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Wer hat Angst vor einer Philosophie der Präsenz?

Hans Ulrich Gumbrecht blickt zurück nach vorn

  • Hans Ulrich Gumbrecht / Jürgen Klein (Hg.): Präsenz. (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1942) Frankfurt am Main: Suhrkamp 2012. 360 S. Broschiert. EUR (D) 15,00.
    ISBN: 978-3-518-29542-7.
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Einleitung

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In Hans Ulrich Gumbrechts neuer Publikation Präsenz wurde eine Auswahl seiner Aufsätze der Jahre 1984 bis 2004 versammelt, also altes Material, das in der Rückschau die zukunftsorientierte Vorgeschichte seiner gegenwärtig betriebenen Geschichtsphilosophie und ästhetischen Theorie vor Augen führt. Auf den knapp 350 Textseiten von Präsenz findet der Leser 17 ungefähr gleich umfangreiche Aufsätze in den vier Kapiteln »Zeit«, »Die Rahmen der Disziplinen«, »Suche« und »Präsenzen«. Die Abfolge der Kapitel geht vom Allgemeinen zum Speziellen, von der Beobachtung zum Angebot: Auf die Diagnosen zum gegenwärtig etablierten Chronotopos einer »breiten Gegenwart«, der 2010 Gegenstand der Buchpublikation Unsere breite Gegenwart war, folgen problematisierende Anmerkungen zum Status der geisteswissenschaftlichen Institutionen und den Folgen für das geisteswissenschaftliche Arbeiten. Zwei Aufsätze, die unter dem Relais-Begriff Suche zusammenstehen, werfen den Blick auf das Zu-Verabschiedende und entwerfen zugleich mehr ahnend als systematisch Wege in die Zukunft. Sie führen zu den Texten, in denen Gumbrecht seine Philosophie der Präsenz aus verschiedenen Perspektiven seit 1988 – als Mit-Veranstalter der Tagung zur Materialität der Kommunikation – umrissen hat. Daher auch der offene Kapitel-Plural Präsenzen im Gegensatz zum konziseren Buchtitel-Singular. Ein Nachwort von Jürgen Klein formuliert resümierend einen Zusammenhang der Texte mit den Aufgaben der gegenwärtigen Wissenschaft.

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Die bereits in der Antike eingeführte philosophische Kategorie der Präsenz führte in der philosophischen Diskussion des 20. Jahrhunderts bis in unsere Zeit hinein wahrlich kein Schattendasein (Phänomenologie, Derrida, Seel, Bohrer). Dennoch kam es im Jahr 2004 bei Gumbrechts Versuch der Etablierung einer »Produktion von Präsenz« als Gegen- beziehungsweise Komplementärmodell zu einer übermäßig intellektgesteuerten, sinnenlosen, körperfreien und unerotischen Behandlung der Dinge zu einem entrüsteten Aufschrei in Feuilleton und Wissenschaft – es sei hier nur an den Vorwurf der Anti-Hermeneutik und der mit ihm einhergehenden Furcht vor der Abschaffung geistiger Tätigkeit überhaupt erinnert. Klar ist vor diesem Hintergrund nun: Die eigentliche Geschichte von Präsenz beginnt 2004, dem Jahr der Buchveröffentlichung von Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz. Erst durch die aus dieser Publikation hervorgegangenen Diskussionen werden aus den alten Präsenz-Aufsätzen aktuelle Beiträge zur ästhetischen Theorie der Gegenwart.

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»Nicht einmal Epigonen sind wir« –
Eine andere Vorgeschichte von Präsenz

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Im ersten (Zeit) und zweiten Abschnitt (Die Rahmen der Disziplinen) thematisiert Gumbrecht die wissenschaftsgeschichtlichen und institutionspolitischen Zustände der letzten vierzig Jahre sowie deren Genese. Sie bilden die historische und sozialpolitische, freilich auch die geistesgeschichtliche (deutsche) Wissenschaftslandschaft ab, in der der Präsenz-Begriff etabliert werden müsste.

