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Boiardos »Verliebter Roland«

Ein Ritterroman für Literaturbegeisterte neu erschlossen

  • Florian Mehltretter: Der verliebte Roland des Matteo Boiardo. Erzählt und kommentiert von Florian Mehltretter mit einer Auswahl der Übersetzung von Johann Diederich Gries nebst sieben Zeichnungen von Camillo Genelli. (Lyrik Kabinett 9) München: Stiftung Lyrik Kabinett 2009. 211 S. 7 Abb. Broschiert. EUR (D) 24,00.
    ISBN: 978-3-938776-17-9.
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Das Versepos – ein altes Genre neu entdeckt

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Der Band Der verliebte Roland des Matteo Maria Boiardo gibt eine Zusammenschau des dreibändigen, unvollendet gebliebenen Versepos Orlando innamorato von Matteo Maria Boiardo. Während die weitaus bekanntere Ariostsche Fortsetzung, der Orlando furioso, besonders in Fachkreisen häufig rezipiert wird, fristet der »verliebte Roland« sowohl dort als auch in nicht wissenschaftlichen Kreisen eher ein Randdasein. Florian Mehltretter kommt mit diesem Band der Verdienst zu, die Frische und die Farbigkeit von Boiardos Ritterepos sowie seinen literarischen und kulturellen Wert auf knapp 200 Seiten einem literaturbegeisterten Publikum nahe gebracht zu haben. Dabei sorgen die sorgfältig gewählten Auszüge aus der deutschen Übersetzung des Johann Diederich Gries’ aus den Jahren 1835 bis 1839 und die sieben Kupferstiche aus den Illustrationen Camillo Genellis zu Orlando innamorato – die beide darüber hinaus auf die Rezeption dieses Werkes im 19. Jahrhundert verweisen – für ein abwechslungsreiches Lesevergnügen.

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Zum Aufbau des Buches

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Bei Mehltretters Band handelt es sich um eine kommentierende Neuausgabe der in Auszügen präsentierten deutschen Übersetzung des Orlando innamorato von Johann Diederich Gries. Dabei wurde sehr viel Umsicht darauf verwendet, die Kommentare mit dem entsprechenden Textmaterial der Griesschen Übertragung anzureichern und zu illustrieren. Der Band beginnt im ersten Kapitel »Liebe, Krieg und Lektüre« mit den ersten Versen des Prooemium des italienischen Originals – der Rede des Erzählers an sein (fiktives) Publikum –, an die sich sowohl grundlegende Betrachtungen über die Tradition höfischer Dichtung in den romanischen Ländern der Frühen Neuzeit, als auch spezielle, für ein tieferes Verständnis unabdingbare Informationen zur literaturgeschichtlichen Situation des Orlando innamorato anschließen. Erste Erläuterungen zur metrischen Struktur des Werkes verweisen auf die breite mündliche Tradition der Versepen im Mittelalter, eine Rezeptionssituation, die für den heutigen Leser nur mehr schwer nachvollziehbar ist. Kompetent und sensibel geht Mehltretter dabei mit aktuellen Themen der Literaturwissenschaft, wie z.B. der Frage der nach den Inszenierungsstrategien des Erzählers im Epos um.

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Die vielschichtige Handlung des Orlando innamorato wird von Florian Mehltretter nach Handlungssträngen und nach thematischen und motivlichen Schwerpunkten geordnet. In der gebotenen Breite bespricht er in zehn von dreizehn Kapiteln das erste Buch des Orlando innamorato. Der zweite Band wird – wie der dritte – berechtigterweise in je einem Kapitel abgehandelt, da es sich, wie der Autor in der Vorbemerkung andeutet, hier wesentlich um Variationen der bereits am Beispiel des ersten Buches angesprochenen Themen und Motive handelt. Die Lektüre wird abgerundet durch ein ausführliches »Verzeichnis der wichtigsten in diesem Buch erwähnten Personen, Tiere, Orte und Gegenstände nebst einigen notwendigen Begriffserklärungen« sowie einem Verzeichnis der Texte und Abbildungen.

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Lesehorizonte

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Das Ziel des vorliegenden Bandes reicht über die reine Vermittlung von Handlung und Personal des Orlando innamorato weit hinaus. Der Leser findet sich in seiner Lektüre von einem Kundigen geführt und von diesem sowohl über die literarische als auch sprachliche Bedeutung von Boiardos Epos im Hinblick auf die abendländische Tradition der Ritterepik wohl unterrichtet. Den Orlando innamorato kommentierend und erklärend, sucht Florian Mehltretter sowohl Einblicke in die komplexe Handlungsstruktur der frühneuzeitlichen italienischen Verserzählung zu geben als auch einen Eindruck dessen zu vermitteln, was die sprachliche Verfasstheit und Originalität dieses Epos ausmacht. So illustriert er in dem Kapitel »Zungenküsse: Boiardo und Ariost, Gries und Regis« anhand der deutschen Übersetzung Gottlob Regis’ von 1840 nicht nur diverse, den moralischen Ansprüchen des 19. Jahrhunderts geschuldete Auslassungen der Griesschen Übersetzung, sondern er verweist auch auf die Finesse und den Witz, mithin auf den ästhetischen Wert der von Boiardo entworfenen erotischen Episode zwischen dem Ritter Brandimart und dem Fräulein Fleurdelys, die in der Fortsetzung, dem Orlando furioso, von Ariost aufgegriffen wurde.

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Darüber hinaus vermittelt der Autor – auch für nicht akademische Leser gut verständlich – grundlegende literaturwissenschaftliche Kenntnisse über die Entstehung der Gattung Versepos und die ihr eigenen formalen Aspekte, wie z.B. ihre Versform und das für sie charakteristische Metrum, den Elfsilber (it. endecasillabo). Florian Mehltretter gelingt es, den Leser mit sprachlicher Prägnanz und ohne Überstrapazierung der üblichen Fachterminologie in die komplexen literarischen Kontexte und die zahlreichen intertextuellen Bezüge dieses Werkes einzuführen, die sich von der antiken griechischen Mythologie bis hin zum französischen chanson de geste und dem Sagenkreis um König Artus, der matière de Bretagne, erstrecken. Wiederholt beleuchten Ausführungen zur historischen Situation des Orlando innamorato das zeitgenössische soziale Umfeld, in welchem der Text entstand und rezipiert wurde. Auf diese Weise erhält der Leser nicht nur Kenntnis über den literarischen Stellenwert des Epos, sondern auch über seine literaturgeschichtliche Bedeutung für die an den italienischen Fürstenhöfen des 15. und 16. Jahrhunderts durch die Italienkriege François’ I. von Frankreich bedrohte höfische Ordnung sowie die panegyrische Funktion dieser Dichtung im Hinblick auf das Mäzenatentum der Herzöge von Este in Ferrara.

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Der vorliegende Band stellt somit einen unterhaltsamen und kurzweiligen Zugang zu einem der wichtigen Werke der frühneuzeitlichen Ritterepik dar und ist zugleich der engagierte Versuch, die Kenntnisse der (romanischen) Literaturwissenschaft fruchtbar zu machen, um ein nahezu vergessenes Genre im Bewusstsein einer breiten Leserschaft neu zu beleben.