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Narrative Sinnbildung

Zusammenhang und Wechselspiel von
Ambivalenz und Kohärenz

  • Julia Abel / Andreas Blödorn / Michael Scheffel (Hg.): Ambivalenz und Kohärenz. Untersuchungen zur narrativen Sinnbildung. (Schriftenreihe Literaturwissenschaft 81) Trier: WVT Wissenschaftlicher Verlag Trier 2009. 284 S. Kartoniert. EUR (D) 28,00.
    ISBN: 978-3-86821-138-2.
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Der von Julia Abel, Andreas Blödorn und Michael Scheffel herausgegebene Sammelband zu Ambivalenz und Kohärenz. Untersuchungen zur narrativen Sinnbildung ist aus dem gleichnamigen Symposium des Wuppertaler Zentrums für Erzählforschung hervorgegangen und stellt die Ergebnisse zur Schnittstelle von Ambivalenz, Kohärenz und Narratologie zusammen. Die Tagung hatte sich das Ziel einer systematischen Erfassung des Spannungsfeldes von Ambivalenz und Kohärenz gesetzt und ist in diesem Kontext der narrativen Sinnbildung als Formproblem sowie einzelnen historischen und medialen Aspekten nachgegangen.

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Begriffliche und textanalytische
Perspektiven

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Im Mittelpunkt des Bandes steht für die narrative Organisation von Sinn primär im Bereich literarischer Erzählungen nicht die Berücksichtigung lediglich eines der beiden genannten Phänomene, nämlich Ambivalenz oder Kohärenz, sondern vielmehr das Zusammen- und Wechselspiel beider. Hierzu widmet sich der Band sowohl aus theoretischer Sicht als auch aus konkreten Textbeispielen heraus dem Spannungsfeld und vollzieht in einzelnen Ansätzen die narrativen Sinnbildungsprozesse und Dekonstruktionen zwischen den Polen der Ambivalenz und der Kohärenz.

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Wie schwierig eine solche Zusammenführung zweier derart gegensätzlicher Begrifflichkeiten ist, lässt sich leicht erahnen. Einerseits erscheinen Narrationen aus kulturwissenschaftlicher Sicht zunehmend als Darstellung einer kausalen Ereignisfolge und können im Grunde als ein Erzählen im Sinne von ›Ordnen‹ und ›Erklären‹ angesehen werden. Nicht ohne Grund ist die Narrativität aufgrund dieses Verständnisses in den letzten Jahren zu einem Paradigma der Kulturwissenschaften geworden. Andererseits aber ist es nicht unproblematisch, Erzählen lediglich als ein ›Nacheinander‹ und ›Auseinander‹ von Ereignissen mit Anfang, Mitte und Ende zu verstehen. Schließlich zeichnet sich das Erzählen immer wieder auch durch Brüche, Ambiguitäten, Leerstellen, Widersprüche und konkurrierende Erklärungsmuster aus – also gerade durch mangelnde Kohärenz und das Fehlen eines eindeutig bestimmbaren Sinns. Die Qualität des vorliegenden Bandes zeichnet sich durch die Bestimmung und Präzisierung dieses Spannungsfeldes aus und vor allem durch die Skalierung des Spektrums der Verfahren narrativer Sinnbildung zwischen den Polen Ambivalenz und Kohärenz.

