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Erzähltes Leben analysieren

  • Christian Klein (Hg.): Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien. Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler 2009. XVI, 485 S. Gebunden. EUR (D) 64,95.
    ISBN: 978-3-476-02263-9.
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Die Biographie als Textsorte ist in den Fokus literatur- und kulturwissenschaftlicher Forschung gerückt. Davon zeugen Publikationen des Jahres 2009: Aus der Arbeit des österreichischen Ludwig Boltzmann-Institutes ›Geschichte und Theorie der Biographie‹ resultieren zwei Aufsatzsammlungen 1 . Für 2011 kündigt de Gruyter zudem einen Reader mit Theorietexten zur Biographie in seinem literaturwissenschaftlichen Programm an 2 . Im Metzler-Verlag erschien ebenfalls 2009 das hier zu besprechende Handbuch Biographie, das Christian Klein herausgegeben hat. So interessant eine vergleichende Rezension wäre, kann und muss sie an dieser Stelle unterbleiben, ist die Herangehensweise an den Gegenstand doch im Grundsatz zu unterschiedlich: hier die Synthese und das Bemühen um Vollständigkeit, dort das wissenschaftliche Einzelproblem, die Fallstudie, der thesenhafte Aufsatz. Die Vergleichbarkeit läge wohl eher in der gemeinsamen Fundierung des Interesses an der ›Biographie‹ in den Arbeiten von James Clifford, Erving Goffman, Pierre Bourdieu und Michel Foucault. Beide sind unverkennbar Ergebnisse der kulturwissenschaftlichen Ausrichtung der Literaturwissenschaft.

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Randständigkeit der Biographie?

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Das Handbuch Biographie widmet sich einer Textsorte, deren Situation zwischen ästhetisch geformter Darbietung eines Lebenslaufs und exemplarischer Darstellung historischer Sachverhalte zu einer Sonderstellung führt. Zum einen ist für die Geschichtswissenschaft die enge Perspektive auf das historische Geschehen, die unabweisbare Konstruiertheit der auf eine Mittelpunktperson hin bezogenen Geschichtserzählung ein Problem, zum andern macht das Insistieren der erzählenden Instanz auf der Faktualität des Berichteten die Biographie zu einem Randphänomen des Erzählens aus der Sicht der Literaturwissenschaft. Gleichzeitig ist die Biographie in vielen ihrer Erscheinungsformen beim Lesepublikum äußerst erfolgreich.

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Das Handbuch legitimiert sich nicht zuletzt über diesen Erfolg des Genres; der Herausgeber Christian Klein sieht es einerseits als eine zentrale Aufgabe der in ihm versammelten Beiträge an, diesen Erfolg auch erklärbar zu machen. Zugleich werden aber schon in den »einleitende[n] Überlegungen« Angebote gemacht, worin der besondere Erfolg von Biographien beim Lesepublikum zu suchen ist: Sie versprechen »Antworten auf die Frage nach einem ›guten Leben‹« (S. XII), unterhalten durch spannende Erzählungen und befriedigen »die Neugier nach Details aus dem Leben anderer« (ebd.). Dieser Rezeptionsaspekt allerdings bestimmt die Gliederung des Handbuchs weniger als die systematischen Fragen nach den ästhetischen Voraussetzungen, den Merkmalen der Textsorte und den aus ihr abgeleiteten Möglichkeiten der Darstellung von Biographien auch in anderen Medien, der historischen und regionalen Differenzierung. Schon in der Einleitung wird eingeräumt, dass dabei der Begriff ›Biographie‹ nicht endgültig und abschließend definiert werden kann: Einem engen Verständnis (Biographie »als ›umfassendere schriftliche Darstellung des Lebens einer anderen (realen) Person‹«, S. XIV) steht ein weiteres gegenüber, das neben allen möglichen kürzeren Darstellungen von Leben in Lexikonartikeln, Nekrologen, Anekdoten bis hin zur Anamnese bzw. dem Gutachten auch die Autobiographie oder Prosopographie umfasst und schließlich auf die Biographik in den audio-visuellen und digitalen Medien ausgreift. Angesichts der Vielfalt der dadurch zu berücksichtigenden Aspekte und der mit ihnen befassten wissenschaftlichen Disziplinen ist es eine besondere Leistung, dass das Handbuch einen in sich abgeschlossenen und homogenen Eindruck macht, der auch darauf zurückzuführen ist, dass die Mitarbeiter daran überwiegend im Zentrum für Biographik zusammenarbeiten bzw. im Wuppertaler Forschungsschwerpunkt zur Erzählforschung mitwirken.

