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Zuhören und Aufhorchen

  • Annette Doll: Funkspuren. Der Rundfunk in der schwedischen Literatur. Ein Beitrag zur Intermedialitätsforschung. (Nordica 16) Freiburg im Breisgau: Rombach 2009. 314 S. Paperback. EUR (D) 48,00.
    ISBN: 978-3-7930-9609-2.
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Dolls Arbeit widmet sich vornehmlich Thematisierungen von Rundfunk und Radio in exemplarischen Texten der schwedischen Literatur. Die Verfasserin ist auf der Suche nach einer ›funkischen‹ Schreibweise und damit nach literarischen Darstellungsformen, die auf die Materialität des Rundfunks abgestimmt sind. Hieraus leitet sich die Auswahl des Textkorpus ab, das eine Reihe vielversprechender medienhistorischer Erweiterungs- und intermedialer Transfermöglichkeiten eröffnet. Weiterhin bietet sich an, eine auf die literarische Performativität gerichtete Perspektive anzulegen, nicht zuletzt weil sich die ausgewählten Texte mit akustischen Wahrnehmungen auseinandersetzen.

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Vorhaben

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In den ersten beiden Kapiteln weist Doll das Desiderat einer intermedial orientierten Rundfunkforschung nach, die vor allem die Vorrangstellung der Visualitätsforschung ausgleichen soll (vgl. S. 20). Von gutem Synthesevermögen zeugt Dolls Resümee der skandinavischen Mediengeschichte und Intermedialitätsforschung. So wird etwa Gunnar Hallingbergs detailreiches, ausuferndes Werk gekonnt auf den Punkt gebracht und einige treffende Schlüsselzitate werden nutzbar gemacht. Entsprechend greift Doll aus den Radiotheorien die Ansätze heraus, die im Laufe der kursorischen beziehungsweise vertiefenden Analysen appliziert werden.

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In der »Kleinen Kulturgeschichte des Radios aus literarischer Perspektive« (Kapitel 3) werden die Mediengeschichte des Radiohörens und die Genese des schwedischen ›folkhem‹ miteinander verknüpft. Von den Anfängen der Radiosendungen, den Ritualen der oft gemeinschaftlich hörenden Rezipienten, der allmählichen Umorientierung von bildenden zu eher unterhaltsamen Programminhalten bis hin zur Privatisierung von Radiosendern und zur Kulturkritik am Multitasking werden die wesentlichen Entwicklungsstufen abgeschritten.

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Die Diagnose des Funkischen ist von konkreten Textbefunden geleitet, die Doll als Basis für generalisierbare strukturelle Analogien verwendet oder zum Anlass für medientheoretische Modellanwendungen nimmt. Hierbei leisten unter anderem Niklas Luhmanns Systemtheorie und unterschiedliche Zugänge der Intermedialitätsforschung (Irina Rajevsky, Werner Wolf, Joachim Paech) hilfreiche Dienste. Nicht selten belegen die ausgewählten literarischen Texte schlichtweg die Stichhaltigkeit bestimmter Medientheorien, wie in Kapitel 4 deutlich wird.

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Der Intermedialität im engeren Sinne ist erst das vierte Kapitel (»Intermediale Beziehungen zwischen Rundfunk und Literatur«) gewidmet, in dem vom close reading inspirierte Studien zu Ronny Ambjörnssons Mitt förnamn är Ronny (1996) und Ylva Eggehorns Kvarteret Radiomottagaren (1994) vorgelegt werden. Der Veröffentlichungszeitpunkt dieser beiden Erinnerungsromane, gleich nach der Rezession Anfang der 1990er Jahre, markiert einen Endpunkt der öffentlich-rechtlichen, stark sozialdemokratisch geprägten Rundfunktradition in Schweden, wodurch Lebensrückblick und Medieninstitutionsgeschichte miteinander verwoben sind. In der Analyse von Gustaf Hellströms Kollektivroman Storm över Tjurö (1935) werden Merkmale des Interdiskurses, der popularisierenden Verbreitung von Wissen aus Spezialdiskursen, plastisch herausgearbeitet. In einer stärker synthetisierenden Aufbereitung untersucht Doll im Intermedialitätskapitel die Erzählung »Svinvakterskan« (Ivar Lo-Johansson, 1941), den Roman Skimmer (Göran Tunström, 1996), das Drama »Den heliga familjen« (Rudolf Värnlund, 1956) auf deren Rundfunk-spezifische Realitätsentwürfe hin. Ein Unterkapitel zum ›Unheimlichen‹ und zu den akustischen Szenographien des Verbrechens sowie zur funkischen Schreibweise in zwei Beiträgen der Vierziger Jahre-Prosaisten Lars Ahlin und Stig Dagerman schließen sich an (»Efter år av tystnad«, »Den främmande mannen«, beide 1947).