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Besonders Gumbrechts Vorstellungen von den Aufgaben der Geisteswissenschaftler als Stifter von Komplexität (bes. S. 161–168) und die konkreten Aufgaben der akademischen Fakultäten als Ort des unabhängigen Austauschs und der Weiterentwicklung dieser Komplexitäten werden von ihm, dem Kalifornier, in Deutschland vermisst. Risikolosigkeit, Angst vor »Irrtum« und »Fehler«, Angepasstheit grassierten besonders bei den jüngeren Forschern – daher auch Gumbrechts beißender Spott für den »selbstkastrierenden Geiz, der überall nur Analogien zum schon Bekannten sehen will« (S. 69). In Gumbrechts agonalem Wissenschaftsbild aber sind Kategorien wie Widerspruch, Selbstbehauptung, das fruchtbar Falsche und auch der emphatische Vatermord wichtige Elemente einer Dynamik des kulturellen Denkens. Die deutschen Geisteswissenschaftler um die Vierzig sind jedoch, so lässt sich seine reichlich enttäuschte Analyse wohl zusammenfassen, zahm, autoritätsgläubig und hängen noch immer an den Helden ihrer Eltern, anstatt selber Helden zu schaffen, anstatt selber Helden zu werden. Ein positiver Begriff von Negativität, wie ihn übrigens unlängst auch Peter Sloterdijk als Antrieb des Denkens ausrief, existiere nur selten.

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Das eine Wort, das eine solche Generation beschreibt, heißt »epigonal«. Doch, so lässt sich die Analyse allgemeingesellschaftlich erweitern, »nicht einmal Epigonen sind wir« (S. 67). Denn wir haben ein Werteproblem in »unserer breiten Gegenwart«, in der alles verfügbar und alles gleich viel wert ist. Der Epigone fühle »sich doch wenigstens heimlich beschämt« (S. 67) von seiner unproduktiven Nachgeburtschaft, in der immer alles schon da, verfügbar und gleich viel wert ist. In diesem Sinne skizziert Gumbrecht denn auch bissig ein Kulturwissenschaftlerpaar, dem er genüsslich dessen institutionell verankerte, staatlich geförderte Irrelevanz seines Denkens, Tuns und Daseins vorhält (S. 80 ff.).

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Möglichkeiten einer Philosophie der Präsenz

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Gumbrechts Theorie-Angebot der Präsenz reagiert auf längst etablierte kulturelle Praktiken und seelisch-geistige »Zustände« des westlichen Menschen; es reagiert auf die Bevorzugung des Sinns, der rein geistig konzipiert ist und die intellektuell erschaffene »Bedeutung von etwas« meint, gegenüber der Materie. Die eingeführten Begriffe für die beiden Pole kultureller Konzeption sind Präsenzkultur und Repräsentationskultur (S. 216), wobei die westliche Kultur ziemlich genau seit Descartes – und trotz der seit Foucault allgemein anerkannten »Krise der Repräsentation« – tendenziell immer weiter und vielleicht auch immer noch stärker die Repräsentation über die Präsenz stellt, den Sinn über die Materie, also das Bezeichnete über das Bezeichnende. Aus der Negation heraus formuliert ist die Kultur unserer Gegenwart ob dieses Ungleichgewichts durchdrungen von einer Angst vor dem Verlust des Konkreten und Körperlichen. Positiv formuliert ist sie durchdrungen von einer Sehnsucht nach ihnen, was sich vor allem in den kulturellen Systemen manifestiert, die Gumbrecht denn auch vorrangig analysiert: Kunst und Sport.

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Vorarbeiten zu einer Beschreibung der Genese unserer Gegenwart findet er in den Arbeiten von Niklas Luhmann und Michel Foucault, während er wiederkehrend die Denkansätze von Jacques Derrida und Martin Heidegger zum Ausgangspunkt einer gedanklich-konzeptionellen Weiterführung verwendet. In Gumbrechts Geschichtsbild ist René Descartes das Verhängnis, Wilhelm Dilthey der Feind. Jedenfalls ist Dilthey derjenige, der uns als abendländische Gesellschaft – und die von ihrem Namen bereits verratenen Geisteswissenschaftler voran – an der Schwelle zum 20. Jahrhundert in diese aktuelle Sehnsucht nach Präsenz trieb. Beide Denker haben, so Gumbrecht, durch ihre folgenschweren Trennungen zwischen Körper und Geist, Objekten und Bedeutung, Oberfläche und Sinn, Materiellem und Immateriellem und ihrer generellen Abwertung der erstgenannten Kategorien dafür gesorgt, dass wir einen Begriff von Präsenz aus der Ignoranz gegenüber dieser Kategorie überhaupt erst konzeptualisieren müssen, anstatt ihn selbstverständlich in unserem Alltag zu erfahren und zu praktizieren.

