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Ein Konzept stößt an seine Grenzen

  • Peter Nusser: Der Kriminalroman. 4., aktualisierte und erweiterte Auflage. (Sammlung Metzler 191) Stuttgart: J. B. Metzler 2009. VIII, 223 S. Paperback. EUR (D) 14,95.
    ISBN: 978-3-476-14191-0.
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Peter Nussers Einführungsband zum Thema »Kriminalroman« ist vermutlich immer noch eine sehr weit verbreitete Lektüre für den Literaturunterricht und das Grundstudium. Seit 1980 erlebt er nun seine vierte, angesichts der rasenden Entwicklung des Gegenstandsbereiches in den letzten 30 Jahren jeweils nur unproportional sachte erweiterte, nur sparsam überarbeitete Auflage. Das ist umso überraschender, als nach der substantiellen Rezension der 3. Auflage von 2003, die Peter Stoll für das IFB 1 vorgelegt hat, kein einziger der gewichtigen Kritikpunkte Konsequenzen für die aktuelle 4. Auflage von Nussers Einführung hatte. Stoll hatte damals vor allem die inkonsistente und durch die Breite des Gegenstandsbereichs nicht gedeckte Begriffsverwendung von Nusser bemängelt, die anscheinend »Verbrechensliteratur«, »Kriminalroman«, »Detektivroman«, »Psychothriller«, »Thriller« und andere einschlägige Bezeichnungen in einer wenig distinkten Mischung aus Werturteilen, ad-hoc-Prädikationen, unexplizierten Gattungs- bzw. Genrezuordnungen vornimmt. Man könnte Stolls Argumentation Punkt für Punkt für die hier vorliegende 4. Auflage wiederholen, ihre Triftigkeit ist weiterhin ungebrochen.

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Nussers Erwiderung auf Stoll im Vorwort der Neuausgabe indes insistiert auf dem Unterschied zwischen »Verbrechensliteratur« und »Kriminalliteratur«. Dabei zeigt sich das Dilemma des Nusserschen Projekts:

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Da Verbrechensliteratur uns zwar Einblicke in die Motive und Wirkungen von Verbrechen verschiedenster Art verschafft, nicht aber mit den Schwierigkeiten der für die Kriminalliteratur jeder Ausprägung typische [sic!] Aufklärungsarbeit konfrontiert, die ganz andere Möglichkeiten der Faszination wachruft, ist eine Unterscheidung beider Gattungen gerade zu geboten. Denn die Grundregeln einer Gattung zu kennen, ermöglicht erst, die (immer auch historisch bedingten) Abweichungen von ihnen überhaupt wahrzunehmen und den Reiz dieser Abweichungen zu genießen. (S. VI)
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Es ist schwierig, alle grundlegenden Probleme, die dieses kurze Statement impliziert, einlässlich zu benennen, aber die neuralgischen Punkte des Bändchens sind hier, quasi in a nutshell, versammelt: Keinesfalls ist alle Kriminalliteratur über das Sujetelement »Aufklärungsarbeit« zu definieren. Keinesfalls gibt es normative Kriminalliteratur, die eine Art ›Abweichungsmodell‹, etwa im Sinne Harald Frickes 2 zuließe. Keinesfalls gibt es »Grundregeln« für Kriminalliteratur, die gibt es höchstens als Postulate 3 oder als deskriptive Versuche, über statistische Häufungen von Sujetpartikeln eine Art regelgeleitetes Erzählen zu belegen. 4 Und zudem ist es nach den Erkenntnissen zur Gattungstheorie 5 methodisch mehr als problematisch, »Verbrechensliteratur« und »Kriminalliteratur« als verschiedene »Gattungen« zu bezeichnen. Selbst der Begriff »Genre« kommt allmählich an seine explikativen Grenzen, 6 was Ausdruck dessen ist, dass man nach allem, was man heute über Kriminalliteratur weiß, eigentlich von »der Form Kriminalliteratur« nicht mehr sprechen kann. Der Begriff »Kriminalliteratur« hat sich in einer weltweit gigantisch diversifizierten Textproduktion aufgelöst, bleibt aber durch einen intuitiven, vorbegrifflichen Sprachgebrauch dennoch erhalten. Ein Problembewusstsein für solche Entwicklungen findet sich bei Nusser nicht, vermutlich weil er seine begriffliche Engführung nicht zugunsten des schon von Stoll bemerkten Umstandes, dass »zahlreiche Leser nicht mit dieser terminologischen Konvention vertraut sind«, 7 aufgeben will. So rächt sich allerdings der Verstoß gegen die wissenschaftstheoretische Faustregel, Wissenschaftssprache nicht unnötig von Umgangssprache zu entfernen.