Da der eigentliche Schwerpunkt von Dolls Dissertation auf dem Funkischen in der Literatur liegt, bietet sich die Analyse zweier Hörspiele in Kapitel 5 (»Intramediale Beziehungen: Selbstreflexionen des Mediums Rundfunk im Hörspiel«) zunächst exkursartig dar, 1 zumal es sich nicht um Adaptionen von Literatur für den Rundfunk, sondern um Originalhörspiele handelt: »Sommar, sommar, sommar« (Björn Runeborg, 1980) und »Ur mörkret« (Sisela Lindblom, 2002). Beide Produktionen wurden im Kulturprogramm P1 von Sveriges Radio gesendet. Dolls eingehende Behandlung der Selbstreflexivität dieser beiden Hörspiele lässt indessen eine überzeugende Rückbindung an die literarische Textauswahl zu.

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Nicht ausgeschöpfte Möglichkeiten der Systematisierung

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Bei der Auswahl und Zusammenstellung des Materials hat die Verfasserin eine umfangreiche und lohnende Sichtungsarbeit geleistet. Da sich oft nur einzelne Textpassagen auf Rundfunk oder Radio beziehen, besonders in der Auswahl für das mediengeschichtliche Kapitel 3, hat Doll Fingerspitzengefühl und Ausdauer bewiesen.

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Die Gliederung ist zwar auf plausible Weise von der Vergleichbarkeit des Materials geleitet, doch böte sich als Alternative auch eine Gruppierung sämtlicher Texte anhand mediengeschichtlicher Phasen an. Doll visiert diesen Horizont selbst mit der Feststellung an, dass die Zeitspanne von 1920 bis 1960 die Blütezeit der Radio-Literatur darstelle (vgl. S. 295). Auch die von Doll beschriebenen Publikumsgenerationen bestätigen die Tragfähigkeit eines Phasenmodells (vgl. S. 91–96). Eine Gliederung in erstens eine – nicht selten trotz fehlender Inhalte – enthusiastische Introduktionsphase, zweitens eine Phase der Medienskepsis und schließlich drittens eine Etablierungsphase kollektiver Rezeptionspraktiken könnte dazu dienen, die Kulturgeschichte des Radios besser für die Kontextualisierung von Kapitel 4 und 5 zu nutzen. Infolgedessen wäre sogar möglich, die Radio-Literatur und die Hörspiele intensiver aufeinander zu beziehen. Neben der diachronen Erfassung der ›Funkspuren‹ erscheint eine Untersuchung der Frage reizvoll, ob ein synchroner beziehungsweise phasenspezifischer intermedialer Austausch stattgefunden hat.

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Um ein Beispiel zu geben: Die ›Unheimlichkeit‹ des Rundfunks ist mit medienskeptischen Konnotationen belegt, wie ein verwandtes Medium besonders nachdrücklich veranschaulicht, das bei den Rezipierenden den Umgang mit separiertem Wahrnehmungs- und Kommunikationsraum bereits eingeübt hatte – das Telefon, welches in seiner ›Pionierzeit‹ als ›Radio‹ unter anderem für die Musikübertragung genutzt worden war. 2 Bezeichnenderweise wurde das Telefon ebenfalls als »Verbindungsmedium zum Totenreich« (Doll, S. 207) verdächtigt und illustriert so die Vorbehalte im Umgang mit den Vorstufen von Telepräsenz. Anhand dieses Beispiels zeichnet sich ab, dass die Wiederkehr eines Mediums beziehungsweise dessen spezifischer medialer Praktiken (Remedialisierung) in einem anderen Medium ein fruchtbares angrenzendes Untersuchungsfeld ausmacht. In dieser Hinsicht hervorhebenswert sind dabei die Remedialisierung des Radios im Fernsehen und die Ausbildung konvergenter Formen wie das Internet-Radio. Der hermeneutisch ausgerichteten Intermedialitätsforschung könnte insofern eine ›medienkulturwissenschaftliche‹ ergänzend zur Seite gestellt werden.