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Die Initiation einer Philosophie der Präsenz dient nun dazu, ein begriffliches Instrumentarium zu entwickeln zur Beschreibung von Präsenzerfahrungen und der in den Phänomenen liegenden Strukturen, die Präsenzerfahrungen überhaupt erst möglich machen. Was an/in dem Kunstwerk, dem Körper, dem Moment im Spiel ist es, dass wir auf eine bestimmte, derzeit noch nicht beschreibbare Art und Weise darauf reagieren? Dieses Instrumentarium könnte also die Produktions- und Rezeptionsprozesse erfassen, die längst schon Teil unserer Lebenswelt sind. Dann hätten wir eine Sprache zur Verfügung, die es erlaubt, »Phänomenen ohne primäre Repräsentations-Dimension« (S. 224) als das zu begegnen, was sie sind: Auslöser für nicht intellektuell erfasste, sondern körperliche oder emotionale Vorgänge. Gumbrechts Ausführungen sind daher weder anti-hermeneutisch und schon gar nicht anti-intellektuell, sondern zunächst einmal der Versuch, Phänomene zu ihrem Recht kommen zu lassen. Die Selbstverständlichkeit – und mit ihr leider die Selbstherrlichkeit –, mit der die Hermeneutik als allgemeine Lehre von der Kunst der Sinnoffenbarung sich selbst als alleinseligmachende Bedeutungsgenerierung auch heute noch sieht und weitgehend angewandt wird, will er aufbrechen.

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Dann gäbe es Platz für Fragen nach den Dingen nicht im Hinblick auf das, was sie uns »sagen«, sondern wie sie »unsere Körper affizieren« (S. 297); für Fragen nach ihrer Materialität, performativen Aspekten und so weiter. Allerdings, so darf man optimistisch sagen, wird genau dies in der gegenwärtigen Wissenschaftslandschaft auch getan, indem es zu einer Ausdifferenzierung der Disziplinen gerade in diesen neuen Forschungsfeldern kommt. Präsenz könnte nun aber vielleicht ein bündelnder Begriff sein, der bisher Verstreutes zusammenbringt. Denn derzeit wäre der in den 1970er Jahren ausgebildete Begriff der »ästhetischen Erfahrung« wohl noch der tauglichste, räumte er doch im Bereich der Kunst bereits mit der Vorstellung einer dem Kunstwerk einwohnenden »Wahrheit« endlich auf. Doch kann er, so Gumbrecht, nicht vereinheitlicht werden mit dem »Feld, auf dem wir heute de facto ästhetische Erfahrungen machen«. Dieses hat »sich längst verschoben […] gegenüber den Denotationen und Konnotationen, welche der Begriff ›ästhetische Erfahrung‹ immer noch abruft« (S. 332) und es fehlt ihm also schlicht an gegenstandsangemessener Präzision.

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Gerade an Präzision mangelt es allerdings auch noch dem Präsenz-Begriff, was einerseits daran liegt, dass es vielleicht unmöglich ist, ihn als Begriff exakt fassen zu wollen. Denn dies würde ja bedeuten, ihn verlustfrei in die Sphäre, von der er gerade getrennt sein sollte, zu versetzen und »Sinn« zum Thema Präsenz zu produzieren. Andererseits resultiert diese Unschärfe auch aus der buchstäblich grenzenlosen Weite seines Gegenstandsbereiches. Denn einfach alles Dinglich-Stoffliche, Raum-Füllende kann zu einem Auslöser für eine Präsenz-Erfahrung werden. Kunstwerke dürften dabei ein bevorzugter Gegenstand sein, denn ihre Gestaltung zielt bereits auf intensive Rezeption durch die Sinne. Gumbrecht ist demgemäß an ihnen am meisten interessiert, allerdings bleibt auch hier das zu bearbeitende Korpus unabsehbar: Musik, bildende genau wie darstellende Kunst, Film, Literatur, Architektur, Landschaftsgärtnerei, Tanz – die spezifischen Beschaffenheiten der Teilsysteme, die unter dem Begriff Kunst gemeinhin versammelt werden, sind im Präsenz-Begriff bisher aufgehoben. Das macht den Begriff vor allem auch anthropologisch interessant, aber als ästhetischen Begriff schwierig. Zudem ist Präsenz anders als Sinn nicht übertragbar, sondern nur beschreibbar. Doch sogar seine Beschreibbarkeit selbst müsste noch bewiesen werden; der Unsagbarkeitstopos zum Beispiel spräche gegen sie.