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Die Beiträge lassen sich grob in zwei Gegenstandsbereiche aufteilen: Der erste Bereich konzentriert sich auf die narrative Sinnbildung als Struktur- und Formproblem, der zweite hingegen beleuchtet die narrative Sinnbildung in Kontexten. Während also in der ersten Gruppierung von Beiträgen das Augenmerk vor allem auf die Textanalyse und ihre theoretischen Grundlagen gerichtet ist, vereint die zweite Gruppierung die narratologische Textanalyse mit den Kontexten narrativer Sinnbildung. Dennoch wird spätestens nach der Lektüre der einzelnen Beiträge deutlich, dass die Untersuchung der narrativen Kohärenz sowie Ambivalenz im Grunde niemals ohne jeweilige narrativ-interpretatorische Ansätze oder Kontextualisierungen auskommt. Darüber hinaus ist der Sammelband insgesamt in der Lage zu verdeutlichen, dass narrative Kohärenz und / oder Ambivalenz in aller Regel nicht nur histoire, sondern immer discours und histoire als Zusammenspiel und somit nicht nur textuelle, sondern auch erzählerisch vermittelte Ebenen betreffen. Ambivalenzen und Kohärenzen können äußerst vielfältig narrativ Sinn stiften: Beispielsweise durch Strategien der Metaisierung, unzuverlässige Wirklichkeitskonstruktionen oder Bewertungen, Relativierungen oder Perspektivierungen durch Erzählinstanzen; oder aber durch Kontextualisierungen wie beispielsweise die Einbeziehung von Paratexten.

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Wie vielseitig die Sinnstiftung und -durchbrechung durch das Wechselspiel von Kohärenz und Ambivalenz sein kann, verdeutlichen die einzelnen Beiträge, die es lohnt, im Folgenden vorzustellen.

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Theoretische Betrachtungen von Ambivalenz
und Kohärenz aus narrativer Sicht

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Entgegen dem Gesamtkonzept des Bandes, dem Zusammen- und Wechselspiel nachzugehen, konzentrieren sich Erzsébet Szabó, Hans-Harald Müller und Jan Christoph Meister sowie Gustav Frank separat auf die Begrifflichkeiten der Ambivalenz oder der Kohärenz mit ihren Besonderheiten und Schwierigkeiten aus überwiegend theoretischer (narratologischer) Sicht.

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Zur Untersuchung der Ambivalenz in narrativ literarischen Texten geht Erzsébet Szabó zwei Fragen nach: Zum einen fragt sie danach, welche Formen der Ambivalenz sowohl die klassische Narratologie als auch die Theorie möglicher Welten erlauben, und zum anderen, welche Eigenschaften der Beschreibungsmodelle das Auftreten ambivalenter Formen ermöglichen beziehungsweise begünstigen (vgl. S. 15). Mit diesem Vorgehen schlägt die Verfasserin des Beitrags keinen üblichen Weg ein, da sie das Phänomen der Ambivalenz nicht aufgrund der Interpretation von narrativ literarischen Texten definiert, sondern mithilfe erzähltheoretischer Modelle bestimmt. Allerdings wird ihr es somit möglich verständlich zu erläutern, wie sich Ambivalenz aus erzähltheoretischer Sicht handhaben lässt und dass Ambivalenz aus dem narratologischen Modellen heraus überhaupt resultierbar oder aber zumindest erkennbar ist.

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Im Gegensatz zu Erzsébet Szabó setzen sich Hans-Harald Müller und Jan Christoph Meister mit der narrativen Kohärenz auseinander und untersuchen zu diesem Zwecke unter anderem alltagssprachliche sowie literaturwissenschaftliche Begriffsbestimmungen von Kohärenz. Insgesamt stellen Hans-Harald Müller und Jan Christoph Meister eine narratologische These zu Kohärenz als Reduktionsphänomen ausschließlich bezogen auf literarisch-fiktionale Erzähltexte vor, die sich zur Darstellung des theoretischen Ansatzes zur Konstituierung und Analyse der narrativen Kohärenz durchaus eignet. »›Erzählen‹ ist so gesehen nicht Kohärenzstiftung, sondern zunächst kalkulierte Kohärenzreduktion [...]« (S. 37). Zudem präsentieren sie das Erzählen als Kontingenzmanagement und stellen somit einen nachvollziehbaren Zusammenhang von Kohärenz und Kontingenz her.

