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Die Germanistik tut sich immer noch schwer, sich zwischen Interkulturalität und Transkulturalität zu entscheiden; der jüngst von Georg Mein herausgegebene Sammelband Interkulturalität zwischen Provokation und Usurpation (München: Fink 2009) legt beredtes Zeugnis dieser Debatte ab. Wird diese Diskussion zudem mit der Begriffsbildung einer »literarischen Hermeneutik« bedacht, so scheint das Fuder vollends überladen, zumal sich gerade in der deutschsprachigen Philosophie eine lange und kontroverse hermeneutische Tradition ausgehend von Kant über Schleiermacher bis zu Gadamer und Szondi ausgebildet hat.
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Es ist wohl kein Zufall, dass sich erst mit dem implizit transkulturellen Ansatz von Olga Iljassova-Morger eine Lichtung in die Verflechtungen von Kultur, Literatur und Hermeneutik schlagen lässt. Pikantes Detail: Obwohl die Verfasserin in ihrer Schlussfolgerung anfügt, man müsse nicht »drei verschiedene Wohnorte in unterschiedlichen Weltteilen haben, um ›transkultureller Leser‹ heißen zu dürfen« (S. 229), trifft eine solche Voraussetzung auf sie geradezu idealtypisch zu. Mit anderen Worten: Über weite Strecken führt diese Monographie exemplarisch vor, was thematisch reflektiert wird – Transkulturalität transkulturell gelesen und beschrieben. Kein holistisches Weltbild ist mehr Ziel einer solchen Debatte als vielmehr eine Verständigung auf Aspekte gemeinsamen transkulturellen Verstehens.
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Die »neue Provokation der Literaturwissenschaft«
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Ausgangspunkt der Dissertation bildet Gadamers Standardwerk Wahrheit und Methode, worin der Ort der Hermeneutik »zwischen Fremdheit und Vertrautheit« (S. 7) und so im interkulturellen Bereich angesiedelt wird. Verdienstvoll ist vor allem die Aufarbeitung der verschiedenen Spezialhermeneutiken mit deutlich ausgeprägtem Schwerpunkt in der Rezeptionsästhetik eines Hans Robert Jauss und der Methodenvielfalt der Interkulturellen Germanistik, welche sich anfangs wesentlich von Praxisfragen inspiriert sah, bevor sie sich dann einer Theoretisierung zu einem gewissen Grade unterzog. Doch – und da ist die Einschätzung der Autorin ganz richtig – fehlt bis heute ein Überblick über die vielfältigen Ansätze sowie eine Reflexion des gegenwärtigen Erkenntnis- und Entwicklungsstands. So ambitioniert diese Monographie diese Lücke füllen will, so systematisch werden die unterschiedlichen Positionen aufgearbeitet, um Interkulturalität im Verbund mit Ansätzen aus der Germanistik, aber auch aus der Anglistik und mit einer avancierten Rezeptionsästhetik als »neue Provokation der Literaturwissenschaft« (S. 18) zu postulieren.
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Dass Transkulturalität nicht einfach als neues Theorieparadigma, als neuer »turn«, sondern ganz im Sinne von Gadamer als Reflexion der Rahmenbedingungen, welche Praxiserfahrung wie auch Hermeneutik miteinschließen, zu begreifen ist, wird bereits in der Einleitung deutlich, welche die Interdependenz zwischen Beispielen und ihren Kategorisierungen, »die Doppelperspektive von Beobachter und Mitspieler« gegenwärtig hält.