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Es macht angesichts dieser Homogenität wenig Sinn, einzelne Beiträge besonders herauszugreifen. Im Sinn wissenschaftlicher Biographik habe ich allerdings den Anteil einzelner Beiträger wenigstens quantitativ zu erfassen versucht und kann so würdigen, dass der Herausgeber seinen wesentlichen Beitrag geleistet hat und dabei vor allem auf die über den durchschnittlichen Umfang hinausgehende Zuarbeit von Anita Runge, Falko Schnicke und Stephan Porombka setzen konnte. Falko Schnicke hat vor allem die Begriffs- und Gattungsgeschichte bearbeitet (S. 1–6, S. 234–264), Anita Runge den Unterschied zwischen literarischer und wissenschaftlicher Biographik verdeutlicht (S.103–121, dazu ein Beitrag zu Gender Studies S. 402–407) und Stephan Porombka die Biographie als ›Sachbuch‹ (S. 122–131) und unter dieser Begrifflichkeit dann als ein spezifisches Phänomen des Buchmarkts (S. 444–450) behandelt.

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Mehr als »Methoden, Traditionen, Theorien«

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Das Handbuch verspricht im Untertitel »Methoden, Traditionen, Theorien«. Das ist wohl mehr der Wiedererkennbarkeit innerhalb der Reihe der Handbücher des Metzler-Verlages geschuldet als dass es tatsächlich das Gliederungsprinzip abgäbe, denn die Abschnitte gehen auf weitaus mehr Aspekte ein. Der einleitende Teil »Bestimmungen und Merkmale« liefert neben einer Begriffsgeschichte und einer Einordnung in die Gattungssystematik grundsätzliche Überlegungen zu Referentialität, Narrativität, Fiktionalität, Poetizität, zur Biographiewürdigkeit und zum Verhältnis zwischen Biographie und Autobiographie. Es versteht sich von selbst, dass sich hier Überschneidungen nicht vermeiden lassen. Der Herausgeber hat erkennbar auf mögliche Kürzungen und Querverweisungen verzichtet, was aber wiederum die Lesbarkeit erhöht. Ob ein Handbuch in jedem Fall auch ein Lehrbuch sein muss, ist ein Problem, das für die Textsorte Handbuch mit ihrer disparaten Leserschaft wohl nie ganz zu lösen sein wird. Dem Fachfremden werden Erläuterungen zu Grundsätzlichem wie der Frage »Was sind Gattungen?« (S. 7), zum Begriff der ›Literarizität‹ oder zum ›Konstruktivismus‹ sicher eine Hilfe zum Verständnis sein.

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Biographie als Gegenstand der Narratologie

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Im zweiten Abschnitt »Zentrale Fragen und Funktionen« werden verschiedene Facetten der Biographie ausgeleuchtet. Ausgehend von ihrer zentralen Bedeutung für die »Identitäts- und Subjektkonstruktionen« – hier unter dem Stichwort ›Performanz‹ verhandelt – wird die Biographie u.a. im Verhältnis zur Anthropologie, als Medium der Wissensformation und -interpretation, als Gedächtnisgattung sowie als Kommunikationsmedium vorgestellt. Hier gelingt die Integration unterschiedlichster Ansätze von der traditionellen Literaturwissenschaft über die Kulturwissenschaft bis hin zu Soziologie. Weil der Erzählvorgang als zentral gegenüber der (behaupteten) Faktizität der Biographien herausgestellt ist, wird nahezu unabweisbar, dass es sich bei der Biographie letztlich in all ihren Spielarten immer auch um einen Forschungsgegenstand der Narratologie bzw. der Literaturwissenschaft handelt.

