IASLonline

Nachkrieg und Unfrieden

  • Helmut Böttiger / Thomas Combrink / Bernd Busch (Hg.): Doppelleben. Literarische Szenen aus Nachkriegsdeutschland. 2 Bände. Band 1: Begleitbuch zur Ausstellung, bearbeitet von Helmut Böttiger unter Mitarbeit von Lutz Dittrich (432 S.), Band 2: Materialien zur Ausstellung, hg. von Bernd Busch und Thomas Combrink (448. S.), beide Bände sind nur zusammen erhältlich. (Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung) Göttingen: Wallstein 2009. 880 S. 528 überw. farb. Abb. Kartoniert. EUR (D) 29,00.
    ISBN: 978-3-8353-0433-8.
[1] 

Nachkrieg und Unfrieden ist ursprünglich der Titel einer Lyrik-Anthologie für die Zeit nach 1945, die Hilde Domin 1970 mit einem längeren Nachwort in der Sammlung Luchterhand herausgab, aber er passt auf merkwürdige Weise ebenso auf diese zweibändige, kommentierte und überreich bebilderte Sammlung von Dokumenten, Essays und Interviews zum literarischen Leben der Nachkriegszeit. Diese entstand im Zusammenhang mit der gleichnamigen Wanderausstellung zum 60-jährigen Bestehen der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und sie erinnert zugleich an die Gründung der Bundesrepublik, verdient aber über diese Anlässe hinaus Beachtung.

[2] 

Texte und Bilder

[3] 

Der Teilband Begleitbuch zur Ausstellung ist mehr und zugleich weniger als ein Katalog. Mehr, weil er sich nicht allein auf die Exponate bezieht, sondern in einem fortlaufenden Kommentar Zusammenhänge und Hintergründe der Materialien erkennen lässt. Dabei kommt die eher narrative als analytische Darstellung Besuchern der Wanderausstellung zugute und kompensiert die bekannten Rezeptionsprobleme von »Vitrinen«-Ausstellungen. Zugleich lässt sie eine besondere Form materieller Literaturgeschichtsschreibung entstehen. Die Verfasser, der Journalist und Kritiker Helmut Böttiger und der Mitarbeiter am Berliner Literaturhaus Lutz Dittrich, waren die Kuratoren der Ausstellung. Als Quellen dienten ihnen alle erdenklichen Archive: die Archive der Akademien in Darmstadt, Berlin und Mainz, das Deutsche Literaturarchiv in Marbach, Verlags-, Rundfunk- und Presse-Archive, dazu Auskünfte von Nachlassverwaltern und Zeitzeugen und – in streng begrenztem Umfang – die Sekundärliteratur.

[4] 

Aus dem Bemühen um Lesbarkeit und Anschaulichkeit folgt auch, dass der Band weniger bietet als ein Katalog im strengen Sinn. Anders als bei einem frühen Vorgänger 1 sind Quellenangaben und Annotationen der Dokumente und Abbildungen auf ein Minimum beschränkt. Außer einem Personenregister enthält der Anhang des Bandes noch ein thematisch gegliedertes Literaturverzeichnis (S. 421–422) für den Zitatnachweis.

[5] 

Wo Neugier das herrschende Prinzip ist, wird der Systematiker enttäuscht. Begleitbuch und Ausstellung folgen keiner vorgängigen These über Sozial- und Mentalitätsgeschichte der Nachkriegszeit in Deutschland, sie versuchen keine neuen Generationen- oder Epocheneinteilungen, sie orientieren sich nicht einmal an der Chronologie der Ereignisse. Vor allem das reiche biographische Material führt, wie in einem Ermittlungsverfahren, in immer wiederholten Ansätzen von der Vorkriegs- in die Nachkriegszeit, von Ravensburg nach Ost-Berlin, von Rückzugsorten (vorzugsweise in Bayern) zu Exilorten (vor allem in Amerika). Wenn es den Bearbeitern überhaupt um ein spezielles Forschungsthema ging, dann war es das der durchaus zweideutigen Frühgeschichte der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.

