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Manfred Riedels Testament

Stefan George und »das geheime abendländische Deutschland«

  • Manfred Riedel: Im Zwiegespräch mit Nietzsche und Goethe. Weimarische Klassik und klassische Moderne. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 2009. IX, 250 S. Leinen. EUR (D) 69,00.
    ISBN: 978-3-16-150085-5.
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Der Lebensweg eines heimlichen Georgianers

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In den letzten Jahren vor seinem Tod – er starb im Alter von 73 am 11. Mai 2009 – widmete sich der Philosoph Manfred Riedel zunehmend einer Figur und einer geistigen Welt, die während des Großteils seiner Karriere so verpönt oder zumindest ideologisch suspekt waren, dass man sich öffentlich kaum, es sei denn ablehnend oder höchstens mit größter Ausgewogenheit, darüber äußerte. Doch gegen Ende seines Lebens gab sich Riedel mit wachsender Intensität und spürbarem persönlichem Einsatz einer Weltanschauung hin, von der man glaubte, sie sei von der Geschichte endgültig widerlegt und überholt worden. Es nimmt also nicht Wunder, dass Riedel vielerorts auf das Unverständnis und sogar die Irritation mancher seiner Kollegen gestoßen ist. Selbst diejenigen, die seine neueren Arbeiten als »remarkable and inspiring« schätzten, erkannten, dass deren »central argument […] certainly not ›academic‹« sei, das heißt, dass sie von viel größeren Ambitionen als nur wissenschaftlichen getragen wurden. 1 Es war auf jeden Fall ein denkwürdiger Ausgang einer außergewöhnlichen akademischen Laufbahn: Was den einen wie ein mutiger Vorstoß in Bereiche von übergreifender Signifikanz vorkam, erschien den anderen wie eine widerspenstige Demontage des eigenen Rufs.

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Bis dahin nämlich wies Riedel eine in vielerlei Hinsicht beeindruckende, ja beneidenswerte Gelehrtenbiografie auf. Sein Studium begann er in Leipzig, wo er zwischen 1954 und 1957 Philosophie und Germanistik bei Ernst Bloch, Hans Mayer und H. A. Korff studierte. Nach erfolgter Übersiedlung in den Westen schloss er seine Studien bei Karl Löwith, Hans-Georg Gadamer, Arthur Henkel und Werner Conze in Heidelberg ab. Mit einer Arbeit über Theorie und Praxis im Denken Hegels 1960 promoviert, begann Riedel darauf eine vergleichsweise lange und abwechslungsreiche Periode der akademischen Wanderschaft – er lehrte in Heidelberg, Marburg, Saarbrücken, Erlangen-Nürnberg, aber auch in New York, Atlanta/Georgia, Turin, Rom und Venedig – bevor er 1992 den Lehrstuhl für Praktische Philosophie an der Martin-Luther Universität Halle-Wittenberg übernahm, den er bis zu seiner Emeritierung 2004 innehatte. Vor der Berufung schrieb er vielbeachtete Bücher über Aristoteles, Kant, Moralphilosophie, Gesellschaftstheorie, Hermeneutik und immer wieder Hegel. Sogar ein gewisser internationaler Anklang seiner Arbeiten blieb nicht aus: Sein ursprünglich 1969 veröffentlichtes Werk Zwischen Tradition und Revolution: Studien zu Hegels Rechtsphilosophie wurde beispielsweise ins Japanische, Koreanische, Spanische und Italienische übertragen und ist schließlich 1984 in englischer Übersetzung bei Cambridge University Press erschienen.