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Darüber hinausgehend laden die ›Medienverheißung‹ bei den early adopter-Gruppen und die Technologie-Skepsis oder Indignation der Gegner zum Vergleich ein.

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An dieser Stelle wirft Dolls Untersuchung daher neue Fragen auf, die sich anhand des verwendeten Materials aber kaum beantworten lassen: In welcher Ausprägung betreffen die optimistischen Erwartungen beziehungsweise Befürchtungen gegenüber vergleichbaren Einzelmedien die Rezeptions- und die Produktionsseite? Welche Medienvergleiche und Remedialisierungen werden in bestimmten medienhistorischen Phasen überhaupt beansprucht, um die Effekte des Mediums zu veranschaulichen? 3 Die skeptische Einschätzung, dass der Radioapparat die menschliche Kommunikation grundsätzlich störe oder gar erstatten könne, wird später überlagert von dem Unbehagen an einem infragegestellten Realitätsentwurf. Im digitalen Zeitalter wird schließlich die virtuelle Dimension häufig als eine konkurrierend und bedrohlich vorgestellte Gegenwelt dargeboten. Das Unheimliche bezieht sich somit auch auf eine antizipierte Ohnmacht und die Befürchtung, dem Wahrnehmungsraum unfreiwillig enthoben zu werden und stattdessen zu einem ›Gefangenen‹ im Kommunikationsraum des Telefons, Radios oder auch Fernsehers zu werden. 4 Die so genannte Lesesucht, die im 19. Jahrhundert Diskussionen auslöste, bietet sich vor diesem Hintergrund ebenfalls für den medienhistorischen Vergleich an. Dem Topos einer literarischen Verführung zum Trotz stehen dabei besonders die Lesenden in der Kritik, die das Eskapismusangebot von Literatur annehmen.

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Die Profilierung des Einzelmediums Radio findet sowohl mittels Abgrenzung als auch durch remedialisierende Vereinnahmung statt: In Ronny Ambjörnssons Erinnerungsroman konkurriert das Radio zum Beispiel mit dem spärlichen Buchbestand der Familie, der Illustrierten Allers und der Tageszeitung. In einer bemerkenswerten Episode des Romans wird (auch über die funktionelle Performativität des Textes) ein zusätzlicher Bedeutungsspielraum hergestellt, was die Wissensdistribution mittels Radio und Buch betrifft: Der durchdringende Klang des Buchstaben A in der Stockholmer Diktion des Radiosprechers, der im Wohnzimmer der Arbeiterfamilie eine gläserne Obstschale in Schwingung versetzt, unterstreicht, dass die Rundfunkmeldungen für bildungshungrige Autodidakten wesentliche Orientierungen und Handlungsanweisungen ausmachen. 5 Dabei überflügelt die Autorität der Sendeanstalt sogar diejenige einer Lexikonredaktion: Die willkürlichen Wissenseinheiten, die sich Ronny aus dem ersten Band des Lexikons Nordisk Familjebok zum Buchstaben A aneignet, wirken angesichts der Radio-Rundumversorgung mit Informationen beschränkt und zusammenhangslos. Darüber hinaus sind Radio und Lexikon nicht kompatibel, denn nur die mit dem Buchstaben A beginnenden Begriffe können im ersten Lexikonband überhaupt nachgeschlagen werden. 6 Der Bildungseffekt des Radios scheint dadurch kognitiv und sinnlich umfassender. Die Präsenz der sonoren Radiostimmen verstärkt das Interesse der Zuhörenden an den Sendeinhalten zu einer dankbaren Ergriffenheit. 7 Der ›Resonanzraum des A‹, sei es als Phonem oder als Buchstabe, versinnbildlicht den pädagogischen Anspruch und ein gewisses Pathos der staatlichen folkbildning im Rundfunk, aber auch dessen Machtpotential hinsichtlich der öffentlichen Meinungsbildung.