[6] 

Die Dokumentation wird eröffnet mit zwei »Drahtziehern im Literaturbetrieb«, Schriftstellern, die sich unter dem Nationalsozialismus eher verkannt als verfolgt gefühlt hatten und nun ihren Distinktionsanspruch geltend machen: Frank Thiess und Kasimir Edschmid, der eine als Vizepräsident der Akademien in Darmstadt und Mainz, der andere in einflussreichen Positionen beim P.E.N. und ebenfalls bei der Darmstädter Akademie. Beide hatten sich ihre antijüdischen und republikfeindlichen Affekte aus der Weimarer Zeit erhalten und distanzierten sich nach dem Krieg vor allem von den einst exilierten Schriftsteller-Kollegen. Mit seinem Angriff auf Thomas Mann im Sommer 1945 ist Frank Thiess unrühmlich in die Literaturgeschichte eingegangen. Spätere Abteilungen der Dokumentation widmen sich den Nachkriegserfahrungen von Exilanten wie Thomas Mann und Alfred Döblin im Einzelnen. Der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung gilt im Übrigen das besondere Interesse der Rechercheure. Erstmals veröffentlichte Zeugnisse beleuchten deren von Rangstreitigkeiten und Gruppengefühlen gleichermaßen bestimmtes Innenleben, aber auch die positivere Präsidentschaft von Hermann Kasack, dem Suhrkamp-Lektor und Verfasser des abgründigen und vieldiskutierten Zeitromans Die Stadt hinter dem Strom von 1947.

[7] 

Im zweiten Teil des Bandes lichtet sich der poetische Nebel, den eine »Innere Emigration« über die deutsche Vergangenheit ausgebreitet hatte. Den Übergang markiert die ambivalente Wirkungsgeschichte von Gottfried Benn (dessen Doppelleben Titelgeber des Ausstellungsprojekts ist), einen mentalen Umschwung bezeichnet die Geschichte der Gruppe 47, vor allem aber das Auftreten von Arno Schmidt. Spätestens hier bedarf es einer Erinnerung: Der Standpunkt, von dem aus das Material zusammengetragen wird, ist ein entschieden westdeutscher. Die Literaturpolitik der Ostzone und der DDR schuf andere Milieus und bedingte andere Zielsetzungen, die erneuerte Prominenz von Autoren wie Thiess, Benn oder R. A. Schröder im Westen diente im Osten höchstens zur Ausstattung eines Feindbildes, Exilautoren – vorzugsweise solche aus dem Pariser, Prager oder Moskauer Exil – wurden hoch geschätzt. Als der Rückkehrer Alfred Döblin 1953 in Westdeutschland scheiterte, übermittelte ihm Hans Henny Jahnn ein großzügiges Umzugsangebot der DDR (eine Reproduktion ist auf S. 262 zu finden). Über die kontroversen Beziehungen zwischen beiden Teilen Deutschlands in dieser Zeit geben nur zwei Dokument-Sammlungen Auskunft, eine davon über Johannes R. Becher, dem »Gesicht der frühen DDR-Kultur«. Döblins Verteidigung sozialistischer Literatur im Brief an Ernst Kreuder vom 25. Mai 1951 bleibt eine Ausnahme:

[8] 
Die Natur ist nicht kommunistisch, der Alltag ist nicht kommunistisch [...] Ich finde es scheußlich, dass wir uns von der Sowjetliteratur da beschämen lassen müssen. (S. 253)
[9] 

So wenig die restaurative Seite der Wiederaufbau-Periode heute unbekannt ist, 2 so sehr erstaunen doch die hier gesammelten Details. Unerwartete Allianzen, wie die zwischen Frank Thiess und Hermann Broch (S. 18–22), eine Photostrecke, die den Dichter Rudolf Alexander Schröder als Gast einer NS-Veranstaltung im Jahre 1939 zeigt (S. 303), Dokumente zu den näheren Umständen der missglückten Zeitschriftengründungen der Akademie in Darmstadt (Das literarische Deutschland und Neue literarische Welt) zwischen 1950 und 1953 mit allen personellen Komplikationen (S. 160–195) oder Belege für den schrillen Ton, der im Ost-West-Verkehr herrschte (Alfred Andersch in einem Brief an Jünger über Becher: »Dieser geistige KZ-Aufseher«, S. 387) – dies alles sind Momentaufnahmen des Literaturbetriebs, die dem Benn’schen Titel Doppelleben eine sinistre Bedeutung hinzufügen. Amnesie und Deckerinnerung sind an die Stelle der Wahrnehmung getreten.