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Reduktion des Gegenstandsbereiches

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Das Beharren auf Positionen, die eigentlich längst forschungsgeschichtlich geworden sind, bleibt ein Hauptproblem von Nussers Band. Eine analoge Persistenz spiegelt sich auch in seinen Paradigmen. Wenn ich oben von globaler Diversifikation der Kriminalliteratur gesprochen habe, bleibt Nusser mit seinem Textkorpus, das seinen Schwerpunkt explizit klar in den angelsächsischen Kriminalliteraturen der ersten sechzig Jahren des 20. Jahrhunderts hat, merkwürdig hinter jeder Dynamik des Genres zurück. Mir ist die Gefahr des name droppings bewusst, die Nennung fehlender Namen ist als Beleg lediglich subjektiver Vorlieben leicht denunzierbar, aber es scheint mir auch evident, dass ein Unternehmen wie das Nussersche eigentlich Texte von Jerome Charyn, Paco Ignacio Taibo, Ian Rankin, Lee Child, Rubem Fonseca und vieler, vieler innovativer und wirkmächtiger Autoren nicht einfach ignorieren oder Schlüsseltexte von ›Paradigmenwechslern‹ wie Jean-Patrick Manchette oder Joseph Wambaugh (den Nusser durchgängig selbst im Register falsch, nämlich »Wambough« (S. 133 und S. 222) schreibt) nicht einfach an beliebigen Stellen, um den Autor genannt zu haben, marginalisieren kann.

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Auch die auffällig geringe sichtbare Kenntnis der Kriminalliteratur aus Afrika, Lateinamerika, Australien und Asien und deren nur karge Würdigung auf noch nicht einmal 50 Zeilen des Buches (S. 135) 8 spricht nicht für die Stichhaltigkeit der These des Vorworts, dass »Kriminalromane […] durch einen relativ hohen Grad der Redundanz gekennzeichnet sind“ (S. V). Denn eine solche These wäre nur durch Nussers Verfahren der Reduktion des Gegenstandsbereiches haltbar zu machen. Prinzipiell könnte man noch eine ganze Kette von unzutreffenden bis unklaren Verortungen diskutieren, für die, möchte man diese Diskussion sinnvoll und transparent führen, man allerdings erst einmal viel zu umfangreiche Grundinformationen über Grundkonstellationen der Kriminalliteratur en general bereit stellen müsste, was sich im Rahmen einer Rezension jedoch nicht leisten lässt.

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Schwarzer Humor und Komik?

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Stattdessen möchte ich auf einen neuen Teil von Nussers Buch eingehen, auf den »Exkurs: Schwarzer Humor in Kriminalromanen der Gegenwart« (S. 153–157). Fraglich dabei scheint auf den ersten Blick, warum Nusser überhaupt die Kategorie des ›Schwarzen Humors‹ an dieser Stelle einführt. Ein irgendwie gearteter Bezug zu André Bretons kapitaler Anthologie des Schwarzen Humors 9 und den darin als essentiell vorgestellten Autoren wie dem Marquis de Sade, Jonathan Swift, Thomas de Quincy, Comte de Lautréamont (Isidor Ducasse), Alfred Jarry und bis hin zu Oskar Panizza, Franz Kafka oder Hans Arp 10 ist nirgends auszumachen. Auch gibt es keine spürbaren diskursiven Beziehungen zu den kulturkritischen und kulturphilosophischen Erörterungen etwa zum Thema der Groteske-Forschung. 11