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Aber Gumbrechts häufig mit Bewegungsmetaphern dargestellte Erkenntnisanstrengungen helfen nicht nur, eine neue Sprache zu finden, sondern lassen sich als Prozess begreifen, der den Erkenntnis-Begriff selbst aus seiner reduzierten Fixierung auf Sinn und die aus ihm abgeleitete Dichotomie von Geist und Körper erweitern hilft. Doch hier bleibt er vorsichtig. Denn wenn er formuliert, dass vielleicht »gerade ein Oszillieren zwischen Erfahren und Wahrnehmen jene lebhafte Existenzform und jene agile Form des Denkens« (S. 259 f.) sein könnte, so scheint das doch den Graben zwischen dem Erleben und dem Denken noch tiefer zu ziehen, zumindest diesen Graben als Graben anzuerkennen. Zwar stimmt es: Es gibt keinen Weg zurück, Geschichte ist getan. Aber die schematisch vollzogene Trennung, die in die Repräsentations- und die Präsenzkulturen mündete, könnte mit verschiedenen Denkmodellen neu durchdacht werden.

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Dazu wäre es nötig, Sinn und Präsenz semantisch neu zu bestimmen. So wäre Kierkegaards »ekstatischer Vortrag« über den philosophischen Gesichtspunkt der Ewigkeit als vor dem Entweder–Oder liegend den Versuch einer begrifflichen Neu-Bestimmung wert, die dann ohne die beinahe kontravalent etablierte Dichotomie vorauszusetzen geschehen müsste. 1 Auch Nietzsches aus dem Nachlass überlieferter Versuch einer Erweiterung des Interpretations-Begriffs auf organischer, zellulärer Ebene könnte hilfreich sein. Dann wäre Interpretation nicht ein von der Hermeneutik definiertes und beherrschtes Verfahren »reiner Geistigkeit«, sondern würde einen neuen Erkenntnis- und Bedeutungs-Begriff ermöglichen, dem eine körpergeistige Einheit zu Grunde läge. Denn nach Nietzsche interpretiert jede Zelle und generiert »Bedeutung«; jedes Erleben, jeder sinnliche Eindruck ist bereits eine Interpretation: »Das Nervensystem und das Gehirn ist ein Leitungssystem und ein Centralisationsapparat zahlloser Individual-Geister von verschiedenem Range. Das Ich-Geistige selber ist mit der Zelle schon gegeben. / Vor der Zelle giebt es keine Ich-Geistigkeit, wohl aber entspricht allem Gesetzmäßigen d. h. dem Relationscharakter alles Geschehens nur ein Denkvorgang (Gedächtniß und Schluß)« 2 . Doch Nietzsche fehlt leider überhaupt weitgehend in Gumbrechts Schreiben, nicht allerdings in seinem Denken, was einen Anschluss der beiden Denkformen fruchtbar scheinen lässt.

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Eine Literaturwissenschaft der Präsenz

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Wenn eine Philosophie der Präsenz mit dem universalistischen Anspruch auftritt, bestimmte Effekte aller künstlerischen Formen beschreibbar zu machen, dann wird die traditionell als unsinnlichste begriffene, stattdessen am stärksten mit Sinn verbundene Kunstform, die Literatur, die am schwierigsten zu integrierende sein. Vor allem die westlichen Alphabetschriften suggerieren in ihrem hohen Abstraktionsgrad eine Redundanz des bloß als Träger notwendigen Materials gegenüber den vermittelten Bedeutungen – eine im Abendland beispiellos fest etablierte Rezeptionspraxis. Sich also wieder »geistlos« auf Buchstaben zu konzentrieren, bedarf paradoxerweise einiger Mühen, wie Friedrich Kittler mit Blick auf den gelehrten, nun aber zum neuen Schauen gezwungenen Abschreiber und angehenden Dichter Anselmus in Hoffmanns Goldenem Topf spöttelte: »Man muß schon gut erzogen sein, um Handschriften überhaupt nicht als Tintenkleckse zu sehen.« 3