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Heuristische Spannungsmomente
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Im zweiten Kapitel werden die zentralen Begriffe wie »Kultur«, »Interkulturalität« und »Hermeneutik« nicht einfach geklärt, sondern in ihrer Spezifik im Hinblick auf eine transkulturelle Fruchtbarmachung ausgelotet. Ohne den Kulturbegriff in seiner umfassenden historischen Entwicklung und Ausprägung nachzeichnen zu müssen, steuert die Autorin auf einen »intentional wertfreie[n] Begriff« zu, welcher »Kulturen im Plural in ihrer integrativen Totalität untersucht« (S. 24). In einer solchen Rekontextualisierung distanziert sie sich explizit von einem normativ-universalistischen Kulturbegriff, wie ihn Herder einführt, und zeigt mit den Schlagworten Globalisierung, Regionalisierung, intrakulturelle Heterogenität und Transkulturalität die kulturelle Pluralität auf. Entsprechend schlüssig kann sie einen zu vereinfachenden Ansatz von Interkulturalität, welche sich zwischen zwei Kulturen als Inseln positioniert, oder vom »Fremdkulturellen«, das Kultur nur immer in Abgrenzung zwischen dem Eigenen und Anderen versteht, von der Hand weisen.
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Natürlich könnte man an dieser Stelle vermeinen, die Autorin spreche in einem solchen Kontext einer kulturrelativistischen Position das Wort. Dem ist aber nicht so. Vielmehr zeigt sie auf, dass beide Formen in Extremform (Kulturuniversalismus als Vereinnahmung oder gar Kolonialisierung des Anderen und Kulturrelativismus als Unmöglichkeit der Überbrückung zwischen den unterschiedlichen Kulturen) nur in eine Sackgasse führen: »Im Großen und Ganzen erinnert die Debatte an ein Tennisspiel: Die gleichen Argumente werden modifiziert und ›mit einem negativen Zeichen‹ ins Spielfeld des Gegners zurückgeschlagen.« (S. 40)
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Für die Fruchtbarmachung einer Hermeneutik, welche sich das Andere zum Gegenstand macht, ist ein »mittlerer Weg« wegweisend, der »das Andersverstehen als Andersverstehen« versteht. (S. 34) Damit werden das Fremde und das Andere zu Relationsbegriffen im hermeneutischen Zirkel erklärt. Die Wechselbeziehung zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen – in ihrer Beziehung zwischen deduktiver und induktiver Methodik – wird selbst bei Gadamer relativiert, der seine eigenen Begriffsprägungen wie »Vorurteil« und »Traditionszusammenhang« immer wieder unter einem anderen Blickwinkel fremd werden lässt.
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Entsprechend kommt auf diese Weise der »Grenz- und Zwischenbereich des Verstehens« (S. 61) in den Blick; die interkulturelle literarische Hermeneutik wird im dritten Kapitel pluralisiert und als unabschließbarer Prozess festgelegt. Dabei wird der Werdegang der Interkulturellen Germanistik nochmals in den Blick genommen, ausgehend von einer »Philologie der Fremde«, welche sich fortan in den 80er Jahren vor allem »der kulturell bedingten Varianz literarischen Lesens« (S. 67) verschrieb und mit Paradigmen wie Fremde, Distanz, Alterität und Differenz operierte, ohne als kohärente Methode aufzutreten, als sich vielmehr in der Spannung zwischen Didaktik und Theorie weiterzuentwickeln. Das Fazit von Peter J. Brenner fällt nüchtern aus, wenn er feststellt, dass die interkulturelle Germanistik in den 80er Jahren lediglich ein »eklektizistisches Konglomerat von Gesinnungsbekenntnissen« darstellte (S. 74).
