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Der Pirat als Menschenfeind

  • Daniel Heller-Roazen: The Enemy of All. Piracy and the Law of Nations. New York: Zone Books 2009. 274 S. Kartoniert. USD 28,95.
    ISBN: 978-1-890951-94-8.
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Mit Daniel Heller-Roazens Studie The Enemy of All: Piracy and the Law of Nations liegt eine Monografie vor, die sich mit der Figur des Piraten aus interdisziplinärer – völkerrechtlich-philosophischer und klassisch humanistisch-geisteswissenschaftlicher – Perspektive auseinander setzt. Heller-Roazen, Arthur W. Marks-Professor für vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Princeton, nimmt darin die auf den ersten Blick überraschende Wiederkehr der Piraterie im 20. Jahrhundert (nachdem diese zum Ende des 19. Jahrhunderts bereits tot gesagt worden war) zum Anlass, der Definitionsgeschichte des Piraten nachzuspüren. Die Leitfrage der Studie, die Heller-Roazen seiner Abhandlung epigrafisch voranstellt, stammt aus dem dritten Buch der Homerischen Odyssee:

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Fremdlinge, sagt, wer seid ihr? Von wannen trägt euch die Woge?
Habt ihr wo ein Gewerb oder schweift ihr ohne Bestimmung
Hin und her auf der See […]?(o. S.).
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Nicht das bestimmungslose Umherschweifen, die vermeintlich spezifische Mobilität des Piraten, interessiert Heller-Roazen im Folgenden. In den sechzehn Kapiteln wird schnell klar, dass es sich beim Piraten weniger um eine ontologisch bestimmbare Seinsform als vielmehr um ein diskursives Label handelt, das eine Figur des Außerhalb konstituiert – und zwar eines radikalen Außerhalbs, das den Piraten seit der klassischen Antike zum vogelfreien ›Feind aller‹ macht. Das Fehlen von Legitimation und Anerkennung durch etablierte Institutionen ist die Krux, die eine solche Konstruktion kennzeichnet. So stellt Heller-Roazen heraus, dass der Pirat im internationalen Völkerrecht im Gegensatz zum gleichwertigen Opponenten, etwa dem Kriegsgegner, keinen Rechtsnormen unterliegt, die ihn gegen Unrechtshandlungen und Willkür schützen.

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Den Piraten bestimmen

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Im Vorwort erklärt Daniel Heller-Roazen, dass er weder ein historisches Werk geschrieben habe noch eine literaturwissenschaftliche oder völkerrechtliche Abhandlung. Sein Interesse sei jenes eines rechtsphilosophisch motivierten Genealogen, der weniger den Piraten selbst als deren Bestimmung durch die Geschichte nachspürt. Die zentrale These benennt der Autor deutlich auf S. 11: »Sie besagt, dass in der Tradition, die in der klassischen Antike wurzelt und auf verschiedenen Wegen zum internationalen Recht und zur internationalen Politik des modernen Europa und seiner ehemaligen Kolonien geführt hat, die politische und rechtliche Frage der Piraterie von einem Bündel weniger charakteristischer Züge bestimmt wird«, und zwar folgenden vier Merkmalen:

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1. der Raum piratischer Operationen war bzw. ist von rechtlichen Ausnahmeregelungen bestimmt (weswegen der Begriff der Piraterie auf die hohe See und den Luftraum häufiger angewandt wird als auf Land);

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2. ein Akteur, der in solchen Räumen durch sein Handeln »eine Kluft aufreißt, die nicht als die zwischen zwei Individuen oder zwischen zwei politischen Verbänden definiert werden kann« (S. 11); die Gegnerschaft ist stattdessen nicht eingrenzbar und wird damit allgemein, universell, wie in Ciceros berühmter Formulierung vom hostis communis omnium, die Heller-Roazen zum Titel seines Buchs dient;

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3. folgt aus den ersten beiden Merkmalen, dass Piraterie zum »Verschwimmen und […] Verschwinden der kategorialen Unterscheidung zwischen Strafrecht und Politik« (S. 12) führt: weder sind sie herkömmliche Kriminelle unter der Jurisdiktion eines bestimmten Staates, noch politische Feinde, mit denen man Frieden schließen könne (da sie keinen Verband bilden und ihre Organisation von Autorität und Repräsentation eine wesentlich andere ist als die traditioneller westlicher Gesellschaften); und schließlich führt

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4. Piraterie zu einem Wandel des Kriegsbegriffs, der nun eine Mischform aus außen- und innenpolitischer Aktion, militärisch-politischen und polizeilichen Techniken einschließt.

