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»Was macht die Kunst?«

  • Nina Birkner: Vom Genius zum Medienästheten. Modelle des Künstlerdramas im 20. Jahrhundert. (Studien zur deutschen Literatur 192) Tübingen: Max Niemeyer 2009. 306 S. Kartoniert. EUR (D) 79,95.
    ISBN: 978-3-484-18192-2.
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»Was macht die Kunst?«, fragt Hettore Gonzaga, Prinz von Guastalla, in Lessings Emilia Galotti seinen Hofmaler Conti. »Die Kunst«, antwortet der, »geht nach Brot«. Das ist eine ehrliche, für manchen Kunstfreund aber zweifellos enttäuschende Antwort. Denn wenn Triebfeder von Kunst nur der schnöde Mammon ist, was unterscheidet sie dann noch von einer x-beliebigen anderen Ware? Den Prinzen in Lessings Stück beunruhigt Contis Antwort indes nicht im geringsten. Im Verhältnis zwischen beiden ist der Warencharakter der Kunst offensichtlich kein Problem. Für sie bestimmt sich künstlerischer Wert danach, ob Kunst handwerklich gut gearbeitet ist. Und entsprechend ist Contis Selbstverständnis das eines Handwerkers, der für eine gute Arbeit einen angemessen Lohn erwartet.

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Die verbreitete Vorstellung, dass ein Künstler doch etwas anderes, ja viel mehr sei als nur ein Handwerker, ist relativ jungen Datums. Ihre Herausbildung ist im wesentlichen Folge eines Funktionswandels der Kunst im 18. Jahrhundert, mit dem auch ein verändertes (Selbst-)Verständnis des Künstlers einherging. Er stellt nun nicht mehr nur eine spezifische Ware her (das tun Schuster, Bäcker und Metzger schließlich ebenfalls), sondern dieser Ware wird eine extraordinäre Bedeutung zugeschrieben, eine, die sich mit Geld gar nicht aufwiegen lässt.

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Unser Kulturleben basiert heute im wesentlichen auf der Annahme eines besonderen Status der kulturellen Produktion. Er allein rechtfertigt die staatliche Alimentierung der Kultur oder die Pläne zur Aufnahme eines Staatsziels Kultur in die deutsche Verfassung. Ist die Basis aber überhaupt noch vorhanden, die es gestattet, an einem solchen Kunstverständnis festzuhalten?

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In der Literatur gibt es ein Genre, an dem man den Wandel im Verständnis dessen, was Kunst sei, sehr gut ablesen kann: das Künstlerdrama. Seine Entstehung verdankt sich dem besagten Funktionswandel der Literatur im 18. Jahrhundert, denn vor der Aufklärung sind keine Theaterstücke geschrieben worden, in denen Künstler eine Rolle spielen. Das Genre ist zugleich Ausdruck und Medium der Neudefinition des Künstlers. An seiner Entwicklung bis heute kann man zeigen, dass inzwischen alle Voraussetzungen, denen es seine Entstehung verdankt, in Zweifel gezogen werden. 1 Es ist also durchaus angebracht, einmal wieder wie Lessings Prinz zu fragen: »Was macht die Kunst?«

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Nina Birkner hat eben dies in ihrer Dissertation Vom Genius zum Medienästheten. Modelle des Künstlerdramas im 20. Jahrhundert getan. Auf der Suche nach einer Antwort untersucht sie ein Korpus von 14 Theatertexten, darunter Gerhart Hauptmanns Michael Kramer, Hanns Johsts Der Einsame, Reinhard Johannes Sorges Der Bettler, Brechts Baal, Wolfgang Bauers Change, Albert Ostermaiers The Making Of. B.-Movie, Falk Richters Gott ist ein DJ und Thomas Bernhards Über allen Gipfeln ist Ruh. Das geschieht nicht in strenger Chronologie, sondern in der systematischen Entfaltung von fünf typologischen Modellen. Dabei handelt es sich a) um den verkannten, b) den verfemten, c) den gerissenen, d) den naiven und e) den kanonischen Künstler. Das wissenschaftliche Untersuchungsbesteck liefert Pierre Bourdieus literatursoziologische Abhandlung Die Regeln der Kunst, mit deren Hilfe es Birkner – des systematischen Zugriffs zum Trotz – gelingt, folgende diachrone Entwicklungstendenz herauszupräparieren:

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Während die Autoren von Künstlerdramen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts primär die Konflikte verkannter [und verfemter] Genies in Szene setzen, werden seit den siebziger Jahren zunehmend die Probleme naiver und gerissener Künstlerfiguren fokussiert. Grund dafür ist ein Paradigmenwechsel in der Kunsttheorie, der von der Geniekonzeption weg und hin zu einer institutionalistischen bzw. topologischen Kunstauffassung führt. Die Protagonisten der ersten Jahrhunderthälfte zeichnen sich durch eine privilegierte Weltwahrnehmung von ihrem sozialen Umfeld aus. […] Im Gegensatz dazu ist der Geniegedanke für die gerissenen schöpferischen Produzenten irrelevant. Sie wissen, dass es keine substantiellen Merkmale gibt, die einen Gegenstand als Kunst definieren […]. Da ihre Berufsidentität von der Anerkennung der professionellen Meinungsbilder abhängig ist, wird die Vorstellung vom autonomen Schöpfer genialischer Artefakte obsolet. Daher sind für die gerissenen Künstler auch nicht ihre Werke – ihr opus operatum –, sondern ihre Durchsetzungsstrategien – der modus operandi – von zentraler Bedeutung. (S. 204)
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Nicht nur die Verschränkung einer systematischen mit einer historischen Perspektive ist Birkner wunderbar gelungen, sie wartet darüber hinaus mit einer Folge von genauen Werkanalysen auf, in denen sie den Forschungsstand erst rekapituliert und dann hinter sich lässt. Das Ergebnis ist durchweg instruktiv, und nur ein einziges Mal fragt man sich, ob die Kritik einer anderen Forschungsmeinung wirklich eine so große Entschiedenheit erlaubt, wie sie Birkner sich gestattet hat. Sie meint nämlich die Ansicht zurückweisen zu müssen, dass Arnold Kramer in Gerhart Hauptmanns Michael Kramer Karikaturen zeichne. Dieser Gedanke ist jedoch durchaus nicht abwegig, denn Arnold hat eine Zeitlang in München gelebt, wo um die Jahrhundertwende mit dem Simplicissimus eine satirische Zeitschrift erschienen ist, die einen roten, von Th. Th. Heine gezeichneten Hund als Wappentier besaß. Da Arnolds Zeichnungen von der Restaurateurs-Tochter Liese mit den Worten charakterisiert werden »so’n kleiner Hund und so viele große […] … ganz schauderhaft«, gestattet der Text durchaus die Interpretation, dass Arnold nicht etwa wegen naturalistisch-sozialkritischer Motive Anstoß erregt (und damit eine Art Selbstportrait Hauptmanns als junger Mann darstellt), sondern weil er ein satirischer Karikaturist ist. Analog dazu ist schließlich auch die künstlerische Gegenposition zu der Arnolds, die sein Vater Michael Kramer vertritt, nicht mit der Hauptmanns nach der Jahrhundertwende völlig deckungsgleich. Es zeigt sich vielmehr insgesamt die Tendenz, autobiographische Bezüge zwar nicht völlig zu tilgen, aber doch zu verwischen.

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Ein anderer Einwand betrifft Birkners Analyse von Falk Richters Gott ist ein DJ. Sie spricht von der »Unfähigkeit« der Figuren ihrem Gegenüber klarzumachen, welchen Status ihre Rede habe: einen fiktiven oder nichtfiktiven (S. 194 f.). Richter geht es jedoch nicht um einen individuellen Defekt der Figuren, eine vorhandene oder eben nicht vorhandene »Fähigkeit«, sondern um die generelle, nicht vom subjektiven Vermögen abhängige Unmöglichkeit authentischen Sprechens. Diese Unmöglichkeit ist für Richter einer der entscheidenden Gründe, aus dem jeder Versuch scheitern muss, sich im kulturellen Feld autonom zu verhalten. Die strukturellen, systemischen Zwänge sind in seinen Augen unhintergehbar. 2

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Gemessen an dem, was Birkner geleistet hat, sind diese Einwände indes marginal. Schließlich beseitigt sie nichts weniger als ein Desiderat, das Uwe Japp mit seinem Buch Das deutsche Künstlerdrama. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart (Berlin, New York: de Gruyter 2004) noch hinterlassen hat. Auf die Frage »Was macht die Kunst (heute)?« gibt Japp nur eine höchst unbefriedigende Antwort; sein Befund, es zeigten sich im 20. im Unterschied zum 19. Jahrhundert »Komisierungstendenzen« (S. 264), ist sogar unhaltbar, wie Birkner mit einem kurzen, souveränen Schlenker ins 19. Jahrhundert überzeugend zeigt (S. 272). 3 Das besonders Schöne an ihrer Arbeit aber ist, dass sie nicht nur eine selbstgenügsame Sondierung in einem Randgebiet der Literaturgeschichte bietet, sondern ernüchternde Einsichten auch für den bereithält, der nur an der Kultur der Gegenwart und ihrer Hege und Pflege interessiert ist.

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Im Anschluss an diese Arbeit ließe sich diskutieren, ob Kunst im Sinne eines topologischen Kunstbegriffs, den Birkner heute einzig für angemessen zu halten scheint, tatsächlich nur eine Frage der äußerlichen und letztlich beliebigen Wertzuschreibung ist oder sich nicht doch intrinsische Qualitätsmerkmale angeben lassen. Dazu müsste man allerdings nicht mehr Künstlerdramen befragen, sondern das Geschäft der literarischen Wertung untersuchen, und das keineswegs nur in der Praxis, sondern vor allem in der Theorie. 4

 
 

Anmerkungen

Vgl. Gunther Nickel: Das Künstlerdrama in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur: Wolfgang Bauers Change, Albert Ostermaiers The Making Of. B-Movie, Rainald Goetz’ Jeff Koons und Falk Richters Gott ist ein DJ. In: Frank Göbler (Hg.): Das Künstlerdrama als Spiegel ästhetischer und gesellschaftlicher Tendenzen. Tübingen: Francke 2009, S. 283–301. Auch Online veröffentlicht unter http://www.satt.org/literatur/08_08_drama.html (letzter Zugriff: 30.06.2010).   zurück
Vgl. Anja Dürrschmidt (Hg.): Falk Richter. Das System. Materialien, Gespräche, Textfassungen zu »Unter Eis«. (Recherchen 22) Berlin: Theater der Zeit 2004.   zurück
Vgl. auch ihre Rezension: »Wo steht der Künstler momentan? Irgendwo wohl, oder, klar.« Zu Uwe Japps Überblick über »Das deutsche Künstlerdrama. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart«. URL: http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=7766 (letzter Zugriff: 30.06.2010).   zurück
Dazu grundlegend: Renate von Heydebrand / Simone Winko: Einführung in die Wertung von Literatur. Systematik – Geschichte – Legitimation. Paderborn u.a.: Schöningh 1996.   zurück