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Sich gegen die hermeneutische Anstrengung zu wenden, »Wahres« hinter den Zeichen zu finden, das »eigentlich« Gemeinte hinter den Tintenklecksen freizulegen, ist spätestens seit Susan Sontags Polemik Against Interpretation von 1964 nicht mehr ungewöhnlich. Dass nun Hans Ulrich Gumbrechts Texte nicht so sexy wie Susan Sontags daherkommen, darf man ihm kaum vorwerfen. Doch unausgesprochen tritt er wie die New Yorkerin für »eine Erotik der Kunst« 4 ein, verteidigt ein sich-aussetzendes Genießen gegen einen reduktionistischen Begriff von »Verstehen«, in dem körperliche Erfahrungen zunächst einmal als solche überhaupt zugelassen werden.

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Sontags Ansatz blieb allerdings unentschieden zwischen Repräsentation und Präsenz. Diese fehlende Präzision lässt sich auch bei Gumbrecht beobachten, denn wie lässt sich Literatur, also Geschriebenes als Geschriebenes, mit dem Begriff der Präsenz fassen? Es ist ja kein Zufall, dass Sontags Verwerfung der Interpretation im Falle der Literatur – Tennessee Williams’Endstation Sehnsucht – sich nicht auf die Materialität der Schrift bezog, sondern auf performative Elemente und zugleich, ohne diese doppelte Ebene zu thematisieren, die offensichtliche, »oberflächliche« Bedeutung der Worte gegenüber der angeblich versteckten, bevorzugte. Schrift ist bei ihr nicht, was sie ist: geformte Tinte, Papier und so weiter; Schrift ist, was da steht. Dieser Ansatz hieße übertragen in Gumbrechts Terminologie, Repräsentation nicht restlos aufzugeben, sondern Interpretation zu Gunsten einer »buchstäblichen« Lesart zu verweigern. Dies könnte auch für eine Literaturwissenschaft der Präsenz von Interesse sein, wäre aber zum jetzigen Zeitpunkt der Auseinandersetzung wohl eher Konturen-verwischend und erschwerte also die Arbeit an den Begriffen.

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Um Klarheit zu erlangen, müsste Literatur zunächst definiert werden. Nicht mehr primär als Erlebnis des Geistes, der Imagination oder überhaupt der Innerlichkeit, wie sie historisch betrachtet auch die deutlich kürzere Zeit aufgefasst wurde. Wenn sie jedoch nicht mehr durch Lesen (verstanden als die Übersetzung der Zeichen in Bedeutung), sondern durch Anschauen und/oder in ihrer performativen Dimension rezipiert wird, durch Effekte des Klangs, Rhythmus, durch gestisch-mimische Vermittlung, dann kann auch die wahrgenommene Schrift als Auslöser einer Präsenzerfahrung dienen. Denn Präsenz meint eine körperliche Reaktion auf ein körperlich-räumliches Ereignis. Daher müsste eine Literaturwissenschaft der Präsenz, sofern man sie überhaupt noch als Einzeldisziplin benötigt und nicht in einen weiteren wissenschaftlichen Rahmen einspannen will, erst einmal in einem neuen Literaturbegriff die Forschungsergebnisse der letzten vierzig Jahre (zur Materialität, Performanz, Oralität/Literalität, zu den Medienproblemen usw.) integrieren. Dabei kann es nicht darum gehen, die materiale Dimension von Schrift wieder als Sinn-Stiftung auszudeuten, also als Träger geistigen Gehalts, der sich als Immaterielles durch Materielles offenbart. Das wäre nur ein Umweg zur Repräsentation und man befestigte damit nur die Herrschaft des Sinns über die Materie. Zudem sind solche Rezeptionsformen bereits verbreitet. Vielleicht lässt sich das Aufgabengebiet einer Literaturwissenschaft der Präsenz über zwei hier grob strukturierte Zugänge angeben:

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1. Körperliche Reaktionen gegenüber der konkreten Materialität der Schrift. Zwar nimmt Schrift immer Raum ein und lässt sich entsprechend als Phänomen beschreiben, aber Schrift ohne Sinn zu schauen, scheint nicht nur schwierig, sondern verspricht nicht sonderlich viel Erkenntnisgewinn. Sprachliche Zeichen in ihrer Materialität nur als physisch wirksam zu erleben und zu beschreiben, wird ihrem Leistungsumfang auch nicht gerecht. Vielleicht könnte jedoch der bereits zum beliebten Gegenstand der Forschung avancierte Liebesbrief des späteren 18. Jahrhunderts und der Empfindsamkeit mit dem klassischen An-den-Busen-Drücken des Papiers, dem Küssen bestimmter Stellen, der Tränenschrift und der spezifischen Bedeutung des oft vor Zeichen übervollen Schriftbildes zum Initiationsgegenstand werden. Historisch bereits entsprechend konzeptualisierte Phänomene gibt es natürlich ebenfalls. So der von Friedrich Kittler mit dem Begriff der Psychophysik analysierte Paradigmenwechsel in der Produktion und Rezeption sprachlicher Zeichen im »Aufschreibesystem« von 1900 oder – freilich einzeln und selten verbleibende – Positionen wie die Ästhetisierung konkreter Materialität von Drucklettern, wie sie Christoph Martin Wieland über die Prillwitz-Antiqua formulierte, in der seit 1794 seine Sämmtlichen Werke gedruckt wurden: »Ich kann mich nicht genug an der reinen Schönheit dieser Lettern ergötzen. Eine jede ist in ihrer Art – eine Mediceische Venus; lachen Sie nicht über diese anscheinende Hyperbole!« 5

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2. Körperliche Reaktionen, die beim »Vollzug« von Literatur auftreten, sowie die Untersuchung ihrer textuellen Bedingungen. Das hieße zuzulassen, dass Literatur in performativer Form durch bestimmte, beschreibbare energetische Phänomene körperlich wirksam erfahren werden kann. Gumbrecht selbst hat schon früh, 1988 in der Materialität der Kommunikation, den Rhythmus als paradigmatisch zu fassen versucht (Rhythmus und Sinn, hier S. 223–239). Das bedeutet, die diskursiven Ebenen freizulegen, unter denen Präsenzerfahrungen literarisch gestaltet wurden. Auch hier hat Gumbrecht ein erstes Beispiel vorgelegt, in dem er Federico García Lorcas New Yorker Poesie als Versuch einer poetischen Form für die Darstellung bestimmter Zustände analysiert, die sich wiederum dem Leser als eben diese Zustände mitteilen (Präsenz. Gelassenheit, S. 309–331). Nicht allerdings durch Interpretation, sondern durch die Spezifik zum Beispiel der Bildersprache oder der Lautlichkeit.

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Während der erste Punkt zwar bereits recht gut erforscht, aber erklärungsbedürftig gegenüber einer spezifisch literarischen Behandlung unter der Leitkategorie Präsenz ist, so ist der zweite die große Herausforderung, die auch einen neuen, umfassenderen Literatur-Begriff benötigt. Für beide Aufgaben fehlt zudem noch weitgehend das sprachliche Instrumentarium, um die gestalteten Strukturen dieser Erregungs-, Erfahrungs- oder Erlebnis-Dimensionen in Worte zu fassen. Für eine Literaturwissenschaft der Präsenz müsste es also gelingen, neue Analysemethoden und -mittel zu entwerfen sowie einen neuen Literatur-Begriff zu entwickeln, der nicht zugleich die Abschaffung der Literaturwissenschaft mit sich bringt.

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Schluss: Wozu eine Philosophie der Präsenz?

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Neben der Fülle mehr oder weniger überzeugender Gründe, die schon Hans Ulrich Gumbrecht in seinen oft zwischen analytischen und essayistischen Teilen changierenden Texten anbietet – sich damit selbst schon dem Phänomen Präsenz textlich nähernd –, soll hier nur auf das vielleicht überraschende aufklärerische Potenzial dieses Denkens verwiesen werden. Entgegen den leichthin ausgesprochenen Vorwürfen während der letzten acht Jahre ist Gumbrechts Philosophie der Präsenz Teil der Aufklärung, die die Dynamik des Denkens und Lebens als stetigen Akt der Produktion gegen die Statik von Gegebenem und von untragbar gewordenen metaphysischen Begriffen wie »Wahrheit« stellt. Natürlich glaubt heutzutage jeder Wissenschaftler, sein Denken wäre eingebunden in einen Pool von Möglichkeiten und keiner verkündet lauthals »die Wahrheit« – doch in der Praxis konstruiert noch beinahe jedes Denksystem seine Vorgänge und damit seine Ergebnisse aus der angenommenen Existenz dieses idealistischsten aller idealistischen Begriffe.