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Demgegenüber setzt sich Gustav Frank mit dem Laokoon-Problem der Narration beziehungsweise der Narratologie auseinander und geht in diesem Zusammenhang auf das ›Nebeneinander‹ erzählen ein. Auf der Grundlage der Raumsemantik von Jurij M. Lotman und der Weiterführung Karl N. Renners will Gustav Frank Kohärenz und Kohärenzstörungen weniger im Bereich des discours ansiedeln, sondern vielmehr auf der Ebene der histoire untersuchen. Hierzu arbeitet Gustav Frank vor allem mit den Lessingschen Begriffen ›Nacheinander‹ und ›Nebeneinander‹ und wendet diese beispielhaft unter anderem auf Georg Büchners Woyzeck an, wodurch der Beitrag nicht nur auf theoretischer, sondern auch auf anwendungsbezogener Ebene nachvollziehbar wird.

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Kohärenz durch Ambivalenz

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In ihrem mediävistischen Beitrag zu historischen Aspekten narrativer Sinnbildung über Hartmanns Iwein verknüpft Corinna Laude die Frage nach der Kohärenz im mittelalterlichen Artusroman mit der Ausgestaltung und Positionierung der Erzählinstanz und untersucht zu diesem Zwecke die Stimme als narratologische Kategorie zum einen innerhalb interner und externer Textebenen und zum anderen unterschieden auf der Ebene der histoire und der Ebene des discours. So verdeutlicht Corinna Laude anhand gut gewählter Textausschnitte die Profilierung der Erzählinstanz im Mittelalter. Wenngleich sich die Erzählinstanz nur schwer verorten lässt, so gewinnt sie dennoch zunehmend an Stimme und betont dementsprechend die discours-Ebene. Zudem wirft die Verfasserin zu Recht Fragen zum Fiktionalitätsbewusstsein innerhalb der mittelalterlichen Literaturproduktion und -rezeption auf und entwickelt anhand der Allegorie begründet die These des fiktiven Erzählers, der auch als solcher – zumindest seitens des Autors – empfunden wird. Zwar leuchtet die Verbindung zwischen Ambivalenz und Kohärenz mit den nicht unproblematisch zu bestimmenden Funktionen der Erzählinstanz ein und auch die Herausarbeitung der fingierten Mündlichkeit als Funktion der Erzählinstanz überzeugt, eine deutlichere Markierung der Ambivalenz und Kohärenz wäre allerdings im Rahmen dieses Sammelbandes wünschenswert gewesen.

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Magdolna Oroz entwickelt innerhalb ihres Beitrages die These, dass sich die »Kohärenz erst im Spannungsfeld der Ambivalenzen des Erzählten und des Erzählens erfassen« lässt und widmet sich vorrangig den »verschiedenen Grenzüberschreitungen von Fiktion, Erzähler- und Autorfunktion als potentiellen Quellen von (narrativer) Ambivalenz« (S. 95). Hierzu geht Magdolna Oroz auf metaleptische sowie metafiktionale Grenzüberschreitungen in den weniger bekannten Erzählungen Hoffmanns Die Irrungen. Aus dem Leben eines Fantasten und Die Geheimnisse. Fortsetzungen des Fragments aus dem Leben eines Fantasen: die Irrungen (1820 und 1821) ein. Wie auch Corinna Laude setzt sich Magdolna Oroz kritisch mit der Erzählinstanz und ihrer Ansiedlung in der discours-Ebene auseinander und untersucht die verschiedenen Ausschweifungen dieser Instanz in Hinblick ihrer ambivalenten Konstituierung. Mit Blick auf die fiktive Kommunikation identifiziert die Verfasserin nachvollziehbar die Ambivalenz als »dominierendes Strukturmerkmal« (S. 101), die allerdings wiederum »die Herstellung von Kohärenz bezweckt« (S. 103). Somit wird die These entworfen, dass die ambivalenten narrativen Strukturen durchaus einen interpretatorisch kohärenten Sinn besitzen können. Während die Verfasserin die ambivalenten narrativen Strukturen sehr gut herausarbeitet, bleibt die These, dass aus Ambivalenz auch Kohärenz entstehen könne, leider nur eingeschränkt ausformuliert.