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Die mit diesem Textbeispiel angesprochene Medienkonkurrenz zwischen Radio / Rundfunk und anderen Einzelmedien ließe sich auch auf das Medium Film beziehen, der in Ylva Eggehorns Roman zu einem wesentlichen Erinnerungsträger erklärt wird. Um Erinnerungsakte auf unterschiedlichen Sinnesebenen darstellen zu können, werden in Kvarteret Radiomottagaren kombinierte oder konvergente mediale Übergangsstufen entworfen. Auf solche Wechselverhältnisse geht Doll eher selten ein (eine Ausnahme bilden die Ausführungen zum Montageprinzip, vgl. S. 127). Überwiegend stellt die Verfasserin die Heterogenität der Befunde heraus, im Sinne einer zunehmenden Ausdifferenzierung des intermedialen Austauschs. Möglicherweise gibt die starke Materialorientierung den Blick auf systematisierbare Kategorien eher nicht frei.

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Fehlende Berücksichtigung der Performativität

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Bezogen auf die sinnliche Wahrnehmbarkeit und die Performativität von Rundfunk und Literatur bleibt die Arbeit – ihrem Zuschnitt der Fragestellung entsprechend – notwendigerweise etwas vage. 8 Auch wird den Lesenden einmal mehr eine der schwierigsten Herausforderungen der Intermedialitätsforschung bewusst: Wie lassen sich die Übergangsstellen zweier ästhetischer Systeme beschreiben, ohne dabei in ein ›metaphorisches Übersetzungsdenken‹ zu verfallen? Weiterhin ist die sich verselbständigende konzeptuelle Kraft von Metaphern zu beachten, die der Umschreibung von Transformationen dienen. Mediale Metaphern sind bekanntermaßen sehr ansteckend.

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So kann Doll die Analogien zwischen Programmaufbau und narrativer Strukturierung zwar eingängig belegen, aber diese klare Fokussierung ist allein durch die prinzipielle ›Text-Sinn-Zentrierung‹ der Dissertation möglich, die mit einer weitgehenden Ausblendung performativer Aspekte einhergeht. Selbst im Rahmen der sinnzentrierten Zugangsweise wäre allerdings naheliegend gewesen, stärker auf die indexikalischen Zeichencodes des Rundfunks einzugehen, wie der Titel der Arbeit eigentlich in Aussicht stellt, und damit zumindest die Dimensionen von Stimme und Klang noch deutlicher herauszustellen und erst daran anschließend mittels einer methodischen Begründung auszugrenzen.

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Nichtsdestotrotz fördert die Studie in ihrer Gesamtheit viele interessante und bisher nicht beachtete Befunde zutage. Besonders nachdrücklich veranschaulicht Dolls reichhaltige Präsentation die Suspendierung der visuellen Wahrnehmung und die Intensivierung des Akustischen, welches übrigens an die Ursprünge der Hörspiele erinnert, die sich an blinde Hörende richteten. Während der akustischen Rezeption wird ein besonderes Leerstellen-Potential geschaffen, etwa für die räumliche Imagination oder für die aus stimmlichen Eigenschaften abgeleiteten Figurencharakteristiken. Dolls Einschätzung, dass der literarische Diskurs in der Darstellung der Figurenpsychologie dem Radio-Diskurs überlegen sei, unter anderem weil »isolatorische Tendenzen wesentlich besser zum Ausdruck gebracht werden können« (S. 297), ist zu widersprechen und in Erinnerung zu rufen, dass es sich bei der stillen Lektüre von Texten um eine ›Nullstufe‹ der Performativität handelt, deren Selbstverständlichkeit sich erst während des 19. Jahrhunderts eingebürgert hat. Es wäre nicht konsequent, einem der beiden Mediencodes aus verschiedenen ästhetischen Systemen ein reduziertes Spektrum an Zeichen zuzusprechen.

