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Gemeinsames Terrain

Dialoge zwischen Literaturwissenschaft
und Jüdischen Studien

  • Eva Lezzi / Dorothea M. Salzer (Hg.): Dialog der Disziplinen. Jüdische Studien und Literaturwissenschaft. (minima judaica 6) Berlin: Metropol 2009. 526 S. Broschiert. EUR (D) 24,00.
    ISBN: 978-3-938690-92-5.
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Die Juden seien das Volk des Buches, so eine immer wieder geäußerte, doch klischeehafte Bezeichnung. Das Klischee erklärt die merkwürdige Faszination, mit der ein Teil der so genannten poststrukturalistischen Literaturtheorie auf die Tradition jüdischer Textkommentare, auf jüdische Auslegungstechniken 1 oder die Kabbala 2 rekurriert und diese religiös verankerten hermeneutischen Praktiken als paradigmatisch für einen postmodernen Umgang mit Literatur erklärt hat. Diese Versuche haben natürlich nicht viel mit den tatsächlichen Glaubens- und Lebenswelten praktizierender Juden zu tun, sondern mehr mit den Sehnsüchten postmoderner Leser selber, und Judentum erscheint bloß als abstrakte Chiffre in einem theoretischen Kontext. Andererseits ist dort, wo Judentum konkret als historisches und religiöses Phänomen ernst genommen wird, also in den Jüdischen Studien, die literaturtheoretische Reflexion – wenigstens in der deutschen Forschungslandschaft – selten systematisch und oft auch nicht zufriedenstellend.

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Aus zwei Richtungen denken

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Deshalb ist das Erscheinen eines Sammelbandes mit dem Titel Dialog der Disziplinen: Jüdische Studien und Literaturwissenschaft uneingeschränkt zu begrüßen. Nach dem erfolgreichen Modell literaturwissenschaftlicher Einführungen der letzten Jahre sollen die einzelnen Aufsätze des vorliegenden Bandes einerseits jeweils modellhafte Beispieltexte, andererseits jeweils einen theoretischen Zusammenhang erläutern. Gleich zu Beginn wird klar, dass hier vor allem die kulturwissenschaftlichen Theoreme in den Blick genommen werden, und die klassischen Raster des Lesens wie Rhetorik und Hermeneutik mit »Literaturwissenschaft« nicht unbedingt gemeint sind. So ist der Band in die Kapitel »Übersetzungstheorie«, »Intertextualität«, »Gender Studies«, »Performativität«, »Medientheorie«, »Kleine Literatur – Marginalisierte Literaturtheorie«, »Diskursanalyse«, »Historiografie und Literatur«, »Postkoloniale Literaturtheorie« und »Kulturelle Topografien« unterteilt. Wie die Herausgeberinnen Eva Lezzi und Dorothea M. Salzer in ihrer präzisen »Einleitung« schreiben, ist der Band »der Frage gewidmet, inwiefern literaturwissenschaftliche Methoden für die jüdischen Studien fruchtbar gemacht und welche Diskussionen und Perspektiven dadurch provoziert werden können« (S. 12). Die noch interessantere Frage – weil sie dem Fach Jüdische Studien seine vermeintliche Exotik nehmen will – ist aber: »Umgekehrt soll überprüft werden, ob und wie weit in den jüdischen Studien Erkenntnisse gewonnen und vertreten werden können, die einen paradigmatischen Charakter für literaturwissenschaftliche Methoden und Konzepte beanspruchen können« (ebd.). Mit anderen Worten wird von den Herausgeberinnen für die Jüdischen Studien nicht nur programmatisch »ein intensiveres Nachdenken über die angewandte Methodik oder auch eine verstärkte Reflexion der neueren geisteswissenschaftlichen Lektüre- und Interpretationsmodelle« (S. 18) gefordert – was längst fällig war –, sondern ebenso soll »das innovative und gleichsam widerständige Potential von Themen der jüdischen Studien für die Literaturtheorie« (S. 21) aufgezeigt werden. Nicht nur die Judaisten und die kulturwissenschaftlich mit jüdischen Themen Beschäftigten haben also ihre Hausaufgaben zu machen, sondern auch die Theoretiker aus der Perspektive des Mainstreams. Diesen soll die Frage nahe gebracht werden, inwiefern sich aus der Auseinandersetzung etwa mit jüdischer Geschichte, mit Tora, Talmud und Liturgik, oder mit deutsch-jüdischer oder amerikanisch-jüdischer Literatur »notwendigerweise eine Perspektive der Differenz« (S. 23) ergibt, die die lieb gewonnen Selbstverständlichkeiten von kultur- und literaturwissenschaftlichen Kategorien bedrohlich untergräbt.