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Und selbst wie der ›Schwarze Humor‹ in eine in der Tat für die Kriminalliteratur wichtige Komik-Diskussion einzubinden wäre, bleibt unklar. Ist der ›Schwarze Humor‹ eine Manifestation von Komik? Eine Textstrategie? Ein Rezeptionsphänomen? Ein Qualitätskriterium für Kriminalliteratur? Ein Surplus von Texten? Eine Art der Weltinterpretation? Ein verfremdendes Verfahren? Ein Verfahren der narrativen Realitätsverarbeitung? Nusser konzentriert sich – ohne weitere theoretische Anbindung – auf psychologisierende Thesen über Autordispositionen (»Der Humorist entzieht sich dem Gefühl des persönlichen Betroffenseins«, S. 153) oder über individuelles Rezeptionsverhalten (»Indem man die Gefahrlosigkeit des in der ästhetischen Vorgabe wiedergekehrten Verdrängten für sich selbst erkennt, kann man den entbehrlich gewordenen Reaktionsvorgang als Lachen abführen«, S. 155). Das alles ist ohne wirkliche Exemplifizierung riskant und wenig operabel. Zumal noch nicht einmal als Folie solcher Erörterungen Autoren aufgeführt werden, die allgemein als bedeutende komische und damit auch für die Geschichte der Kriminalliteratur bedeutende Autoren angesehen werden: Edmund Crispin, John Latimer, Chester Himes, Joseph Wambaugh, William Marshall, Carl Hiaasen, Charles Willeford, Stuart MacBride, Luis Fernando Verissimo, Pierre Siniac, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Wie Nusser solche Autoren interpretativ und literaturkritisch im Feld der Komik situieren würde, also welche Explikationskraft, welchen ästhetischen und welchen erkenntnistheoretischen Stellenwert er komischer Kriminalliteratur zugestehen würde, ja, wie er die Relation zwischen lebensweltlicher und fiktionaler Komik an den verschiedenen Manifestationen von Kriminalliteratur und die Bedeutung dieser Relation für die Ästhetik von crime fiction einschätzen würde – das alles bleibt leider verschwommen oder unbeantwortet. Natürlich darf man von einer schmalen Einführung vermutlich auch keine großartigen Lösungen erwarten. Aber einen Vektor, warum man ausgerechnet einen Exkurs zu diesem hochkomplexen Thema einbauen muss, hätte man schon gerne identifiziert.

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Die beiden Beispiele (S. 158), 12 die Nusser als »exemplarisch« behandelt, Wolfgang Haas und Heinrich Steinfest, sind problematisch. Die Komik bei Haas entspringt weniger einer ›schwarzhumorigen‹ Konzeption. Haas´ Prosa ist ein Musterbeispiel für aktualisierten skaz, 13 also der schriftlich simulierten Erzähleransprache in einem dito simulierten oder abgebildeten Code oraler Erzähltraditionen, wie es sie in der deutschsprachigen Literatur zum Beispiel – und wie bei Haas mit satirischen Untertönen – bei Ludwig Thomas »Filserbriefen« 14 gegeben hat. Auch Heinrich Steinfests Komik entspringt eher der Exaltation absurder und grotesker Situationen (Haie im
Hochhaus 15 ) oder verbaler Tiraden oder inversiv gestalteter Alltagssituationen (z.B. statt Ladendiebstahl im Buchhandel das Einfügen mitgebrachter Bücher 16 ), wobei eine besondere Schwarzhumorigkeit nur sehr subjektiv zu konstatieren ist. Aber sollten selbst diese beiden Autoren, die Nusser vermutlich nicht unbedacht aus dem Pool österreichischer Kriminalschriftsteller ausgewählt hat, in der Tat schwarzhumorige Züge haben, ist ihre Repräsentanz für die humour-noir-Affinität des gesamten Genres Kriminalliteratur wenig einleuchtend.

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Wie überhaupt, diese Conclusio sei erlaubt, es schleierhaft ist, warum die seit der ersten Auflage des Bandes 1980 mit dem Lauf der Jahre immer deutlicher zu Tage tretenden Aporien nur zu einer abermaligen, viel zu unterkomplexen und kurzatmigen Überarbeitung statt zu einer von Grund auf neuen Gesamtdarstellung geführt haben.

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Bedarf für ein wirklich brauchbares, faktensicheres, theoretisch einigermaßen konsistentes Format auf der Höhe der Zeit ist jedoch reichlich vorhanden.

 
 