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Obwohl nicht alle vertiefenden Analysen die prinzipielle Ausblendung der Performativität auffangen können, eröffnen das close reading und das terminologische Inventar nicht selten Einsichten in die Wirkungsweisen funktioneller Performativität. Indem etwa zitierte historische Rundfunkansagen (»associative quotations« nach W. Wolf) die Phänomene Klanglichkeit und stimmliche Materialität gleichsam ›mitzitieren‹, bilden sie Übergangsstellen zwischen den beiden ästhetischen Systemen. So führt der literarische Text vor, hörbar und nicht nur lesbar sein zu können.

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Mit dem Thema des Wahrnehmungs-Habitus (vgl. Doll, S. 111) und der körperlichen Prägung durch sinnliche Erfahrungen in Eggehorns Roman Kvarteret Radiomottagaren wird einmal mehr ein Performativitätsaspekt berührt. Die erinnerten Klänge, Geräusche und Musikstücke bieten ein breites Spektrum einer ›sinnlichen‹ und einer ›radiospezifischen‹ Lautlichkeit, beide vermittelt in der literarischen Darstellung von Erinnerungsakten. So wird stärker als das Dokumentarische der Prozess einer Vergegenwärtigung akzentuiert und damit ein Erinnerungsvorgang im ›Jetzt der Lektüre‹ vollzogen. Für dieses Textbeispiel ist zudem festzustellen, dass diejenigen Klang- und Erinnerungsmetaphern, die vom Einzelmedium Radio abgeleitet werden, bildlich und konzeptuell besonders produktiv sind und gleichsam Episoden-übergreifend ausstrahlen (vgl. S. 128). Damit entsteht eine faszinierende inter- und intramedial fundierte Bildlichkeit, für die Dolls Lektüre sensibilisiert.

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Mittels der Rundfunk-Film-Analogie werden zum einen der abgrenzbare Zeitraum der Kindheit und das kompositorische Gebilde der Episoden parallel geführt. Der erinnerte Wohnblock setzt sich aus den Klängen und Stimmen des Radios und zugleich aus filmisch inszenierten Erinnerungsbildern zusammen (vgl. Eggehorn, S. 51). Die Analogie erstreckt sich sogar auf das Ungesagte oder Vergessene, denn die losgelösten akustischen Details finden in den vereinzelten Sequenzen eines metaphorischen Erinnerungsfilms, der von Sprüngen und Bildlücken unterbrochen wird, ein Pendant (vgl. ebd., S. 67). 9 Der Radioklang bildet einen subjektiven akustischen Radius aus und das Verstreichen der Zeit 10 wird veranschaulicht durch die akustische Wahrnehmung einer sprechenden Stimme.