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Den 14 Autorinnen und Autoren des Bandes ist demnach ein umfangreiches Paket geschnürt. Zu bemängeln gilt es aber eigentlich oft nur, dass jeder Mangel ausgeschlossen werden soll. Öfters werden die theoretischen Prätexte vielleicht etwas zu umfangreich referiert, was zu mancher Langatmigkeit und Schwerfälligkeit führt, öfters hätte getrost auf die eine oder andere Literaturangabe verzichtet und so auch Wiederholungen vermieden werden können. Denn was hier auf durchgängig hohem Niveau geleistet wird, muss sich nicht hinter turmhohen Fußnoten verstecken. Es ist tatsächlich neu und nötig: Methodische Reflexionen des »Dialogs« – eben des gegenseitigen Austausches – zwischen Literaturwissenschaft und jüdischen Studien bei gleichzeitig genauer philologischer Kenntnis des konkreten Gegenstandes, den es zu vermitteln gilt.

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Übersetzungstheorien

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So führt bereits im ersten Beitrag zu »Sakralität und Öffentlichkeit: Bibelübersetzungen als Paradigmen jüdischen Übersetzens« Stefan Schorch vor, wie entlegen scheinende Themen wie die Übersetzungspraktiken der jüdischen Gemeinde von Alexandria im 3 Jh. v. u. Z. mit aktuellen Fragestellungen der Kulturwissenschaften konvergieren. Er beschreibt, wie eng politisch-theologische Überlegungen mit jeweiligen Übersetzungstheorien verbunden sind, und wie eng moderne jüdische Denker sich an religiöse Traditionen anschließen. Gerade die in der Literaturwissenschaft inzwischen äußerst wirkungsmächtigen Meditationen Walter Benjamins zur »Aufgabe des Übersetzers« erinnern an Überlegungen der jüdischen Tradition (wenn sie wohl auch nicht ganz daraus zu erklären sind). Sein »Postulat einer ursprünglichen und messianischen Einheit von ›Meinen‹ und ›Gemeintem‹« erinnert etwa an den sakralen Status des Hebräischen, der die Differenz zwischen dem Original und seiner Übersetzung zu einem fundamentalen Verlust von Sinn macht (wie es der griechische Übersetzer des Buches Ben Sira in der ersten Hälfte des 2 Jh. v. u. Z. postuliert). Dem folgend streben Martin Buber und Franz Rosenzweig eine »Resakralisierung des Originals« (S. 74) an, der das durch die Septuaginta etablierte Paradigma der Bibelübersetzung entgegensteht, das vor allem an der Gewinnung von Öffentlichkeit interessiert sei. Ein drittes Paradigma würde von den Targumim repräsentiert – aramäischen Übersetzungen, die seit dem 6. Jh. u. Z. in einem rabbinischen Umfeld entstanden –, die der Monopolisierung eines bestimmten Schriftverständnisses in der jüdischen Leserschaft dienen sollten.

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Ebenfalls auf übersetzungstheoretische Fragen, aber in einem ganz anderen Kontext, kommt Jeffrey A. Grossman in seinem Aufsatz »Das Fortleben des Jiddischen. Übersetzungen und Transformationen« zu sprechen. In Anlehnung an eine neuere amerikanische Publikation 3 spricht er von der »postvernakularen« jiddischen Kultur, »die zwar in einer anderen Sprache als Jiddisch stattfindet, sich aber zugleich in der Beziehung zur jiddischsprachigen Kultur konstituiert« (S. 83). Hier geht es um das problematische Erbe einer Sprache, deren Sprecher zu einem großen Teil im Holocaust ermordet wurden und die gerade deswegen heute für viele Menschen mit sentimentaler Exotik aufgeladen ist. Die tatsächlich drängende Frage ist darum, wie aus dem Jiddischen übersetzt, wie jiddische Kultur vermittelt und kritisch erforscht werden soll, »ohne aus dem Schicksal des Jiddischen einen Fetisch zu machen« (ebd.). Grossman meint, dass Übersetzungen aus dem Jiddischen und die durch sie ausgelösten Debatten – die übrigens, wie er zeigt, bereits Anfang des 20. Jh. stattfanden – hybride Aspekte der jüdischen Kultur Europas bezeugen. Die postvernakulare Existenz des Jiddischen sei möglicherweise mit Modellen der postcolonial studies besser zu verstehen. Denn wie etwa Salman Rushdie die englische Sprache meisterhaft mit Ausdrücken in Hindi auflädt, sie damit bereichert und verfremdet und damit der rissigen Identität des postimperialen Subjekts genialen Ausdruck verleiht, so kann auch das Jiddische ein anderes Englisch schaffen – wie es etwa jüngst Michael Chabon in seinem Roman The Yiddish Policemen’s Union (2006) auf ebenso ergreifende wie witzige Weise getan hat ohne damit den Kitsch à la Fiddler on the Roof zu bedienen, sondern diesen ironisch zu zitieren.