Anmerkungen

Peter Stoll, Rez.: Nusser, Peter: Der Kriminalroman. 3., aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart, Weimar: Metzler 2003. In: Informationsmittel (IFB). Digitales Rezensionsorgan für Bibliothek und Wissenschaft URL: http://naxos.bsz-bw.de/rekla/show.php?mode=source&eid=IFB%255F04-1%255F122 (19.8.2010).   zurück
Vgl. Harald Fricke: Norm und Abweichung. Eine Philosophie der Literatur. (Beck'sche Elementarbücher 99) München: Beck 1981.   zurück
Z.B. die berühmten S.S.-van-Dine-Regeln, die aber nicht die geringsten produktionsästhetischen Folgen hatten: S.S. Van Dine: Zwanzig Regeln für das Schreiben von Detektivgeschichten. In: Jochen Vogt (Hg.): Der Kriminalroman I. (UTB 81) München: Fink 1971, S. 143–147.   zurück
Immer wieder z.B. bei Umberto Eco: Die Erzählstrukturen bei Ian Fleming. In: Jochen Vogt (Hg.): (Anm. 3), S. 250–293.   zurück
Noch ist niemand über die von Klaus W. Hempfer vorgeschlagenen Dynamisierungen von gattungstheoretischen Strukturierungen hinausgekommen (Gattungstheorie. Information und Synthese. (UTB 133) München: Fink 1973, insbes. S. 128–191).   zurück
Vgl. etwa Thomas Wörtche: Genre? Wozu? In: Jörg Krappmann / Ingrid Fiala-Fürst (Hg.): Phantastik, Okkultismus, (Neo-)Mystik. / Univerzita Palackého v Olomouci v Koedici s Nakladatelstvím Monse. (V tirái pod názvem uvedeno 6) Olomouc: Univ. Palackého 2004, S. 19–32.   zurück
Vgl. Peter Stoll: (Anm. 1), o. p.: Die »Konvention« meint hier etwa die von Nusser oft präferierte Verwendung des Begriffs »Kriminalroman« ausschließlich für eine Art »Detektivroman« innerhalb der Parameter des Golden Age.   zurück
Nusser nennt in diesem Zusammenhang lediglich Shulamit Lapid, Yasmina Khadra, Pepetela und Leonardo Padura. In einem Aufsatz habe ich versucht zu zeigen, dass sich die drei Autoren Khadra, Pepetela und Padura strategisch, aber auch ironisch auf angloamerikanische »Vorbilder« und eine gewisse Tradition des roman noir berufen, diese Tradition(en) aber transformieren und modifizieren. Daraus zieht Nusser den nicht ganz zulässigen Schluss, dass Chandlers und Hammetts Einfluss in »Kriminalromanen, die in letzter Zeit außerhalb Europas und außerhalb der angelsächsischen Länder entstanden sind, […] nicht zu übersehen [ist]« (S. 35). Das würde z.B. eine ganze Reihe iberoamerikanischer Autoren ganz und gar nicht unterschreiben wollen – die globale Szene ist in der Tat sehr differenziert. Thomas Wörtche: Gobal Crime – Krimi global. Ein schneller Rundblick über einige Kontinente. In: DU 2 (2007), S. 7–14; vgl. dazu jetzt auch: Doris Wieser: Crímenes y sus autores intelectuales. Entrevistas a escritores del género policial en América Latina y África lusófona. (Forum Literaturwissenschaften 8) München: Meidenbauer 2010.   zurück
André Breton: Anthologie des Schwarzen Humors. (1940) München: Rogner und Bernhard 1971.    zurück
10 
Eine Traditionslinie, nebenbei, die man durchaus für eine bei Nusser überhaupt nicht erwähnte Tradition des Kriminalromans, nämlich seine Co-Herkunft aus dem Geiste des Grand Guignol, des Surrealismus, des Dadaismus, der Burleske etc., reklamieren könnte. Aber da steht Nussers Konzept der definierten »Form« im Weg.   zurück
11 
Cf. Gerd Henninger: Zur Genealogie des Schwarzen Humors (1966). In: Otto F. Best (Hg.): Das Groteske in der Dichtung. (Wege der Forschung Band CCCXCIV) Darmstadt: WBG 1980, S. 124–137.   zurück
12 
Genau genommen sind es drei Beispiele, aber Nussers drittes Exempel, die sogenannten Polt-Romane des Österreichers Alfred Komarek, verschwindet ganz schnell wieder aus der Diskussion. Vermutlich, weil Komarek eher Elemente der klassischen Dorfgeschichte kriminalliterarisch transformiert und somit eher einen an Gottfried Keller denn einen an Thomas de Quincey orientierten ›Humor‹ abruft.   zurück
13 

Im Sinne von Boris Éjchenbaum: Die Illusion des skaz. In: Jurij Striedter (Hg.): Texte der russischen Formalisten. Band I: Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. München: Fink 1969, S. 161–167.

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14 
Ludwig Thoma: Josef Filsers Briefwexel. Mit fünfzehn Zeichnungen von Eduard Thöny. München: Langen 1912.   zurück
15 
Heinrich Steinfest: Nervöse Fische. Kriminalroman. München / Zürich: Piper 2004.   zurück
16 
Heinrich Steinfest: Ein sturer Hund. Kriminalroman. München / Zürich: Piper 2003.   zurück