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Problemfelder Kulturkohärenz und idealtypischer Leser
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An der Scharnierstelle ihrer Monographie verhandelt Olga Iljassova-Morger exemplarisch fünf Positionen einer interkulturellen Hermeneutik im Bereich der Literaturrezeption. Es handelt sich dabei:
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1. um Alois Wierlachers Konzeption einer »Hermeneutik kultureller Alterität«, in welcher die kulturräumlichen Grenzen im Sinne ihrer Überschreitung bereits explizit transkulturell fruchtbar gemacht werden sollten, wobei der Kulturbegriff zu undifferenziert reflektiert wird und intrakulturelle Differenzen vorab sozial-stratifikatorischer Natur nicht berücksichtigt werden;
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2. um Dietrich Krusches »fremdkulturelle literarische Hermeneutik«, in welcher er die philosophische Hermeneutik mit verschiedenen Lesetheorien verbindet, um – wie er selber formuliert – »eine ›andere‹ Lektüre in ihrer Bedingtheit zu reflektieren« (S. 99);
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3. um Hans Hunfelds »Skeptische Hermeneutik«, in welcher er als Voraussetzung für das Fremdverstehen in Anlehnung an Adorno die Selbstentfremdung fordert, wobei er die Literatur als »gesteigerten Verfremdungsfall« betrachtet, aber dennoch an »monolithischen Bildern des Eigenen und des Fremden« festhält;
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4. um Eberhard Scheiffeles »Materiale literarische Hermeneutik«, in der er in Anlehnung an Szondi nicht mit einem universellen, sondern mit einem spezifisch literarischen Anspruch vorgeht und welche in Anlehnung an Simmels Exkurs über den Fremden mit der »Einheit von Nähe und Entferntheit« operiert, wobei sich das Eigene immer relativ zum Anderen zu verstehen hat – oder in Scheiffeles Fortbewegungsmetaphorik: »Der ›interkulturelle Übersetzer‹ blickt gleichsam von einer Rolltreppe, die ihn fortbewegt, auf eine unterschiedlich ausgerichtete, ebenfalls in ständiger Bewegung begriffene andere Rolltreppe« (S. 107);
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5. um Lothar Bredellas Hermeneutik in der »Spannung zwischen Innen- und Außenperspektive«, in welcher die Metapher selbst, welche »das Vertraute mit dem Fremden in Beziehung« setzt (S. 110), und die strukturelle Ähnlichkeiten zwischen Textverstehen und Verstehen einer fremden Kultur zum Ausgangspunkt genommen werden.
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Im Anschluss an diese fünf Autoren formuliert die Verfasserin die zwei Hauptproblemfelder der interkulturellen Positionen: Erstens werden Kulturen meist unbegründet als nationale Einheiten oder in der Dichotomie zwischen Eigenem und Fremdem gefasst; zweitens wird der idealtypische Leser eines spezifischen Umfelds ohne Problematisierung mit einer meist nationalstaatlichen Kultur in Verbindung gebracht. Mit Berufung auf empirische Untersuchungen unterstreicht die Autorin, dass einerseits erwartete kulturspezifische Lektüren kaum vorliegen und andererseits »die individuellen, sozialen oder geschlechtsspezifischen Differenzen viel markanter als kulturelle Lektüreunterschiede« ausfallen (S. 118). Dass damit eine interkulturell literarische Hermeneutik in Beweisnotstand gerät, versteht sich von selbst.
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Wer eignet sich wen an?
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Im vierten Kapitel werden trotz dieses vorläufig negativen Fazits Möglichkeiten einer interkulturellen Hermeneutik diskutiert. Dabei werden die beiden Kontrahenten der Diskussion – einerseits die traditionelle Hermeneutik, andererseits die interkulturelle Hermeneutik – gegeneinander ausgespielt. Das Hauptproblem wird vor allem in der Dominanz der ersteren über letztere gesehen, wenn beispielsweise anstatt synchroner kultureller Differenzen diachrone Entfernungen (im Traditionszusammenhang) übergewichtet werden oder der hermeneutische Zirkel als primär europäisches Denkprodukt gleichsam ontologisiert wird. Jedenfalls wird eine Inkompatibilität zwischen dem hermeneutischen Prozess der »Horizontverschmelzung« und einer interkulturellen Pluralität festgestellt.