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Die synästhetisch gestalteten Erinnerungen lassen sich im Hinblick auf die gewählten Kombinationen aus imaginierten Klängen oder erinnerten Geräuschen spezifizieren. Die einfachste Art scheint ein an bestimmte Gegenstände oder Orte gebundener akustischer Erinnerungsstimulus zu sein, wie etwa das Schnappen eines Müllschachtdeckels (vgl. ebd., S. 48). Eine Art ›Rückkopplung‹ entsteht in der Spielart, dass Orte des gelebten Lebens selbst zu erinnernden Akteuren werden, wie zum Beispiel die im Roman erwähnten Waschküchen, die sich an das Gelächter von Frauen und Kindern erinnern (vgl. ebd., S. 101). Hervorzuheben sind auch metaphorische Überblendungen, die mediale Bildspender, körperliche Sinneswahrnehmungen und Affekte zusammenbringen und deshalb einmal mehr das performative Potential betreffen: »den knattrande framtiden« (›die knatternde Zukunft‹, ebd., S. 81) 11 – hier bewegt sich die durchfahrene Zeit selbst mit und wird auch lautmalerisch eingebracht, was auf ein glückliches Einheitserlebnis der Radfahrerin schließen lässt. Sentimentalität wird zugleich durch Bildbrüche im Sinne eines schrägen Kitsch-Effekts unterbunden: »Deras gnäll var ljuv musik för mina rödblåsta öron.« (›ihr Gemecker war wie Musik in meinen rotgewehten Ohren‹, ebd., S. 81). Der kindliche Eifer, alles in sich aufzunehmen und die gesteigerte Empfänglichkeit finden auf der discours-Ebene eine Entsprechung, indem explizit ›ausgebaute‹ Synästhesien geschaffen werden: Es gilt der Erzählinstanz zufolge, einzigartige Schwingungen und Tonlagen zu erschaffen, die so unverwechselbar wie ein gustatorischer oder olfaktorischer Reiz seien (vgl. ebd., S. 76). Eine eindrucksvolle Umsetzung dieser ästhetischen Maxime findet sich bereits in der ersten Episode: Für das Geräusch einer Hummel, die in das Gehäuse einer Fahrradklingel geraten ist und deren Summen nun leicht gedämpft erscheint (vgl. ebd., S. 5), ist meiner Einschätzung nach sogar eine anerkennende Begriffsneuschöpfung fällig: eine ›multisensuell-expandierende‹ Metapher, die sich zum einen auf den Radioapparat und dessen Veränderung des Klangs von Stimmen bezieht, zum anderen auf das sinnlich erfahrbare Spannungsverhältnis zwischen einem begrenzten Innen und einem weiten Außen, auf die Kontraste zwischen dunkler und heller Klangfarbe, harter und weicher Oberfläche, statisch und dynamisch oder ähnliches.

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Auch für das letzte Kapitel ist festzustellen, dass eine Berücksichtigung performativer Aspekte den Horizont erheblich erweitert hätte: Bildete die Hörspielsendung selbst das Zentrum der Aufmerksamkeit, müsste beispielsweise die Analyse von Lindbloms »Ur mörkret« nicht mit dem vermeintlichen ›Ursprungstext‹ in der Mitte des Drei-Ebenen-Modells beginnen (vgl. Doll, S. 273), sondern zuerst auf die äußere Ebene fokussieren. Beginn und Ende des Hörspiels geben nämlich einen Rahmen für die Simultaneität der aufgeführten Ereignisse vor: Während der Sendezeit werden in der radio-dramatischen Szene eine Hörspielproduktion, ein zitiertes Hörspiel und eine historische Kurzgeschichte verhandelt. 12 Die auf den drei Ebenen wiederkehrenden Stimmen der Mitwirkenden stellen kommentierende Beziehungen zwischen den Figurenkonstellationen auf unterschiedlichen Handlungs- und Zeitebenen her (vgl. S. 284). Gerade diese bedeutungserzeugenden stimmlichen Effekte sind genrespezifisch für das Radiodrama, so dass in diesem Fall sogar von einem Deutungsvorrecht auszugehen wäre, das bestimmten performativen Effekten in Hörspielen zukommt.

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Resümee

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Der Arbeit kommt das große Verdienst zu, Materialien für die Intermedialitätsforschung nicht nur in der Skandinavistik zu erschließen und für weitere Untersuchungen bereitzustellen.

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Funkspuren belegt den Erfolg einer kulturwissenschaftlich erweiterten Literaturwissenschaft – und weckt die Neugier auf weitere Detailanalysen einzelner Texte und Radiosendungen.

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Die Darlegungen der Verfasserin führen anschaulich vor, dass sich Remedialisierungen, die ausgehend von wechselseitigen Medien-Thematisierungen nachweisbar sind, auf die mediengeschichtliche Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft richten. Dies regt weiterführende Forschungen beispielsweise zu synchronen Remedialisierungen in den genannten drei Entwicklungsphasen an, für die reizvoll wäre, nicht nur Literatur- und Medieninstitutionsgeschichte genauer aufeinander zu beziehen, sondern auch die Aufführungssituationen von Literatur und Radiosendungen in einem gemeinsamen synchronen Kontext zu analysieren.

