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Ibsen, theoriebefreit

  • Bjørn Hemmer: Ibsen. Handbuch. München: Wilhelm Fink 2009. 532 S. Gebunden. EUR (D) 59,00.
    ISBN: 978-3-7705-4429-5.
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Eine fulminante Arbeit

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Sechs Jahre, nachdem Bjørn Hemmers breit angelegte Ibsen-Studie im Jahr 2003 – also pünktlich zum 175. Geburtstag Ibsens – auf dem norwegischen Buchmarkt erschien, liegt sie in der Übersetzung von Sylvia Kall seit 2009 nun auch auf Deutsch vor. Die mit ihren gut 530 Seiten durchaus fulminant zu nennende Arbeit wendet sich dem Verfasser zu Folge an ein »allgemein interessiertes Publikum und an jeden, der Einblick darin gewinnen möchte, wovon Ibsens Werk handelt« (S. 13). Deshalb, so Hemmer weiter, verzichte das Buch weitgehend auf Fachterminologie sowie auf eine bestimmte theoretisch fundierte Herangehensweise. Zentrales Anliegen sei es vielmehr, den Leser in das komplexe ›Universum Ibsen‹ einzuführen und ihm ein Verständnis für das zu ermöglichen, was bei vielen aktuellen theorielastigen Lesarten wie Inszenierungen häufig nicht angemessen vermittelt werde: »der starke existentielle und humanistische Appell« (S. 28) der Werke Henrik Ibsens.

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So unprätentiös wie eindringlich die ersten Seiten des Buches geschrieben sind, so sachkundig und engagiert arbeitet Hemmer auch auf den restlichen 500 Seiten sein Material durch und löst damit seinen im Vorwort umrissenen Anspruch überzeugend ein. Abgesehen von einem einleitenden Kapitel zu »Ibsen in Deutschland« und einem darauf folgenden Kapitel zu der Frage nach der Aktualität Ibsens, orientiert sich Hemmers Arbeit weitgehend an der werkbiographischen Entwicklung des Autors. Der norwegische Originaltitel Ibsen. Kunstnerens vei (Ibsen. Der Weg des Künstlers) entspricht der Anlage des Buches insofern deutlich besser als der spröde und falsche Vorstellungen weckende deutsche Titel Ibsen. Handbuch. Zwar könnte man den Titel insofern rechtfertigen, als einzelne Kapitel auch nach Themengebieten wie »Ibsen und das historische Drama«, »Ibsen und das realistische Problemdrama« oder auch »Ibsen und Italien« geordnet sind, doch ändert das nichts an der grundlegenden Ausrichtung des Buches, dem »Weg des Künstlers« zu folgen.

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Ibsens Figuren

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Die grundlegende Überzeugung Hemmers besteht dabei darin, dass Ibsens Figuren den gleichen Weg und die gleiche Aufgabe zu bewältigen haben wie der Autor selbst. Denn auch wenn die Figuren nicht alle Künstler sind, so sind sie doch »Schaffende«, die den bestehenden Verhältnissen eine »bessere Welt« entgegenzusetzen versuchen, um sich so vor sich selbst legitimieren, d.h. sich selbst guten Gewissens ins Gesicht schauen zu können. Dass dieser Blick allzu oft ein von Illusionen und Verblendungszusammenhängen getrübter Blick ist, stellt das dahinter liegende Bemühen nicht grundsätzlich in Frage, sondern verdient nach Hemmer als Ausdruck existentieller Not ernst genommen zu werden. Zeugt es doch vom Drang des Menschen, sich mit »den unerträglichen Bedingungen der Wirklichkeit und der Leere des Daseins« (S. 515) nicht zufrieden zu geben, sondern sie umgestalten zu wollen.