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Über Bachtins Begriff des Dialogischen gelingt Iljassova-Morger eine Akzentuierung des von Gadamer so genannten »dritten Verstehenshorizonts« (S. 136), womit auf das hermeneutische und rezeptionsästhetische Horizontmodell nicht verzichtet werden muss. Exemplarisch zeigt sie auf, dass Verstehen nicht als simple Herrschaft über einen Wissensbestand, also als imperialistische »Her[r]meneutik« (wie sie prominent Said im Phänomen des Orientalismus aufzeigt), aufgefasst werden muss, sondern als »Erlebnis der gegenseitigen Erhellung von fremd und eigen« (S. 144). Gerade in der Auseinandersetzung mit dem literarischen Text, der in seiner Fiktionalität immer Fremdes birgt, wird in Anschluss an Ricœur die Subjektivität des Lesers selbst reflektiert; er distanziert sich von sich selbst oder: »[D]er Text eignet sich den Leser an« (S. 149).
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Wenn die Verfasserin im fünften und letzten Kapitel den letzten Schritt hin zu einer transkulturellen literarischen Hermeneutik wagt, so tut sie ihn in zwei Etappen: In einem ersten Teilschritt wird nochmals die kulturelle Differenz diskutiert, die sich in immer breiteren und nicht nur sozial privilegierten Bevölkerungsschichten nicht mehr an homogene Traditionen anbinden lässt, sondern durch die Kulturen hindurch – also transkulturell – verläuft. Gewährsmänner einer solchen Auffassung sind vor Wolfgang Welsch insbesondere Wittgenstein und Nietzsche.
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Dabei misst die Autorin sogar zum eigentlichen Fürsprecher ihrer These von Transkulturalität die Distanz aus, wenn sie an Welsch kritisiert, dass sein Modell der Übergänge zwischen den Kulturen immer noch von so genannten Kultur-»Reservoiren« ausgehen muss. Aus diesem Grund macht sie Elmar Holensteins Alternative zu einem kohärenten Kulturkonzept stark: So entspreche die intrakulturelle Variabilität einer bestimmten Einheit (zum Beispiel der Nation) der interkulturellen Variabilität der ganzen Menschheit. Die Heterogenität basiere auf verschiedenen Komponenten wie Globalisierung und entsprechender Glokalisierung, auf Hybridisierung, Transkulturalität und Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen.
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Fazit
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Den emphatischen Höhepunkt erreicht Iljassova-Morger am Schluss ihrer Monographie, wenn sie die literarischen Argumente für eine transkulturelle Hermeneutik ins Feld führt. Zwei Ebenen konstituieren die Fremdheit des literarischen Texts: erstens die intertextuelle Einbettung der Literatur in ihr eigenes Universum, zweitens die Schnittstelle zwischen Text und Rezipient im Leseprozess. »Literatur [...] ist eines der wenigen Verstehensobjekte, die nicht die Auflösung des Anderen im Eigenen, sondern des Eigenen im Fremden ermöglichen.« Darum ist die Hermeneutik erst auf literarischer Basis transkulturell universell zu denken.
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Natürlich könnte man gewisse Punkte noch einwenden, beispielsweise kritisieren, dass manchmal allzu genau paraphrasiert wird und sich gewisse Argumentationsstränge wiederholen (beispielsweise in Bezug auf den »Verstehenshorizont« Gadamers), oder zu bedenken geben, dass gerade die Unterscheidung zwischen kultureller und heuristischer Fremd- und Vertrautheit, wie sie Andrea Polaschegg vornimmt, sehr nützlich und fruchtbringend hätte eingesetzt werden können (Andrea Polaschegg: Der andere Orientalismus. 2004) und eine Historisierung gewisser Diskurse (beispielsweise von Herders Kulturbegriff) sicherlich noch weitere Anschlusspunkte für eine transkulturelle literarische Hermeneutik gebracht hätten. Doch angesichts des roten Fadens, der sich als zielgerichtete Argumentation durch das ganze Buch zieht, dürfen solche Anmerkungen nur als Marginalien erscheinen.
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