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Postkoloniale Theorie und Jüdische Studien

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Dies führt zum Schwerpunkt des Bandes, den möglichen Konvergenzen und Synergien zwischen Jüdischen Studien und der postkolonialen Theoriebildung, wie sie prominent von Homi K. Bhabha und Kwame Anthony Appiah initiiert wurden. Überzeugend führt Stephan Braese unter dem Titel »Schreiben ans Stiefvaterland. Zum Anregungsgehalt postkolonialistischer Begriffsarbeit für die Lektüre deutsch-jüdischer Literatur« anhand verschiedener Textstellen bei Heinrich Heine aus, dass dieser »Anregungsgehalt« weniger den Schreibort des deutsch-jüdischen Autors als eine Art interne Kolonie beschreiben, sondern dass er die »Schulung einer Wahrnehmungsbereitschaft und Wahrnehmungsgenauigkeit hinsichtlich eines Zwischenraums jenseits binärer Ordnungen« (S. 434) fördern soll. Braese zieht in erster Linie Heines berühmte mots valises (oder Kofferwörter) aus den Bädern von Lucca und anderer Schriften wie »famillionär«, »Papagoym«, »Turngemeinplätze« oder »Stiefvaterland« heran, um in dieser zwei Bedeutungen absolut gleichzeitig vereinenden poetischen Praxis die heterogene Position Heines in der deutschen Literatur deutlich zu machen. Im Anschluss an eine Studie Almuth Grésillons 4 meint Braese, dass »das mot valise einen sprachlichen Repräsentanten der jüdischen Kondition der anbrechenden Moderne« (S. 332) darstellt. Im Zeitalter der Assimilation würde die Identität des jüdischen Subjekts »zugleich mit seiner Differenz« wahrgenommen und anerkannt. In der linguistischen Eigenart des mot valise ist »genau jene Absage an das Entweder-Oder, an die Dichotomie zwischen Eigenem und Anderem, an die Grenze selbst auf kleinstem Raum verdichtet, die die postkolonialistische Theorie Bhabhas als die zentrale Positur des minoritären Diskurses umreißt« (S. 433).

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Dass aber deutsch-jüdische Autoren ebenso am kolonialen Diskurs Europas beteiligt waren, dass es also durchaus beunruhigende »Kolonialfantasien in der deutschjüdischen Literatur um 1900« gab, zeigt Eva Lezzi anhand der signifikanten Beispiele von Theodor Herzls utopischem Roman Altneuland und Fritz Mauthners Roman Der neue Ahasver. In genauen Text- und Rezeptionsanalysen macht Lezzi ein »Geflecht unterschiedlicher diskursiver Konstellationen« (S. 443) aus, das sich weit jenseits des zu simplen Gegensatzes von Antisemitismus und jüdischer Selbstbehauptung bewegt. Ausführlich geht Lezzi den kontroversen Beurteilungen von Herzls zionistischem Entwurf nach. Als Fazit ihrer Lektüre hält Lezzi fest, dass Herzls Text um sein Konfliktpotential weiß – die kulturellen Unterschiede zwischen Europa, dem islamischen Palästina und den jüdischen Einwanderern, die Geschlechterverhältnisse – es aber wider dieses Wissen harmonisierend zudeckt, was paradoxerweise gewalttätig wirkt. Dabei wird also weniger Herzls Eurozentrismus als vielmehr sein gerade aus der jüdischen Position heraus gewonnener Toleranzgedanke als gefährlich sichtbar: Toleranz erscheint als Mythos, der das Hegemonialbestreben maskiert. Das jüdische Paradox, gleichzeitig einer diskriminierten Bevölkerungsgruppe anzugehören und am kolonialen Unterdrückungsdiskurs teilzuhaben, zeigt sich verdichtet (und nicht komikfrei, wie Lezzi zeigt) auch in Mauthers Der neue Ahasver, wo der jüdische Protagonist seiner nichtjüdischen Braut einen afrikanischen Sklaven schenkt und andererseits die Forderung, Juden selbst zu Sklaven zu machen, auf begeisterte Zustimmung eines antisemitischen Mobs stößt. Es kann heute also nicht mehr darum gehen, Autoren wie Herzl und Mauthner des Kolonialismus oder des Rassismus zu bezichtigen, sondern in ihren Texten den vielschichtigen Überlagerungen zeitgenössischer Diskurse nachzugehen und diese freizulegen. Neben der Psychoanalyse, dem Marxismus und dem Feminismus bauen die postcolonial studies denn auch hauptsächlich auf die so genannte Diskursanalyse.

