ja sogar vereinzelte Gedichte, die im Münchner Langen-Verlag, in der »Schaubühne« Siegfried Jacobsohns, im Satire-Magazin »Simplicissimus« sowie in der Münchner illustrierten Wochenschrift für Kunst und Leben, der »Jugend«, erschienen. Diese frühe Schaffensperiode Speyers ist in dem von Walter Fähnders und Helga Karrenbrock im Bielefelder Aisthesis Verlag herausgegebenen Sammelband leider etwas unterbelichtet geblieben. Die eigentlichen Analysen und Betrachtungen setzen erst mit Speyers Nachkriegs-Produktion ein, mit dem Drama Der Revolutionär und dem Lustspiel Der Aufstieg bzw. Er kann nicht befehlen, denen der Dramaturg Wolfgang Storch eine einfühlsame Studie unter dem Titel Spiegel oder Gemälde mit Silberrahmen (S. 17–36) gewidmet hat, an der nur einige wenige Nachlässigkeiten stören.

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Erfolg: etwas Ehrenrühriges?

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Während Speyers schriftstellerische Vorkriegs-Entwicklung also noch einer eingehenderen Untersuchung harrt, steht seine fruchtbarste Zeit als Autor, seine Schaffensperiode in den 1920er Jahren, im Zentrum des vorliegenden Sammelbandes: von seinen wie am Reißbrett entworfenen, bei Ullstein erschienenen »Konfektions«-Romanen wie etwa der »Roman eines Mannequins«, Ich geh aus und du bleibst da (Julia Bertschik, S. 37–54; auch Erhard Schütz, S. 55–74), über Speyers Beziehungen zum Film (Michael Wedel, S. 75–111) und seinen Gesellschaftskomödien inklusive des in Zusammenarbeit mit Walter Benjamin entstandenen, 1933 uraufgeführten Kriminalstücks Ein Mantel, ein Hut, ein Handschuh (Sophia Ebert und Thomas Küpper, S. 113–146) bis hin zu seinem Schüler-Roman Der Kampf der Tertia und dessen Fortsetzung Die goldene Horde (Helga Karrenbrock, S. 147–174). Es war die Zeit, in der Speyer zu den erfolgreichsten Autoren im deutschen Sprachraum gehörte. Seine Werke, wie etwa Der Kampf der Tertia oder Charlott etwas verrückt, beide 1927 erschienen, erlebten Zehntausender-Auflagen und wurden sogar verfilmt. Diese breite Anerkennung beim lesenden wie filmschauenden Publikum hat ihm freilich nicht nur Freunde eingetragen. So meinte etwa Siegfried Kracauer anlässlich der Verfilmung von Charlott etwas verrückt sagen zu müssen, dass dieser Berlin-Roman »eines der verlogensten und peinlichsten Produkte« seiner Zeit sei – offenbar schon deshalb, weil das Werk seinem Autor, wie der einflussreiche Redakteur der »Frankfurter Zeitung« fast selbstverräterisch hinzufügt, in den »letzten Jahren […] hohe Einnahmen verschafft« (!) habe. Erfolg also als etwas beinahe Ehrenrühriges!

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Dieser Sicht der Dinge schließen sich die Autoren des hier besprochenen Sammelbandes zum Glück nicht an. In ihren Beiträgen überwinden sie vielmehr die bisweilen problematische scharfe Scheidung von hoher und niederer bzw. Unterhaltungsliteratur. Ja, man geht sogar so weit, wie Walter Delabar in seinem Aufsatz über Speyers Exilromane (S. 191–208), zu vermuten, dass sich hinter Speyers bisweilen maßloser Verwendung von »Versatzstücken der Kolportage« in seinen Romanen möglicherweise »eine ironische Absicht« (S. 196) verberge.

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Von Parsch bei Salzburg über Paris und Menton nach Los Angeles – und zurück

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Delabars Beitrag gilt ebenso wie der von Dirk Krüger (S. 175–190) bereits Speyers literarischem Schaffen im zunächst österreichischen, dann französischen und schließlich amerikanischen Exil. Den Abschluss und zugleich den Höhepunkt der eigentlich neun und erst mit der Einleitung der Herausgeber zehn Untersuchungen bildet Frithjof Trapps großartige Analyse von Speyers Roman Das Glück der Andernachs, den Alfred Döblin für Speyers »bestes Werk« hielt. Das bereits Ende der 1930er Jahre begonnene und 1947 in einem Züricher Verlag erschienene Werk bildete gewissermaßen Speyers Abschiedsbillet aus dem ihn zwar zu Dank verpflichtenden, ansonsten aber entbehrungsreichen und nicht sonderlich geliebten amerikanischen Exil – und zugleich seine Visitenkarte bei der schließlich 1949 erfolgten Rückkehr nach Deutschland, in das einstige »Pestland«, wie er 1933 seine von den Nazis beherrschte Heimat nannte. Knapp zwei Monate vor seiner endgültigen Abreise aus New York, am 19. April 1949, schrieb er Ilse Gräfin von Seilern:

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»Die Amerikaner interessieren sich nicht für Andernachs und überhaupt nicht für das, was mich bewegt und was ich zum Ausdruck bringen kann […] Ich bin gar nicht happy […] – Nein, ich mag dieses verhunzte Deutschland nicht mehr, aber ich bin einfach gezwungen dort zu sein und womöglich dort zu bleiben […] Möglich, dass ich in Deutschland leben kann.«
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Nun, es blieben ihm gerade einmal drei Lebensjahre, in denen Speyer noch zwei größere Werke in die Öffentlichkeit entließ: einen »Roman aus der Zeit Jesu«, betitelt Andrai und der Fischer, sowie die »spanisch-kalifornische Erzählung« Señorita Maria Teresa. Dann schloss er im Hause eines befreundeten Arztes in Basel für immer die Augen.

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Wirklich vergessen hat man Speyer nie, wie zuletzt noch die postumen Neuauflagen seiner Werke zeigen, insbesondere die seines Schüler-Romans Der Kampf der Tertia, der, in den 1950er beinahe ein Bestseller, noch heute zu den meistgelesenen Werken seines Genres gehört. Aber jetzt ist es an der Zeit, ein Werk, das sich von der Kaiserzeit bis in die Jahre nach 1945 erstreckt, ästhetisch und kulturgeschichtlich auszuloten. Ein vielversprechender Auftakt dazu ist mit den hier besprochenen Veröffentlichungen, der Neuausgabe des Romans Charlott etwas verrückt mitsamt seinem gehaltvollen Nachwort, und den zehn Einzeluntersuchungen gemacht.