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Der Fall der Mauer bedeutete aber für Riedel nicht nur eine letzte, fast allzu verspätete Möglichkeit, berufliche Ziele zu erreichen, sondern offensichtlich auch eine Umorientierung seines intellektuellen Horizonts. Oder – wer kann es wissen? – vielleicht gewährten ihm die Wende und die dadurch ermöglichte Rückkehr auf heimatlichen Boden die Freiheit, lang gehegten aber unausgesprochenen Wünschen und Wertsetzungen zu guter Letzt offenen Ausdruck zu verleihen. Es kann jedenfalls als durchaus symptomatisch für diese neue oder tatsächlich immer schon gegebene, aber verdeckte Einstellung gelten, dass Riedel das Wort »Wende« verwarf und stattdessen den eigens erfundenen Ausdruck »Zeitkehre« verwendete, um die politischen und kulturellen Umbrüche in Deutschland um 1989 zu bezeichnen. 2 Wie auch immer, im Wechsel der Geschicke inmitten Europas erblickte Riedel eine Chance – aber ebenfalls eine Gefahr.

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Nicht zufällig erinnert Riedels Wortprägung an Stefan George. Denn George war es, der nach der »Zeitkehre« und besonders zuletzt immer mehr ins Zentrum seiner Überlegungen rückte. Eingeleitet oder vorbereitet wurde diese späte Hinwendung zu George durch Riedels in den späten achtziger Jahren einsetzende intensive Beschäftigung mit Nietzsche, wobei es Riedel nicht nur sachlich auslegend, sondern auch positiv aufbauend auf die Ausarbeitung einer »Alternative zur aufkommenden Denkanarchie der ›Postmoderne‹« ankam. 3 Diese konstruktivistische Auseinandersetzung mit der Gegenwart durch einen eigenwilligen Rekurs auf eine selektiv gedeutete Vergangenheit erreichte einen vorläufigen Höhepunkt in Freilichtgedanken. Nietzsches dichterische Welterfahrung (1998), worin Riedel das Konzept des »schönen Lebens« ausdrücklich »als Maß und Korrektiv für die Moderne« aktualisieren wollte. 4 Überraschenderweise taucht George, der mit dem der Begriff des »schönen Lebens« doch am engsten identifiziert wird, in diesem Buch nur am Rande auf, aber vielleicht hielt Riedel die Zeit damals für noch nicht günstig genug, um den eigentlichen Urheber dieser Konzeption zu offenbaren. 2006 schien endlich der Moment gekommen zu sein, den Schleier zu lüften: Geheimes Deutschland: Stefan George und die Brüder Stauffenberg ist trotz des Titels weit mehr als nur eine Rekapitulierung der bekannten Umstände um das versuchte Attentat vom 20. Juli 1944. Es ist vielmehr eine Art ideengeschichtliches Manifest mit explizit politischem Geltungsanspruch. Riedel sah in dem Text des »Schwurs«, den die Verschwörer im Geist Stefan Georges verfasst hatten, eine ideelle Vorlage für die Neuordnung nicht nur Deutschlands, sondern ganz Europas. »Wir wissen im Deutschen die Kräfte,« so heißt ein zentraler Satz des Dokuments, »die ihn berufen, die Gemeinschaft der abendländischen Völker zu schönerem Leben zu führen«. 5 In einer kritischen Rezension von Riedels Buch in der Neuen Zürcher Zeitung schrieb der Soziologe Stefan Breuer mit reichlichem Understatement, dass es »mehr als fraglich« sei, ob sich Europa heute einem solchen Konzept fügen würde, »nicht allein wegen des darin enthaltenen Hegemonialanspruchs, sondern auch, weil das ›schönere Leben‹ nur im Rahmen einer stratifizierten Sozialordnung möglich ist, die herzustellen es nicht weniger als einer totalen Revolution bedürfte«. 6