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Ambivalenz durch Kohärenz

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Ähnlich wie Corinna Laude und Magdolna Oroz arbeitet auch Markus Neuschäfer in seinem Beitrag die Analyse von Kohärenz und Ambivalenz anhand eines konkreten Textkorpus heraus: Wolfgang Koeppens Tauben im Gras. Zu diesem Zwecke »erschließt« der Verfasser die »spezielle Ambivalenz«, »wenn sie in ihren Wechselwirkungen mit narrativen Techniken der Kohärenzbildung betrachtet wird.« (S. 113) Mithilfe von Figuren und Erzählinstanz des Romans arbeitet Markus Neuschäfer zunächst feingliedrig Kohärenzmuster heraus, indem er nicht zuletzt auf das Verhältnis von Figurendarstellung, Handlung und Fokalisierungswechsel eingeht. Insbesondere auf den Zusammenhang von Erzählstimme und Handlung wird dazu eingegangen, um nachvollziehbar darzulegen, dass sich in diesen nicht nur ein gewisser Zusammenhang verbirgt, sondern auch »ambivalente Lesarten« (S. 122) möglich sind.

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Ambivalenz durch die unerzählbare
Darstellung des Unmöglichen

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Jan Erik Antonsen setzt sich innerhalb seines Beitrages stringent mit der narrativen Sinnbildung im Rahmen der Phantastik auseinander und untersucht, inwiefern Kohärenz in Form erzählerischer Darstellung des Unmöglichen vorliegen kann. Hierzu konzentriert sich der Verfasser auf die erzählten Ereignisse in ihrem Verhältnis zueinander und im Verhältnis zur erzählten Welt und stellt den Problemfall heraus, innerhalb dessen sich Ereignisse nicht in den Rahmen der erzählten Welt integrieren lassen. Dies zeigt er an der Erzählung La Vénus d’Ille von Prosper Mérimées aus dem Jahre 1837. Plausibel verdeutlicht er, dass es auf den Kontext ankomme, »der darüber entscheidet, ob das Unmögliche die Kohärenz des Textes stört oder überhaupt in Frage stellt.« (S. 130) Wenn sich nun ein unerzählbares Ereignis in der erzählten Welt ergibt und eben aufgrund der Unerzählbarkeit nicht in den Kontext einfügbar ist (hier: die unerzählbare Belebung der Statue), so entsteht eine Ambivalenz, die die narrativen Strategien der Kohärenz stören oder gar durchbrechen kann.

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Mediale Umsetzung von Ambivalenz
und Kohärenz im Film

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In seinem Beitrag zu medialen Aspekten des Wechselspiels von Ambivalenz und Kohärenz arbeitet Markus Kuhn heraus, inwiefern »verschiedene narrative Erklärungs-, Vermittlungs- und Darstellungsmuster […] eine ambivalente Struktur« herausbilden, die »verschiedene Interpretationen nicht nur zulässt, sondern geradezu herausfordert, so dass die ambivalente Struktur zum Zentrum der den Film prägenden Spannungsbögen [...] werden kann.« (S. 143) Zu diesem Zwecke arbeitet der Verfasser mit dem Film ABRE LOS OJOS (deutscher Titel: Öffne die Augen) von Alejandro Amenábar aus dem Jahre 1997. Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen weniger Fragen zur Ebene der histoire, wie beispielsweise zur Figuren- und Handlungsanalyse, sondern mehr zu den narrativen Möglichkeiten auf der Ebene der erzählerischen Vermittlung (Ebene des discours). »Entscheidend ist die Verstrickung inhaltlicher und narrativer Strukturen, die auf verschiedenen Analyseebenen nachzuweisen ist.« (S. 141)