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Wenn im Folgenden »Formen und Erzählweisen« benannt werden, mündet das konsequenter Weise in Hinweisen zu deren Analyse, die sich von der Narratologie her ergeben, selbst wenn die vorgestellten Formen über die Verschriftlichung von Lebensläufen in literarischer und wissenschaftlicher Biographik hinausgehen und z.B. biographisches Erzählen in den audiovisuellen und digitalen Medien oder die intermediale Biographik mit einschließen. Sie alle lassen sich letztlich mit dem Instrumentarium analysieren, das sich mit den Begriffen ›Histoire‹ und ›Discours‹ verbindet.

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Der europäische Blick

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Ein gutes Viertel des Handbuchs dient der Darstellung der historischen und regionalen Differenzierung, wobei Schwerpunkte auf dem 18. und 19. Jahrhundert in der Natur der Sache liegen: Aufklärung und Historismus sind die Geburtsstunde einerseits, die Blütezeit andererseits für die moderne Biographik. Die regionalen Darstellungen schreiten die Nationalliteraturen Europas ab und werfen einen Blick auf die US-amerikanische Biographik. Die einzelnen Beiträge machen hier auch Wechselwirkungen sichtbar (und en passant natürlich immer auch Lust auf Lektüre). Freilich vermisst man in einem so breit und interdisziplinär angelegten Band Hinweise auf die Biographik in anderen als dem christlich-abendländischen Kulturkreis. Hier schafft der Abschnitt »Biographisches Arbeiten als Methode« nur unzulänglich Ersatz. Zwar wird im Artikel zur Religionswissenschaft von Detlev Dormeyer auf die Bedeutung der Erzählungen über die Religionsgründer und bedeutender Gestalten im Judentum, im Islam oder im Buddhismus hingewiesen (S. 366) und – wie auch an anderen Stellen des Handbuchs – betont, dass alle Kulturen ›rites du passage‹ kennen (S. 369), die in Erzählungen thematisiert werden. Welche Bedeutung die Biographie des Menschen in solchen Kulturen hat, ob und in welcher Weise sie für überlieferungswürdig gehalten wird, ist damit aber nicht gesagt. Und auch der Artikel zu den »Postcolonial Studies« macht zwar darauf aufmerksam, dass das Abfassen von Biographien in den ehemaligen Kolonien »von der Kolonialerfahrung und von den Repräsentationen durch die Kolonialmächte geprägt« sei (S. 409), was aber die Frage nach dem Stellenwert von Biographien in diesen Ländern vor oder außerhalb des kolonialen Einflusses nicht beantwortet. Hier wünschte man sich in einem Handbuch zumindest das Aufzeigen von Forschungsdesideraten.

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Ein Handbuch auch für die Praxis des Schreibens

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Ansonsten vervollständigen Artikel zu einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen, die sich mit Biographien befassen (Künstlerbiographien in Kunstgeschichte und Musikwissenschaft, soziologisches, politikwissenschaftliches oder medizinisches Interesse an Biographien, Biographien unter Gender-Perspektive oder als Gegenstand von Jewish Studies), das Handbuch. Es mündet – und das ist wohl für literaturwissenschaftliche Handbücher ein Novum – in eine konkrete Anleitung zur »Praxis des biographischen Schreibens« (S. 419), in der »konzeptionelle Vorüberlegungen« (S. 425) ebenso vorgestellt werden wie der Umgang mit Quellen und Material. Selbst »Rechtsfragen des Biographieschreibens« (S. 451) verhandeln die Juristen Andreas von Arnauld und Stefan Martini. Der Herausgeber, der sich ja selbst schon mit einer Biographie zu Ernst Penzoldt in der Gattung praktisch bewegt hat, 3 liefert damit nicht dem Hobby-Autor Anleitung, sondern macht so deutlich, dass das Abfassen einer Biographie eine Aufgabe ist, der sich ein Literaturwissenschaftler nicht unreflektiert widmen kann.