[10] 

Bei alledem sind die Nachwirkungen des Krieges unübersehbar. Curt Vinz arbeitet als privilegierter Kriegsgefangener mit dem Exil-Verleger Gottfried Bermann Fischer in den USA zusammen, wird 1945 für die Eröffnung einer deutschen Niederlassung in Betracht gezogen (S. 296) und erhält nach der Rückkehr eine Verlagslizenz für die Nymphenburger Verlagshandlung. Auch die Geschichte der Gruppe 47 beginnt im amerikanischen Kriegsgefangenenlager, wie man liest und sieht. Der Heimkehrer Hans Werner Richter betrachtet die Gruppe zunächst als eine Art Förderkurs für Kriegsteilnehmer: »Das Kennzeichen unserer Zeit ist die Ruine«. Die Zeitschrift Der Ruf zeigt als Titelbild ihrer ersten Nummer einen Wehrmachtssoldaten mit erhobenen Händen. Der »Hörspielpreis der Kriegsblinden« wird ab 1951 ein Motor des Mediums. Arno Schmidt beschwört in seiner Erzählung Schwarze Spiegel eine utopische Kriegsszenerie. Aber zunächst einmal herrscht, für die Literaten spätestens seit dem Kongress für kulturelle Freiheit von 1950 in West-Berlin, der Unfriede des Kalten Krieges. Nur zögernd kündigt sich in den fünfziger Jahren die Moderne an, mit der Buchreihe studio frankfurt sowie mit den Zeitschriften fragmente, Akzente und Texte und Zeichen.

[11] 

Nacharbeit

[12] 

Neben dem Begleitbuch haben die Herausgeber der Materialien zur Ausstellung ein halbes Hundert Autoren – Literaturwissenschaftler, Schriftsteller und Publizisten, darunter nicht wenige Akademiemitglieder – angeregt, Essays und Studien zu Detailfragen beizutragen. Die Unterschiedlichkeit dieser Beiträge nach Form, Umfang, Themenwahl und Tiefenschärfe ist beträchtlich, auch hier war das Besondere wichtiger als das Allgemeine, alle Artikel stehen jedoch in Bezug zum Hauptthema. Zu der inhaltlichen tritt hier eine lokale Orientierung, die die Nachkriegsgeschichte in den verschiedenen Ausstellungsorten von Doppelleben nach dem Start in Berlin berücksichtigt, also in Leipzig (Eine Buchstadt für das Leseland), München (die Münchner Verlage, die Bayerische Akademie der Schönen Künste), Frankfurt (die erste Buchmesse von 1949) und Hamburg (die Stadt und Hans Henny Jahnn). Die Herausgeber dieses Bandes sind Bernd Busch, Generalsekretär der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt, und der Literaturwissenschaftler und Kritiker Thomas Combrink.

[13] 

Eröffnet wird der Band mit einem Beitrag über die unsicheren Vorstellungen, die man in Nachkriegsdeutschland von Europa, oder, lieber noch, vom »Abendland« hegte: Per Öhrgaard, Europa – aber wo lag es? Danach fallen die Fachbeiträge bekannter Experten ins Auge, so von Wolfgang Emmerich über ostdeutsche Literatur, Reinhard Wittmann über München, Siegfried Lokatis über Leipzig, Günther Rühle über das Theater, Klaus Doderer über Jugendliteratur, Wilfried Barner über ›Skandal‹-Fälle. Was ebenfalls den Blick auf sich zieht, sind die Beiträge von Schriftstellern über Schriftsteller: Ingo Schulze über Döblin, Durs Grünbein über Broch, Urs Widmer über Peter Weiss, Reinhard Jirgl über Arno Schmidt, Franz Mon über die Anhänger des »experimentellen Schreibens«, Gerhard Roth über H. C. Artmann. Zu den direkten Zeugnissen sind die Gespräche mit Zeitgenossen zu rechnen, auch wenn sie nicht gerade den Regeln einer formalisierten Oral History entsprechen, also eine kollegiale Unterhaltung von Peter Hamm mit Joachim Kaiser, die Interviews von Bernd Busch mit Adolf Endler sowie mit Christa und Gerhard Wolf (gemeinsam mit Dietrich Simon) und die Interviews von Thomas Combrink mit Jürgen Becker, Alexander Kluge und Gerhard Rühm.