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Die Bildung von Ambivalenz und Kohärenz im genannten Film erläutert Markus Kuhn nun anhand der narrativen Sinnbildung durch die Ausdifferenzierungen der Erzählinstanzen in eine visuelle und mehrere sprachliche und erklärt anhand einleuchtender Beispiele, dass sowohl Kohärenz durch stabile narrative Vermittlung als auch Ambivalenz durch erzählerische Dopplungen und Verwandlungen entsteht. Gelungen ist insgesamt nicht nur die narratologische Untersuchung des Filmes, die Markus Kuhn bietet, sondern auch die Herausarbeitung der Schleifenstrukturen von Kohärenz und Ambivalenz, die sich durch die narrative Sinnbildung und -durchbrechung ergeben.

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Kohärenz- und Ambivalenzstiftung
durch das Verhältnis von Text und Paratext

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Die narrative Kohärenz im Kontext des multiperspektivischen Briefromans arbeitet Daniela Langer plausibel in ihrem Beitrag heraus. Dazu definiert sie Kohärenz insofern, als die einzelnen Ereignisse der histoire miteinander verknüpft sein müssen und die einzelnen Ereignisse nicht in Widerspruch zueinander stehen dürfen. Entscheidend kommt für die Verfasserin zum Verhältnis von narrativer Kohärenz und Interpretation hinzu, dass einzelne Elemente des Textes sich gegenseitig ergänzen, so dass »Annahmen über die Aussageabsicht bzw. den Sinn des gesamten Textes eine Rolle« spielen und sich somit »narrative Kohärenz nur schwer von der Interpretation abkoppeln lässt.« (S. 162) Inwiefern narrative Kohärenz und Interpretation in Zusammenhang stehen, verdeutlicht Daniela Langer anhand des multiperspektivischen Briefromans Geschichte des Fräuleins von Sternheim aus dem Jahre 1771 von Sophie von La Roche.

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Bevor Daniela Langer näher auf den eigentlichen Briefroman eingeht, erläutert sie zunächst schlüssig, inwiefern der Paratext (hier: Wielands Vorwort und Rosinas Erzähleinsatz) bereits eine hohe narrative Kohärenz aufweist, indem dieser aber gerade auch zu interpretatorischen Ansätzen zur Sinnkonstituierung des Gesamttextes verleitet. Somit setzt die Verfasserin nicht erst bei der eigentlichen Erzählung an, sondern schon bei dem Nebentext, der dem genannten Briefroman vorangestellt ist. Insgesamt zieht Daniela Langer, nachdem sie die possible worlds theory auf den Briefroman und seine narrativ kohärenten Strukturen angewendet hat, letztlich den sehr gut begründeten Schluss, »dass der ›Sinn‹ eines Textes sich nur schwer von der Narration trennen lässt« (S. 176).

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Die Kohärenz- und Ambivalenzstiftung durch das Verhältnis von Text und Paratext arbeitet Christoph Jürgensen anhand von Arno Schmidts Abend mit Goldrand heraus. Eingängig erläutert der Verfasser dazu, dass die Spannung »zwischen einem ambivalenten Binnentext und einem kohärenzstiftenden Paratext konstitutiv« ist (S. 223). Nicht mehr die Erzählinstanz ist für die Sinnstiftung der Handlung verantwortlich, sondern der textexterne Paratext übernimmt die Aufgabe der Sinnstiftung und -organisation.

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In seinem Beitrag zur ›heiligen Kohärenz‹ verdeutlicht Andreas Mauz, dass narrative Sinnstiftung nicht immer an narrative Kohärenz gebunden sein muss; inwiefern aber ein Zusammenhang im Rahmen religiöser Kontexte bestehen kann, zeigt er am Beispiel des Buches Mormon. Zu diesen Zwecken unterscheidet er zwischen heiligenden Paratexten und heiligenden Binnentexten, um die Struktur narrativer Kohärenz verständlich herauszuarbeiten.