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In seiner Rekapitulation diskurstheoretischer Literaturtheorie nach Foucault und Jürgen Link macht Andreas Kilcher deutlich, dass der literarische Text einen »Ort der Inszenierung und Überlagerung unterschiedlicher Diskurse« oder einen »Interdiskurs« (S. 371) darstellt. Als solchen betrachtet Kilcher die deutsch-jüdische Literatur, die er gewinnbringend mit »Perspektiven historischer Diskursanalyse« – so der Untertitel seines Essays »Deutsch-jüdische Literaturgeschichte schreiben?« – beschreibt. Die Kategorien dieser Beschreibung plausibilisiert Kilcher in der Lektüre des irritierenden Vorwortes, das der Arzt Issachar Falkensohn Behr 1772 seinem Bändchen mit anakreontischer Lyrik Gedichte eines pohlnischen Juden beigegeben hat – übrigens die wohl erste Publikation deutsch-jüdischer belletristischer Literatur. Kilchers These ist es, dass die begründende zweite Rede für die deutsch-jüdische Literatur konstitutiv ist: »In ihrer Stellung zwischen zwei Kulturen hat sie von Anfang an einen diskursiven Charakter, indem hier nichts selbstverständlich gegeben ist. Dieses Schreiben muss sich vielmehr stets begründen und behaupten« (S. 253). Somit interpretiert die deutsch-jüdische Literatur sich immer selber; ihre Historiographie kann sich nicht in der positivistischen Sammlung ihrer Daten und Inhalte beschränken. Weiter zeigt sich, dass die deutsch-jüdische Literatur kein Masternarrativ, sondern ein Konglomerat polyphoner und regionaler Formationen bildet, zu dessen Erforschung die Diskurstheorie ebenfalls die nötigen Instrumente liefert. Mit Stephen Greenblatt spricht Kilcher schließlich vom »Verhandlungscharakter« dieser Literatur, denn sie sei, wie das Beispiel Behrs zeige, intensiv und von innen heraus an der Generierung von Wissen und an der Konstitution der jüdischen Moderne beteiligt.

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Die jüdische Moderne schreiben

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Für diese Konstitution darf der literarische Text »nicht nur als Quelle und Beleg betrachtet«, sondern muss »seine Literarizität reflektiert« (S. 216) werden, wie Doerte Bischoff in ihrer Untersuchung »Handelnde Juden, Verhandlungen des Jüdischen: zur Performativität eines Stereotyps« beispielhaft zeigt. An der Figur Shylocks aus Shakespeares Merchant of Venice führt sie vor, wie ergiebig das theoretische Konzept der Performativität für die jüdischen Studien sein kann: Weit über die klassischen Fragen der Antisemitismusforschung hinausgehend, führt sie souverän vor, wie sprachliche Setzungen Realitätsmacht haben vor allem in der Verfestigung von Gemeinschaften, die sich im Imaginären des literarischen Textes konstituieren.