 
 

Anmerkungen

Nach beendeter Lektüre ergibt sich aus der übergreifenden Perspektive die Möglichkeit, die vorhandenen, aber auch die nur teilweise genutzten Vernetzungsmöglichkeiten der drei Kapitel genauer einzuschätzen. Aus dem umfangreichen Korpus von Kapitel 3 gewinnt Doll ihr Material für die Untersuchung von Inter- und Intramedialität in Kapitel 4 und 5, wodurch es zu einer (unvermeidlichen) Doppelverwendung bestimmter ergiebiger Zitate kommt. Außerdem kann man im Hinblick auf das Kapitel 5 eine ausführlichere und integrierte Behandlung der Hörspiel-Geschichte in Kapitel 3 vermissen (z.B. die Berücksichtigung der Serie »Familjen Björk«).

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Jan Garnert: Hallå! Om telefonens första tid i Sverige. Lund 2005.

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Zur Beantwortung dieser Fragen hätten in stärkerem Maße Archivalien einbezogen werden müssen, was die Ausrichtung der Arbeit voraussichtlich zu stark verändert hätte. Um das »Affektivitäts- und Imaginationspotential« (Doll, S. 297) von Literatur und Rundfunk auszuloten, wäre die Untersuchung von Rezeptionsdokumenten besonders aufschlussreich; siehe u.a. die bei Doll erwähnte Anthologie von Carl Anders Dymling und Julius Rabe: Radiotjänst (1929).   zurück
Zur Veranschaulichung eines solchen Alptraums einer hypnotischen Manipulierbarkeit lohnt sich immer noch der Hinweis auf den Effekt des Hörspiels »Krieg der Welten« (Orson Welles, 1938; nach dem gleichnamigen Roman von Herbert George Wells von 1898).   zurück
Ronny Ambjörnsson: Mitt förnamn är Ronny. Stockholm: Bonniers, 1996, S. 15.    zurück
Vgl. ebd., S. 16.   zurück
Bezeichnenderweise geriet das Lexikon auf dem Wege einer Reklameaktion in den Besitz der Familie und erhält demzufolge eine ähnliche populärkulturelle Markierung wie die Illustrierte Allers. In dieser Romanepisode tritt gerade nicht das bewährte Lexikon als unabhängiger Wissenslieferant auf, sondern der öffentlich-rechtliche Rundfunk, der zudem in der Lage ist, eine repräsentative Zusammenschau von Themen mit bis zu 29 verschiedenen Anfangsbuchstaben zu bieten (vgl. ebd.).   zurück
Einzelne Formulierungen hätten geschärft werden können (wie etwa »authentische 1:1 Wiedergabe«, »Blickwinkel des Rundfunks«).   zurück
Siehe auch das geräuschlose Händeklatschen eines Kindes (vgl. Ylva Eggehorn: Kvarteret Radiomottagaren, Stockholm: Bonniers, 1994, S. 104).   zurück
10 
Wie Doll erwähnt, wird das Vergehen von Zeit bevorzugt über linear strukturierte Zeichen ausgedrückt.   zurück
11 
Die lautmalerische Dimension, die auch mögliche Radiogeräusche umfasst, ist im Deutschen kaum wiederzugeben.   zurück
12 

Ein Hörspiel wird selbstreflexiv, wenn es das Funkische und seine radio-dramatische Verfasstheit zum Thema erhebt. »Ur mörkret« ist dezidiert metafiktional konzipiert und integriert Materialien aus unterschiedlichen, auch wissenschaftlichen Spezialdiskursen (Forschung zu Victoria Benedictsson, literaturtheoretische Ansätze, Mediengeschichtliches). Im Rückgriff auf die von Doll herangezogenen Ansätze von Jürgen Link stellt sich die Frage, ob die literarische Metafiktion gerade bei Lindblom nicht als interdiskursives Element eingesetzt wird. Das Hörspiel setzte in diesem Fall die Bekanntheit von metafiktionalen Werken voraus. Die postmodernistische Kontextualisierung, die Doll erwähnt (vgl. S. 293), könnte infolgedessen noch stärker betont werden. »Sommar, sommar, sommar« zeichnet sich nämlich durch das Zitat und die spielerische Sabotage des Genres einer bestimmten historischen Unterhaltungssendung aus, »Sommar« aus dem Jahr 1959.

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