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Biographien als Gelegenheitsschrifttum

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Zu den von Christian Klein genannten Schreibanlässen für eine Biographie zählen der anstehende Jahrestag ebenso wie die Notwendigkeit, »einen biographischen Diskussionszusammenhang [zu] stiften oder in einem bereits existierenden biographischen Diskussionszusammenhang neue Akzente setzen« zu wollen (S. 424). Das führt für ihn zu Überlegungen zu Auswahl, Anordnung und Adressatenbezogenheit des biographischen Materials. Damit sind aber Kategorien eingeführt, die ihre Wurzeln nicht in der modernen Theoriebildung der Kultur- oder Literaturwissenschaft haben, sondern die der Anleitungspoetik zum Gelegenheitsschrifttum der Frühen Neuzeit entstammen. Spannend wäre die Frage, wie weit die Topoi, die die Rhetoriken und Poetiken des Barock für das Herrscherlob, das Hochzeitsgedicht oder für die Leichenpredigt benennen, auf das biographische und autobiographische Schrifttum der Folgezeit prägend wirken. Dort, wo im Handbuch von Rhetorik die Rede ist, wird dieser Zusammenhang freilich nicht thematisiert, lediglich in Bezug auf die Leichenpredigt knapp umrissen (S. 266). 4 Allerdings böten diese Kategorien die Möglichkeit, die Analyse über die im Handbuch referierten narratologischen Aspekte hinaus zu betreiben. Sie stellten im Unterschied zu den Erzählverfahren, die ja lediglich die Nähe des biographischen Erzählens zum literarischen Erzählen aufzeigen können, eine tatsächliche Differenzqualität dar, die sich auch analytisch erfassen ließe. Im übrigen sind diese Kategorien – was sind entscheidende Wendepunkte im Leben, in welchen Konstellationen zeigt sich ein Charakter besonders eindrücklich, welchen Einfluss haben Elternhaus, Erzieher auf den Lebensweg etc. – in den verschiedensten Teilen des Handbuchs ja ohnehin stets präsent. Dass sie als Kategorien der Analyse nicht systematisch vorgestellt werden, ist der Dominanz der Narratologie zuzuschreiben. Es schmälert die respektable Leistung wenig; das Handbuch wird seinen Platz in der Literaturwissenschaft einnehmen und die Forschung zur Biographie anleiten und begleiten.

 
 

Anmerkungen

Die Biographie. Zur Grundlegung ihrer Theorie. Hg. v. Bernhard Fetz. Berlin, New York: de Gruyter 2009. Sowie; Die Biographie. Beiträge zu ihrer Geschichte. Hg. v. Wilhelm Hemecker und Wolfgang Kreutzer. Berlin, New York: de Gruyter 2009.   zurück
Theorie der Biographie. Grundlagentexte und Kommentar. Hg. v. Bernhard Fetz und Wilhelm Hemecker. Berlin, New York: de Gruyter 2011.   zurück
Christian Klein: Ernst Penzoldt. Harmonie aus Widersprüchen. Leben und Werk (1892–1955). Köln, Weimar: Böhlau 2006; vgl. die Rezension von Levke Harders: Neue literaturwissenschaftliche Biographik zwischen Fakt und Fiktion, zwischen Konstruktion und Dekonstruktion. Christian Klein über Ernst Penzoldt (http://www.iaslonline.lmu.de/index.php?vorgang_id=1762).   zurück
Die sorgfältigen Register, die den Text getrennt nach Namen und Sachen erschließen, machen die Überprüfung leicht. Der Eintrag zu Rhetorik verweist lediglich auf Stellen, an denen ein sehr allgemeiner Rhetorik-Begriff verwendet wird, so etwa als Charakteristikum der wissenschaftlichen Biographie eine »Rhetorik der Distanz« (S. 216).   zurück