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Der vorliegende Band zeigt noch weitere Möglichkeiten, wie eine je andere jüdische Moderne erschrieben wurde. Diesbezüglich hätten alle Beiträge dieses Bandes es verdient, genauer vorgestellt zu werden, was aber in einer solchen Rezension leider nicht möglich ist. Das einzige Versäumnis des Bandes besteht darin, dass kein Beitrag zur Rhetorik und zur Rhetorikforschung aufgenommen wurde. Gerade ein von verschiedenen Autoren ausgiebig zitierter Autor wie Heine war ein glänzender Kenner und Könner auf diesem Gebiet. Abgesehen davon bleibt hier kein Wunsch offen und es bietet sich eine enorm fruchtbare Vielfalt an Perspektiven und Anregungen.

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Meisterhaft liest Liliane Weissberg Hanna Arendts Texte »gegen den Strich« (S. 194), das heißt, sie zeigt gegen Arendts explizit geäußerte Ablehnung der Psychoanalyse und von gender-Fragen die Möglichkeiten und Grenzen einer feministisch orientierten Lektüre. Autoren wie Rahel Varnhagen, Kafka und Benjamin werden für Arendt zu Figuren einer imaginären Familie, in der der Philosophin durchaus die Figur der Mutter zukommt, eine faszinierende Idee – die sich sicherlich zu einer größeren Untersuchung ausbauen ließe.

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Wieder mehr in den klassischen Felder der Judaistik betätigen sich Irina Wandrey in einem Aufsatz zu der »Kategorie gender in den Briefen und Dokumenten aus der Kairoer Geniza«, der nebenbei einen präzisen Überblick über die verschiedenen gendertheoretischen Forschungsansätze in den Jüdischen Studien vermittelt, sowie Dorothea M. Salzer in einem Aufsatz zu »Intertextualität und Jüdische Magie«, der sich ebenfalls mit Texten der Kairoer Geniza beschäftigt. Salzer versucht, verschiedene Schriften Julia Kristevas und anderer Intertextualitätsdenker anhand von Beispielanalysen zu erproben. Die Berücksichtigung poststrukturalistischer Konzepte in der Untersuchung eines solchen mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Textkorpus ist innovativ und birgt enorme Erkenntnismöglichkeiten. Das den Texten Kristevas oder Derridas eigene poetische und uneindeutige Potential sperrt sich jedoch – worauf Salzer auch hinweist – solchen Anwendungsversuchen. Hier zeigt sich tatsächlich, dass »magische Texte« nicht nur des Mittelalters, sondern auch der 1970er Jahre, den theoretischen Aneignungsversuchen des Wissenschaftsbetriebs (zum Glück) beträchtlichen Widerstand leisten.

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Weitere Aufsätze stammen von Christoph Schulte, der in eigenwilliger Weise anhand einer vermeintlichen Marginalie der Kulturgeschichte – die Einführung von Fußnoten in hebräischen Drucken – die ganze Ideologie, Kulturpolitik und Identitätsproblematik der Haskala reflektiert; von Barbara Breysach, die das Konzept der »kleinen Literatur« bezüglich einer »Europäisch-jüdischen Literaturkomparatistik am Beispiel von Franz Kafka und Bruno Schulz« beleuchtet; von Cornelia Martyn, die den Jiddischen Formalismus – einer gänzlich vergessenen und marginalisierten Literaturtheorie – in den Fokus der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit rückt, sowie von Gabriele von Glasenapp, die »Strategien jüdischen Schreibens im historischen Roman« im 19. Jahrhundert beschreibt und so »den Konnex zwischen Historie und geschichtserzählender Literatur« (S. 385) – seit den Studien Hayden Whites sicherlich heiß diskutiert – für die Jüdischen Studien entwirrt.

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Nichts ist selbstverständlich