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Inkohärenz und Ambivalenz in Beziehung
zur historischen Konstruktion von Wirklichkeit

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In seinem historisch angelegten Beitrag zu Wieland und der Ironie der Aufklärung beschäftigt sich Sascha Michel mit dem Konzept der ambivalenten Teleologie und setzt die Untersuchung von Ambivalenz und Kohärenz in Bezug zu epochenspezifischen Kontexten und Erkenntnissen der Zeit. Dem Verfasser gelingt es insgesamt, die kohärenten sowie ambivalenten Strukturen der Narration in den konkreten Textbeispielen in Beziehung zur historischen Wirklichkeitsauffassung zu stellen.

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Ähnlich geht auch Martin Dillmann vor, der sich mit der Musilschen Narratologie der Inkohärenz nachvollziehbar auseinandersetzt. Parallel zur narrativen Sinnbildung anhand kohärenter und inkohärenter Strukturen zeigt der Verfasser die ästhetischen Paradigmenwechsel der Zeit um 1900 auf, »welche die Forderungen nach Kohärenz, Sinn und Werkeinheit zugunsten von Ambivalenz, Kontingenz und Offenheit relativieren« (S. 197). Anhand poetisch-narrativer Strukturen zeichnet Martin Dillmann die Narratologie der Inkohärenz nach, »die narrative Formen der Kontingenz-Bewältigung entschieden zurückweist« (S. 202), und verdeutlicht somit das Konzept narrativer Sinnstiftung beziehungsweise -dekonstruktion in Musils Werk. Darüber hinaus gelingt Martin Dillmann ferner die Entfaltung der These, dass die Inkohärenz durchaus in Einklang mit der zeitbedingten Wirklichkeitsauffassung stehen und zugleich Modelle konzipieren kann, in denen sie »als ›positive‹ Quelle von Sinnstiftungsprozessen fungieren soll.« (S. 203)

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Die Kohärenz stiftende Funktion des
Erzählens in Bezug auf das Selbst einer Person

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Entgegengesetzt den vorangehenden Beiträge schlagen Tilmann Köppe und Tom Kindt einen ganz anderen Weg ein und eröffnen eine neue Perspektive, indem sie untersuchen, inwieweit – wenn überhaupt – das Erzählen in der Lage dazu ist, »in Bezug auf das Selbst einer Person Kohärenz zu stiften.« (S. 228) Wenngleich es den Verfassern des Beitrages ausgehend von den vorangestellten Definitionen der Begriffe ›Erzählen‹, ›Selbst‹ und ›Kohärenz‹ gelingt, die These von einer narrativ angelegten Verfasstheit des Selbst kritisch zu beleuchten, so verweisen sie dennoch richtig darauf, dass es sich hier um ein weites Feld handelt, das noch längst nicht ausreichend erforscht ist. Insgesamt verdeutlichen sie aber bereits durch ihren Beitrag zu Recht darauf, dass man nicht der allgemeinen Annahme verfallen solle, »unser Selbst sei narrativ strukturiert, und eben dies verbürge die Kohärenz, den Sinn oder die Verstehbarkeit des Selbst« (S. 244).

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Fazit

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Aus verschiedenen Perspektiven wird hier ein äußerst breites Spektrum an Untersuchungen zum Spannungsverhältnis von Ambivalenz und Kohärenz geboten und somit auf die Komplexität der Phänomene verwiesen. Trotz aller verschiedenen ausdifferenzierten exemplarischen Untersuchungen lassen sich immer wieder konkrete rote Fäden im spannungsreichen und vielfältigen Spektrum der narrativen Sinnstiftung und -durchbrechung erkennen und herausarbeiten. Die im Sammelband vorliegenden Untersuchungen sind insgesamt dazu in der Lage zu zeigen, dass es sich nicht nur um zwei sich gegenseitig ausgrenzende Phänomene handelt, sondern um Hand in Hand agierende, sinnstiftende Strategien, wenngleich diese eingehendere Behandlungen in der Zukunft verdient haben.