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Hemmers Interpretation weist hier, wie an anderen Stellen auch, eine auffällige Nähe zu der wichtigen Studie Ibsens Heroisme (Ibsens Heroismus) aus, die 2002, also ein Jahr vor der Veröffentlichung von Hemmers Arbeit, von einem anderen Ibsen-Experten Norwegens, von Atle Kittang, herausgebracht wurde Denn so wie Hemmer argumentiert auch Kittang gegen eine dekonstruktivistische Betrachtung der Ibsenschen Figuren als ironisch gebrochene Helden, und für eine Lesart, die die Figuren mit ihrem heroischen ›Willen zur Handlung‹ ›ernst‹ nimmt. 1

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Anders als Kittangs Arbeit zeichnet sich Hemmers Werk jedoch nicht durch eine reflektierte Diskussion der verschiedenen theoretischen Zugänge zu Ibsen aus. Auch bietet es, ebenfalls anders als die Kittangs Buch leitende Frage nach Konzepten des Heroischen, keinen eigenständigen Zugriff auf Ibsens Texte. Das was Hemmer stattdessen leistet, ist eine sachkundige, am Inhalt orientierte, dicht am Text arbeitende Re-Lektüre der bekannten, wie auch der weniger bekannten frühen Texte Ibsens. Für die Ibsenforschung ist Hemmers Arbeit insofern wenig spannend, auch wenn die eine oder andere Detailanalyse sicher Beachtung verdient. Anregend sind in diesem Zusammenhang v.a. die Analysen der frühen dramatischen Gedichte Auf den Höhen und Terje Vigen. Hier kann Hemmer sehr schön zeigen, wie Ibsen auf der einen Seite die Entscheidung des Bauernsohnes für das einsame Leben im Hochgebirge, und auf der anderen Seite die Entscheidung des freien, zur See fahrenden Matrosen für das häuslich-familiäre Leben in den Fokus des Interesses rückt und damit eine Art Grundstein legt, auf den die Konflikte späterer Figuren aufbauen.

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Lesenswert ist ebenfalls die Analyse des Dramas Brand, dessen gleichnamige Hauptfigur Hemmer anders als viele Literaturwissenschaftler vor ihm, nicht realistisch liest, sondern als »symbolische Verkörperung« (S. 131) einer Idealfigur, die zu ihren Überzeugungen steht und sich dem Imperativ ›Alles oder nichts‹ aus Sorge um das Wohl seiner Mitmenschen beugt. Die Brand auszeichnende Kompromisslosigkeit und scheinbare Kälte sei insofern nicht als Anti-Humanismus misszuverstehen, sondern als eine Art Hohelied der Konsequenz zu lesen. Auch hier liegt eine interessante Nähe zu Kittangs Arbeit vor, die dem Drama Brand ebenfalls einen paradigmatischen Stellenwert für Ibsens Gesamtwerk zuspricht.

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Fazit

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Positiv gegenüber Kittangs Fokussierung auf die männlichen Hauptfiguren Ibsens ist herauszustellen, dass Hemmer den »großen Frauen« Ibsens ihre berechtigte Bedeutung nicht abspricht, sondern insbesondere Die Frau vom Meer und Hedda Gabler eingehend untersucht. Leider unterdrückt aber auch hier Hemmers Fokussierung auf die ›gequälte Existenz‹ jeglichen Ansatz neuer und überraschender Lesarten. So verdienstvoll und nachvollziehbar Hemmers Anliegen auch ist, die Grundkonflikte der Figuren herauszuarbeiten, so bedauerlich bleibt doch die Enge dieser Perspektive. Nicht der Verzicht auf einen theoretischen Unter- oder Überbau ist es dabei, der Hemmers Handbuch zu einer wenig anregenden Lektüre macht, sondern vor allem das Fehlen einer wie auch immer akzentuierten Fragestellung. Gerade die von Hemmer zu Recht beschworene Komplexität von Ibsens Gesamtwerk hätte hier eine Fülle von Möglichkeiten eröffnet. So aber wird gerade der Leser, der mit dem Gesamtwerk Ibsens nicht vertraut ist, nicht neugierig gemacht auf das, was dieses Werk über humanistische Appelle hinaus zu bieten hat.

 
 

Anmerkungen

Vgl. hierzu Joachim Schiedermair : Ibsens Heroismus (Rezension über Atle Kittang: Ibsens heroisme. Frå Brand til Når vi døde vågner (Pegasus-serien 1) Oslo: Gyldendal Norsk Forlag 2002. In: IASLonline [07.12.2003] URL: http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=1147 Datum des Zugriffs: 19.08.2010.   zurück