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Die Krise der Moderne

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Was Breuer wohl nicht gänzlich wahrhaben wollte, ist die Tatsache, dass Riedel in seiner Auffassung von Georges Bedeutung und Rolle in der neuzeitlichen Kultur eine solche »Revolution« schon voraussetzt und begrüßt, die aber in seinen Augen leider missglückt oder vereitelt sei. In Riedels letztem, postum veröffentlichtem Buch, Im Zwiegespräch mit Nietzsche und Goethe: Weimarische Klassik und klassische Moderne, kommt George im Titel zwar nicht vor, aber er bildet das wahre, doch gleichsam geheime, Zentrum des Werks, dessen »Schlussfolgerung« ist, so Riedel, »dass George nicht aus unserer Geschichte zu streichen« (S. 8) sei. In Wirklichkeit beanstandet Riedel freilich nicht so sehr die Marginalisierung oder gar Negation Georges im allgemeinen geschichtlichen Bewusstsein als dessen vermeintliche Fehldeutung durch Unbefugte. Riedel will George retten, doch will er dadurch weniger der Vergangenheit gerecht werden als Möglichkeiten für die Gegenwart und Zukunft öffnen. Riedels Glaubensbekenntnis in dem, was er »Statt eines Vorworts« nennt, hat zumindest den Vorteil, von unzweideutiger Klarheit zu sein:

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Angesichts wachsender Geschichtsignoranz und Voreiligkeit im Aburteilen von Vergangenem teile ich die heute immer stärker gehegte Furcht vor einer gänzlichen Auflösung alles geschichtlich Überlieferten ohne jeden Halt. Was den Verlust europäischer Identität, des Anhalts an der Humanitätsidee mit sich bringen und eingerissene Barbarisierungen unseres Alltagslebens beschleunigen müsste. Um so mehr bestärkt mich die Hoffnung, dass eine neue Wissenschaftler- und Publizistengeneration die Nachkriegsvorurteile ihrer Väter, und das heißt zugleich: der 68er Generation, durch wissenschaftliche Redlichkeit und Ausübung hermeneutischer Grundtugenden (das Ringen um »richtiges« und »gerechtes« Verstehen) den längst fälligen Revisionsprozess anstrengen und das hohe Geistergespräch vor Herabziehungen »ins Nichts« bewahren wird. (S. 8)
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Das ist die Sprache eines streitbaren, unnachgiebigen Konservativen, der weder aus seiner Geringschätzung Andersdenkender noch aus seiner Verehrung für eine, wie er glaubt, fast versunkene und auf jeden Fall bedrohte Tradition einen Hehl macht. Doch Riedel begnügt sich nicht mit Richtigstellungen vermeintlich falscher Interpretationen oder der Bewahrung und Sicherung von gefährdeten Kulturgütern vor dem Vergessen oder der Vernichtung. Er will vielmehr offensiv deren Angreifer bekämpfen und zieht dementsprechend stürmisch ins Feld. Immer wieder stößt man auf Passagen wie die folgende:

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Die wachsende Verhässlichung der Umwelt durch die Technik, die Unterwerfung aller Dinge unter die Gesetze der Warenproduktion für einen Weltmarkt (was heute »Globalisierung« heißt) und die damit verbundene Enteignung menschlichen Selbstseins lassen sich inzwischen in ihrer ganzen Tragweite erkennen an der Verflachung des Lebens, sichtbar an jedem Gerät, das der Mensch zu seiner Bequemlichkeit schuf, den Kleidern, die er anzog, den Häusern, die er bewohnte. (S. 137)
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In seinen Kommentaren über die Ansichten Goethes und Nietzsches in ihrem suggerierten »Zwiegepräch« mit George lässt es sich aber nicht immer so eindeutig wie in dem obigen Zitat erkennen, ob Riedel die angeführten Meinungen bloß wiedergibt oder auch seinerseits teilt. Da liest man von dem »allgemeinen Notstand aller modernen, durch den technisch-wissenschaftlichen Fortschritt verknüpften, Völker, dass unter ihnen überall die Sprache erkrankt ist und die menschliche Entwicklung durch diese ungeheuerliche Krankheit bedrückt wird« (S. 92 f.), wobei nicht ganz klar ist, ob Riedel diese doch mit schwerer Fracht beladene Sprache auch als die seinige führt. In ähnlicher Weise schreibt er: »Hofmannsthal hat nie aufgehört, George zu verehren […] Er anerkannte, dass sich George fast allein der angebrochenen Kulturbarbarei mit Macht entgegenwarf und gegenüber dem vorherrschenden Individualismus die Würde geistigen Daseins wieder zu Ansehen und Geltung brachte« (S. 211). Die verwischte Grenze zwischen der Auslegung vorgegebener Texte und der Propagierung eigener Meinungen, ob beabsichtigt oder nicht, führt dazu, dass der Leser nicht genau weiß, was wessen Perspektive vermittelt. Doch wer von »Redlichkeit« und »hermeneutischen Grundtugenden« spricht, muss es sich gefallen lassen, dass die gleichen Maßstäbe auch an ihn angelegt werden. Was also hat es denn mit den positiven Vorstellungen, insbesondere der von Riedel so oft beschworenen »Humanitätsidee«, Georges eigentlich auf sich?