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Die Leserin wird in den Folgekapiteln auf eine interessante, elegant geschilderte Spurensuche mitgenommen, die im antiken Griechenland und mit dem Fall der Achille Lauro 1985 endet. Diese auch im englischen Original gut lesbare, unverstellte Reise durch die Rechtsphilosophie und die Politik der Antike, der frühen Neuzeit und der Moderne greift dabei so spannende Themen auf wie die Beziehungen zwischen Sklavenhandel und Piraterie oder die Debatten um den Rechtsstatus des Meeres und dessen Relevanz für die Fassung des Piratischen. Die Piraten erscheinen alsgleich am Ende des 6. Kapitels als Grenzfiguren, als »Agenten der Schwelle, die die schwankende Grenze überquerten, auf der die Gegenstände aus dem individuellen Besitzverhältnis in den Besitz entweder niemandes oder aller übergehen« (S. 86). (Eine ökonomiekritische Diskussion wird hier zwar nicht geführt, doch regt Heller-Roazens Werk eine solche an dieser und anderer Stelle durchaus an.)

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Desiderata

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Warum der Verfasser die Situation in Somalia oder die Proliferation der Bezeichnung ›Piraterie‹ für (nunmehr meist digitale) Urheberrechtsverletzungen nicht erwähnt, ist nicht unbedingt nachvollziehbar. Hier scheint es fast, als ob ein Kapitel fehlte, das den Piraten auch tatsächlich in die Jetztzeit überführt – ist er doch seit einer halben Dekade wieder von großer Brisanz und wirft (erneut) wichtige Fragen nach Legitimierungs- und Definitionsmacht sowie den Universalitätsansprüchen eines westlich geprägten Völkerrechts im Kontext postkolonialer, ja subalterner Verhältnisse auf. Heller-Roazen überlässt die Leserin stattdessen einem abrupt endenden Schlusskapitel, dessen Titel »Toward Perpetual War« (dt. »Zum ewigen Krieg«) Carl Schmitt evoziert (dessen unheimliche Renaissance gerade in der US-amerikanischen Forschung leider unkommentiert bleibt). Gezielt wird hier ein Kontrapunkt zur Idee einer globalen Ordnung im Kantschen Sinne gesetzt, die jener 1795 in Zum ewigen Frieden entwirft.

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Das Verdienst des Buches ist es, eine Zusammenschau und Reflexion der verschiedenen Rechtsdefinitionen seit der Antike darzulegen, argumentiert und angereichert mit Beispielen aus der klassischen und frühmodernen europäischen Literatur von Seneca bis Boccaccio (vgl. Kapitel 7). Ohne den zumindest theoretischen Schutz durch die historische Errungenschaft der Menschenrechte wurde der Pirat in der Antike als rechtlos definiert, weil er staatenlos und deterritorialisiert im damals rechtsfreien maritimen Raum operierte. Einer solchen Art Feind kam man mit einer offiziellen Kriegserklärung nicht bei; eine Herausforderung für Politik und Jurisprudenz, die in ähnlichen Formen immer wieder auftauchen sollte, wenn es um Piraterie ging. Der Pirat, so zeigt Heller-Roazen, fiel zu jeder Zeit seiner Virulenz aus all jenen Kategorien, die im jeweiligen historischen Kontext den Status des politischen Subjekts als Gegenüber ausmachten. Interessant wäre an diesem Punkt, die Figur des Piraten in Verhältnis zu Giorgio Agambens Studie zum nackten Leben, dem ›Homo sacer‹ zu setzen, zumal Heller-Roazen selbst Agambens Buch ins Englische übersetzt hat. 1 Dies hätte eine spannende Zusammenschau ergeben können, die hier Desiderat bleiben muss. Doch die Perspektive des Verfassers ist weniger eine, die Macht und Legitimation durch hegemoniale Diskurse in dieser Entwicklungsgeschichte hinterfragt oder etwa gar experimentell die theoretische Position des piratischen Außerhalbs einnimmt. Es ist schade, dass Heller-Roazens Anliegen nicht die Theoretisierung dieses Außerhalbs ist, die in einem Dialog mit Agambens Homo Sacer oder auch Michel Serres’ Parasiten 2 wohl weitere philosophische und kulturtheoretische Reflexionen zur Funktion einer solchen Figuration anstoßen hätte können.