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Die Philosophie der Präsenz würde nun vollends aufklärerisch werden und wirken, wenn Gumbrecht noch seine ganz unnötig sentimentale Schwäche für die alten, belasteten Begriffsruinen wie Epiphanie und Erlösung ablegen und den restbeständigen Ballast der Transzendenz herausnehmen könnte. Dann erst kann die Konzentration auf Präsenz als Philosophie der Gegenwart, die eine Philosophie des Diesseitigen sein soll, volle Gültigkeit beanspruchen. Denn gerade nicht die Hinterwelt des Sinns, gerade nicht die Repräsentationskultur, die den Stolz der westlichen Intellektualität ausmacht, sondern die reflektierte Diesseitigkeit einer Wissenschaftssprache, die den Dingen der Welt als Dingen der Welt gerecht wird, vermag den »idealistischen Hochmut« 6 aller Sinn-Deuter und Geist-Verkünder zu vermeiden, deren einseitige Konzentration auf die Bedeutung hinter den Zeichen längst schon wieder zu einer geistfeindlichen Ideologie umgeschlagen ist. Dies hat, wieder einmal als Anfang eines neuen Denkens, Nietzsche längst schon programmtisch für uns vorformuliert: »und wenn wir diese Zeichen-Welt als ›an sich‹ in die Dinge hineindichten, hineinmischen, so treiben wir es noch einmal, wie wir es immer getrieben haben, nämlich mythologisch.« 7

 
 

Anmerkungen

Vgl. Sören Kierkegaard: Entweder – Oder. München: DTV 72003, S. 49–51.   zurück
Friedrich Nietzsche: NF-1884,26[36]. In: F. N.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. von Giorgio Colli / Mazzino Montinari. München, New York 1967–1977. Bd. 11: Nachlaß 1884–1885. München, New York: DTV / de Gruyter 1999, S. 157. Vgl. dazu auch die Anmerkungen von Per Röcken: »Insofern es hier stets um die potentielle Zeichenhaftigkeit und um semantische Potentiale der nunmehr ›präsenten Dinge‹ geht, läuft dieser anti-hermeneutische Affekt m.E. eher auf eine Erweiterung der Hermeneutik (oder einfach: auf eine andere Hermeneutikkonzeption) hinaus.« (Per Röcken: Was ist – aus editorischer Sicht – Materialität? Versuch einer Explikation des Ausdrucks und einer sachlichen Klärung. In: editio 22. Hg. von Rüdiger Nutt-Kofoth, Bodo Plachta und Winfried Woesler. Tübingen 2008, S. 28–46. Hier: S. 30).   zurück
Friedrich A. Kittler: Aufschreibesysteme 1800 ◦ 1900. München: Wilhelm Fink 42003, S. 126.   zurück
Susan Sontag: Gegen Interpretation. In: S. S.: Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen. Frankfurt/M.: Fischer 1999, S. 11–22. Hier: S. 22.   zurück
Brief Wielands an Georg Joachim Göschen, geschrieben zwischen dem 30. Januar und 3. Februar 1794. In: Wielands Briefwechsel. Hg. v. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften durch Siegfried Scheibe. Bd. 12.1 (Juni 1793 – Juni 1795). Berlin: Akad.-Verl. 1993, S. 140.   zurück
»Idealistischer Hochmut sieht im Buch immer nur die Funktion, den Kanal, den vergänglichen Datenträger, auf dem die Botschaft, der Geist, die dauerhafte Wahrheit übermittelt wird.« So Peter von Matt in: Die handgreifliche Seite der geistigen Dinge. Lichtenberg und die Materialität der Bücher. In: P. v. M.: Das Wilde und die Ordnung. Zur deutschen Literatur. München: Hanser 2007, S. 108–117. Hier: S. 109.   zurück
Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. In: F. N.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. von Giorgio Colli / Mazzino Montinari. München, New York 1967–1977. Bd. 5: Jenseits von Gut und Böse / Zur Genealogie der Moral. München, New York: DTV / de Gruyter 1999, S. 37.   zurück