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Betrachtungen eines Unzeitgemäßen

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Nehmen wir ein konkretes Beispiel: In einem Exkurs über Georges anfängliche »Kreisbildung« durch die von ihm herausgegebene Zeitschrift Blätter für die Kunst notiert Riedel, dass George »nicht ›alle‹ oder ›viele‹, sondern wenige umwarb, unter klarer Ablehnung alles Massenhaften. Und an den Vielen vorbeigehend, war George doch weit davon entfernt, die ›Viel-zu-Vielen‹ etwa ähnlich zu attackieren wie Nietzsche« (S. 109). Da reibt man sich schon ungläubig die Augen: George, der Dichter von »Die tote Stadt«, der in den Fluch ausbricht: »Schon eure zahl ist frevel«; 7 der gestrenge Gesetzgeber vom Stern des Bundes, der den Tod von »Zehntausenden« durch »den heiligen krieg« 8 als alleinige Lösung des gegenwärtigen Übels imaginiert; dieser George solle die Mehrzahl der Menschen nicht verworfen, ja am liebsten nicht ins Jenseits oder vielmehr den Orkus gewünscht haben? Diese Akzeptanz, mehr noch: Befürwortung eines Massensterbens als legitime politisch-gesellschaftliche Korrekturmaßnahme darf nicht als eine rein lyrische Attitüde oder spielerische Selbststilisierung verstanden werden, sondern ist wörtlich zu nehmen. In einem Gespräch mit Edith Landmann über die Überbevölkerung im damaligen Deutschland meinte George, es gäbe einen einfachen Ausweg. »Wenn es dem lieben Gott gefiele, und wir statt siebzig Millionen dreißig wären, dann wäre alle Schwierigkeit gelöst«. 9 Solche Äußerungen – und es gibt viele der Art – machen etwas deutlicher, was George meinte, als er in späteren Jahren einmal Edgar Salin sagte, »Was man so Humanismus nennt, interessiert mich nicht«. 10

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All das und Ähnliches erwähnt Riedel nicht. Stattdessen ergeht er sich in Reflexionen, vermittelt durch Rückbezüge auf Goethe, Nietzsche und vor allem George, über die »Wiedergeburt deutschen Geistes« (S. 46) oder auch »eine europäische Wiedergeburt« (S. 56), die durch »den Sinn für das griechische Altertum« (S. 47) erweckt und getragen werden sollte. Riedel zitiert zustimmend Goethes Spruch aus den Maximen und Reflexionen: »›Unter allen Völkerschaften haben die Griechen den Traum des Lebens am schönsten geträumt‹« (S. 60) und versteigt sich zu der Behauptung: »Aber der Griechenlandtraum kehrt bei George im Stadium der Verjüngung wieder. Sein Zeugnis ist ›Goethes letzte Nacht in Italien‹, worin über die Zeiten hinweg ein wieder jung gewordener Goethe zu uns spricht« (S. 43). Dieser gleichermaßen adorierende wie mystifizierende Habitus durchzieht das ganze Buch: Riedel unterstreicht mehrfach, dass George »sich als Gottsucher versteht« (S. 172), und er scheint diese Selbstauffassung zu bekräftigen, indem er schreibt: »George hatte Göttliches in Fülle empfangen und über sein Dichterwort an den Kreis weitergegeben« (S. 180). Das vom griechischen Altertum inspirierte »schöne Leben« also, beglaubigt durch den von George gefundenen Gott, soll die Basis bilden, auf der Riedel sein Programm der Zukunft gebaut wissen will.