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In »Geteilte Territorien: Topographie, Genealogie und jüdisch deutsche Literatur« beschließt Andrea Schatz den Band auf brillante Weise, indem sie vor allem den aus den postcolonial studies stammenden Begriff des »Zwischenraums« revidiert, der oft für deutsch-jüdische Literatur herangezogen wird, aber nicht recht zu passen scheint (wie auch Braese in seiner Heine-Lektüre festhält). Als »Zwischenraum«, also als das, was sich nationalstaatlichen Grenzen entzieht, erscheint deutsch-jüdische Literatur nämlich erst aus der Perspektive des modernen Nationalstaates, weil erst damit »›deutsch‹ und ›jüdisch‹ zu symmetrischen Adjektiven werden« (S. 501). Jüdisches Schreiben in deutscher Sprache »erscheint dann als Angelegenheit der Ränder, des Dazwischen, des ›Weder – Noch‹: Nicht ganz deutsch, da jüdisch, und nicht ganz jüdisch, da in einer Sprache verfasst, die erst um 1800 zu einer jüdischen wurde und immer auch nichtjüdische Sprache blieb« (S. 501–502). Dieser Zwischenraum ist jedoch fragil, nicht kartographierbar und tendiert zur Auflösung. Zionisten, Nationalisten, assimilierte Juden, Antisemiten, Christen erscheint der »Zwischenraum« als unbewohnbar – als unmöglicher Ort im Sinn von Kafkas berühmtem Brief an Max Brod. Schatz fragt danach, wie »eine Topographie jenseits des ›Zwischenraums‹«aussehen könnte, die sich endlich radikal aus dem Bann von Reinheitsdenken und Nationalismus befreien würde. Eine solche »Topographie der geteilten Territorien und des gemeinsamen Terrains« könnte »dem Stimmengewirr in der Nachbarschaft und ihren lokalen und transregionalen Verflechtungen« gerecht werden. Um das theoretisch zu fassen, verweist sie auf Bhabhas Konzept des »Third Space«, das zwar ebenfalls von einer räumlichen Metapher ausgeht, aber vor allem temporal bestimmt ist. »Third Space« ist hier »als Momente der Diskontinuität« verstanden, er ist »kein neuer Raum, sondern ein anderer Typus des Raums, der das Nachdenken über Räumlichkeit und ihre Darstellung selbst verändert« (S. 508).

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Der Beitrag von Andrea Schatz zeigt, wie das Nachdenken über den Dialog von Literaturwissenschaften und Jüdischen Studien inhaltliche, auch politische Konsequenzen zeitigt. Indem sich abzeichnet, dass die klassischen Disziplinen und Untersuchungsgegenstände aus der Geschichte der modernen Nationen hervorgingen, müssen neue Ansätze sich über die Grenzen der Disziplinen hinwegsetzen und ihre Gegenstände ganz neu konzipieren. Literatur soll nicht mehr nur als klassifizierter Gegenstand einer Disziplin, also als ›jüdische Literatur‹ in deutscher, englischer oder französischer Sprache verstanden, sondern in Konstellationen der Nachbarschaft begriffen werden. Als geteiltes Terrain beschriebe sie damit nicht Grenzüberschreitungen, sondern würde das Konzept der Grenze selbst zur Disposition stellen. Eine solche Literatur wäre nicht mit Stereotypen wie »irreduzibel vieldeutig« oder »interkulturell« zu bezeichnen, sondern wäre sich selbst: »vielförmig, komplex und zugleich streitend gegen ihre Komplexität« (S. 510). Mit diesem beeindruckenden Plädoyer für das Hinterfragen von Selbstverständlichkeiten sind alle Ankündigungen, die im Vorwort dieses bemerkenswerten Sammelbandes gemacht werden, eingelöst worden.

 
 

Anmerkungen

So ist etwa die Darstellung des jüdischen Lernens bei Giorgio Agamben eigentümlich stereotyp. Das Studium im Judentum sei »an sich unendlich und unvollendbar« und dem Studierenden wachse »eine messianische Bedeutung« zu – womit es zum idealen Lesen aus Agambens Perspektive wird. Vgl. Giorgo Agamben: Idee des Studiums. In: G.A.: Idee der Prosa. Aus dem Italienischen von Dagmar Leupold und Clemens-Carl Härle. (Bibliothek Suhrkamp 1360) Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003, S. 51–54, hier S. 52 (Original 1985).   zurück
Vgl. den delirierenden – aber immer enorm anregenden Traktat von Harold Bloom: Kabbala. Poesie und Kritik. Aus dem amerikanischen Englisch von Angelika Schweikhart. (nexus 17) Basel, Frankfurt/M.: Stroemfeld 1997 (Original 1975).   zurück
Jeffrey Shandler: Adventures in Yiddishland. Postvernacular Language and Culture. Berkeley: University of California Press 2005.   zurück
Almuth Grésillon: La règle et la monstre: le mot valise. Interrogation sur la langue à partir d'un corpus de Heinrich Heine. Tübingen: Niemeyer 1984.   zurück