[14] 

Einzelne Studien bedürfen wegen ihrer Quellennähe besonderer Aufmerksamkeit. Gunther Nickel untersucht die Ideen Zuckmayers für den politischen Neuanfang in Deutschland, Carsten Gansel beschreibt Gruppenbildung und Schriftstellerorganisationen in der DDR, Mechtild Rahner die Rezeption des französischen Existentialismus in Deutschland, Harro Müller-Michaels die Anfänge des Literaturunterrichts in allen vier Besatzungszonen. Wolfgang Schopf kann einen heiklen Moment im Jahre 1949 – Doktor Faustus und die Paulskirche – aus den Unterlagen im Archiv der Peter Suhrkamp Stiftung lebendig werden lassen, einschließlich Menüfolge und Preis (6,25 DM) des eher bürgerlichen Essens, das die Stadt Frankfurt anlässlich des Besuchs von Thomas Mann den prominenten Gästen anbot. Einer der wenigen Beiträge mit struktureller Fragestellung ist der von Volker Wehdeking über Selbstverständigungsprozesse, kulturpolitische Vorstellungen und ästhetische Programme von Autoren, die aus dem Krieg zurückgekehrt waren, mit dem bedenkenswerten Satz: »Schriftsteller ändern sich und unterliegen alle der Selbstinszenierung im literarischen Feld« (S. 52). Andere Beiträger beschränken sich auf ein- bis zweiseitige Präsenz-Akte, und in der Tat: Viele Themen hätten eine gründlichere Beachtung verdient, so der Neu- und Wiederaufbau des Verlagswesens (über die Beispiele von Weismann und Aufbau hinaus), die Anfänge des Informations- und Literaturaustauschs zwischen Ost und West, die Bestandskontrolle der öffentlichen Bibliotheken, die Probleme des Literaturstudiums nach 1945. Aber ein Handbuch war, trotz des großen Kreises wissenschaftlicher Berater, der das Projekt begleitete, nicht geplant, es könnte auch weder den Reichtum so vieler Abbildungen, noch die Fülle privatester Zeugnisse aufweisen, die uns in Doppelleben begegnen. Ein Handbuch hätte, wenn es vorläge, nicht nur mehr, sondern auch anderes zu berücksichtigen, vor allem die Außenbedingungen der deutschen Nachkriegsverhältnisse, die sich in der Besatzungszeit deutlich genug bemerkbar machten und die sich in der Viermächte-Stadt Berlin manifestierten. Und es hätte die Parallelgeschichte der beiden Teile Deutschlands ins Auge zu fassen. 3

[15] 

Hier ist vielmehr das Panorama einer widersprüchlichen und konfliktreichen Periode entstanden, einer Periode, die nicht erst am 8. Mai 1945 beginnt, und deren Ende nicht eindeutig festzustellen ist. Dieses Panorama bringt vieles ans Licht, was sonst in Konferenzberichten und Qualifikationsarbeiten einem größeren Publikum verborgen bliebe, und vieles, was bisher ungesehen in Archiven ruhte – insgesamt ein erstaunlicher Akt der Vergegenwärtigung von Geschichte, für den allen beteiligten Bearbeitern, Autoren und Institutionen ausdrücklich zu danken ist.

 
 

Anmerkungen

»Als der Krieg zu Ende war...«. Literarisch-politische Publizistik 1945–1950. (Sonderausstellungen des Schiller-Nationalmuseums, Katalog Nr. 23). München: Kösel 1973.   zurück
Ludwig Fischer: Zur Rolle von Literatur im Prozess der Nachkriegs-Restauration. In: Literatur in der Bundesrepublik Deutschland bis 1967. Hg. v. Ludwig Fischer. (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Band 16). München: Hanser 1986, S. 89–96. Schon früher: Literaturmagazin 7: Nachkriegsliteratur. Hg. v. Nicolas Born und Jürgen Manthey. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1977. Und: Nachkriegsliteratur in Westdeutschland 1945–1949. Schreibweisen, Gattungen, Institutionen. Hg. v. Jost Hermand, Helmut Peitsch, Klaus R. Scherpe. (Literatur im historischen Prozeß, NF 3). Berlin: Argument 1982.   zurück
Hans Altenhein: Leserfragen an eine Geschichte des Buchhandels in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Mit vorläufigen Antworten. IASLonline Diskussionsforum: Probleme der Geschichtsschreibung des Buchhandels.   zurück