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Schon Ende der 20er Jahre hat der Jurist und Politologe Hermann Heller, der als der »geistvollste wie juristisch eindrucksvollste der ›linken‹ Juristen der Weimarer Zeit« gilt, 11 darüber nachgedacht, wie man sich die politische Verwirklichung von Georges Ideen vorzustellen habe. In seinem hellsichtigen Buch Europa und der Fascismus, das erstmals 1928 veröffentlicht wurde und in einer zweiten, veränderten Auflage 1931, also zwei Jahre vor seinem frühen Tod, erschien, schrieb Heller:

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Die aus der nationalen deutschen Geistesgeschichte erwachsene Reaktion gegen die soziale Massendemokratie ist […] bald verknüpft mit einer Erneuerung romantischer Gedanken, bald sieht sie ihre Ideale in der Renaissance, in der Antike oder im germanischen Mittelalter. Nietzsche, der Kreis um Stefan George ebenso wie Oswald Spengler sehen ziemlich übereinstimmend in Demokratie, Sozialismus und christlicher, vor allem protestantischer Ethik den Ausdruck des Zeitalters der Dekadenz, in welchem die Masse der Vielzuvielen, der Armen und Schwachen mit ihrer platten humanitären Fortschrittszivilisation die wahre Kultur deformieren. Gemeinsam ist ihnen die Bewunderung ästhetischer, heroischer und aristokratischer Werte, die Begeisterung für Kampf, Zucht und Form, gemeinsam auch der Haß gegen die Entpersönlichung, gegen die Einebnung des großen Individuums in die Masse, gemeinsam die Front gegen den unschöpferischen Intellektualismus, die Front für das Blut und gegen den Geist; Gedanken, die in rassenantisemitischer Vergröberung weite Verbreitung gefunden haben. 12
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Den letzten Schritt, den des »Rassenantisemitismus«, hat George nicht getan. Seine Ansichten über Juden waren komplex und wechselhaft, aber der hohe Anteil an Juden in seinem Kreis spricht gegen die Annahme einer pauschalen Ablehnung. Dennoch hat ihn das größere Schicksal der Juden, ähnlich wie das des Humanismus, am Ende seines Lebens nicht sonderlich interessiert. Bei ihrer letzten Begegnung mit George am 19. September 1933 antwortete er auf die besorgte Frage von Edith Landmann, die selber jüdisch war, was er denn zu der »Brutalität« des neuen Regimes, besonders zu dem, »was die Juden betrifft«, sage, mit der barschen Antwort: »wenn ich an das denke, was Deutschland in den nächsten fünfzig Jahren bevorsteht, so ist mir die Judensach im Besonderen nicht so wichtig«. 13 Im selben Gespräch meinte George auch, dass es trotz aller berechtigten Bedenken gegenüber den neuen Machthabern, »doch immerhin das erste Mal« sei, »dass Auffassungen, die er vertreten habe, ihm von aussen wiederklängen«. 14

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Unlängst stellte Adolf Heinrich Borbein sachlich fest: »Rückbezüge auf George in unseren Tagen spielen in der wissenschaftlichen Diskussion keine Rolle mehr; sie werden als unzeitgemäß empfunden« 15 Manfred Riedel widerstrebte, ja litt an dieser Obsoleszenz und wollte sie aufheben, um Georges Vermächtnis wieder aufleben zu lassen und es den Menschen – welchen genau, sagt er nicht – als richtungsweisend zugänglich zu machen. Ob der »Georgesche Geist«, wie Riedel ihn explizit propagierte, eine geeignete Grundlage für die Gestaltung der politischen Zukunft Deutschlands oder gar Europas bietet, scheint zumindest für einige eine noch oder wieder offene Frage zu sein. Hermann Heller allerdings, der die expliziten und impliziten politischen Lehren Georges ablehnte, bezweifelte ganz grundsätzlich, dass sie die bindende Zugkraft hätten, um jemals wirklich politisch wirksam werden zu können. In dem schon zitierten Buch Europa und der Fascismus von 1931 meinte er dahingehend:

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Die Entscheidung für die ästhetisch-ethischen Lebenswerte, besonders für das in Stefan George verleiblichte Gesetz, hat politisch integrierende Kraft schon deshalb nicht, weil es die verachtete Masse nichts angeht und nichts angehen soll, diese Masse aber durch mitleidlosen Hochmut weder geformt noch zum Verschwinden gebracht werden kann. 16
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Die politischen Entwicklungen in Deutschland, seitdem Heller diese Worte schrieb, scheinen ihm Recht gegeben zu haben. Es wird sich zeigen, ob er auch weiterhin Recht behält.

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Wenn man Riedels Buch heute liest, glaubt man, den Ton einer längst vergangenen Zeit zu vernehmen. Das war wohl Absicht, aber dadurch ging Riedel das Risiko ein, das das darin evozierte Zwiegespräch am Ende als ein ungehörter Monolog verklingt.

 
 

Anmerkungen

Rezension von Christoph Fricker zu Manfred Riedel: Geheimes Deutschland: Stefan George und die Brüder Stauffenberg. Köln: Böhlau 2006. In: Modern Language Review 103 (2008), S. 282.   zurück
Manfred Riedel: Zeitkehre in Deutschland. Wege in das vergessene Land. Berlin: Siedler 1991; siehe Peter Glotz: Reliefwechsel. In: DIE ZEIT, 19. September 1991.   zurück
Zitiert nach »Prof. emer. Dr. Dr. h.c. mult. Manfred Riedel – Vita«; URL: http://www.phil.uni-halle.de/lehrende/59216_62699/riedel_vita/ (Letzter Zugriff: 09.04.2010).   zurück
Zitiert nach Peter Hoffmann: Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Die Biographie. München 2007, S. 422.   zurück
Stefan Breuer: Stefan George als Erzieher? Manfred Riedel sucht im ›geheimen Deutschland‹ die Zukunft Europas. In: NZZ, 2. Oktober 2006.   zurück
Stefan George: »Die tote Stadt«. Der siebente Ring. In: S. G.: Gesamt-Ausgabe der Werke. Berlin: George Bondi 1931, Bd. VI-VII, S. 31.   zurück
Stefan George: »Ihr baut verbrechende an maass und grenze«. Der Stern des Bundes. Ebd., Bd. VIII, S. 31.   zurück
Edith Landmann: Gespräche mit Stefan George. Düsseldorf, München: Helmut Küpper 1963, S. 64.   zurück
10 
Edgar Salin: Um Stefan George. Erinnerung und Zeugnis. 2. Aufl. Düsseldorf, München: Helmut Küpper 1954, S. 275.   zurück
11 
Paul Noack: Carl Schmitt. Eine Biographie. Berlin: Propyläen 1993, S. 117–118.   zurück
12 
Hermann Heller: Europa und der Fascismus. 2. Aufl. Berlin: de Gruyter 1931, S. 32.   zurück
13 
Landmann (siehe Anm. 9), S. 209.   zurück
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15 
Alfred Heinrich Borbein: Zur Wirkung Georges in der klassischen Archäologie. In: Bernhard Böschenstein / Jürgen Egyptien / Bertram Schefold / Wolfgang Graf Vitzthum (Hg.): Wissenschaftler im George-Kreis: Die Welt des Dichters und der Beruf der Wissenschaft. Berlin: de Gruyter 2005, S. 257.   zurück
16 
Heller (siehe Anm. 12), S. 35.   zurück