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Reaktionen

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Vor kurzem ist Heller-Roazens Buch bereits in deutscher Übersetzung von Horst Brühmann bei S. Fischer erschienen. Die Rasanz der Übersetzung sowie die Frequenz der Reaktionen aus dem Feuilleton in Deutschland beweist, wie aktuell die rechtliche und kulturelle Auseinandersetzung mit dem Phänomen Piraterie auch im 21. Jahrhundert ist. In anachronistisch stilisierter Manier etwa preist Heller-Roazens Kollege Hans Ulrich Gumbrecht die »Gelehrsamkeit« des Autors und platziert diese in eine kontingente Reihe von »Heroen der Geisteswissenschaft« – Willamowitz-Moellendorf, Curtius, Marc Bloch und Michel Foucault, mit denen es der Autor wohl »aufnehmen« kann, die er manchmal sogar »leichtfüßig [...] überbietet.« 3 In der TAZ wie auch der Süddeutschen Zeitung wird Heller-Roazen einer weniger wettbewerbsorientierten Rhetorik ausgesetzt, die nicht ganz so martialisch-paternalistisch daherkommt wie die Gumbrechtsche. Andreas Zielckes Essay »Hinter der Schatzinsel liegt Guantanamo« 4 etwa nimmt die aktuellen Hamburger Seeräuberprozesse zum Anlass, um uns von der Aktualität und Notwendigkeit der rezensierten Studie zu überzeugen. Dass das Strafrecht inzwischen das Piratentum jenseits aller Mystifizierung bewältigt wie andere Verbrechen auch, erscheint erst nach der Lektüre von Heller-Roazens Buch als eine Errungenschaft des Rechtsstaates, deren komplizierte Geburt Jahrtausende gedauert hat, so Zielckes Implikation. Obwohl: in der London Review of Books wird Heller-Roazens Studie wegen gerade dieser Schlussfolgerung heftig kritisiert; Stephen Sedley argumentiert darin, dass dem Piraten in der Geschichte immerhin ein Gerichtsverfahren zustand – im Gegensatz zum Guantanamó-Häftling, in dessen Linie Heller-Roazen ihn ja mit dem Begriff des ›unlawful combatants‹ par excellance stellt. 5

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Sedley mag damit Recht haben; das Buch ist in jedem Fall einer Mischung aus literaturgeschichtlichen Betrachtungen und Rechtsphilosophie näher als einer objektiven Rechtsgeschichte – oder auch der kulturwissenschaftlichen Theoriebildung. Durch diese Perspektivierung entsteht jedoch auch eine globale Schieflage, durch die sich für die Leserin ein leiser Verdacht des Eurozentrismus einschleicht. Inwiefern etwa waren die kolonialen Projekte der europäischen Reiche selbst piratische (siehe die von Heller-Roazen genannten Definitionsmerkmale)? Wie kann Selbst- und Fremdrepräsentation somalischer Piraten der Gegenwart kritisch reflektiert werden? Daniel Heller-Roazen streift diese wichtigen Fragen zwar indirekt; es bleibt aber wohl noch zu schreibenden Büchern mit anderer Schwerpunktsetzung überlassen, darauf Antworten zu finden und den Pirat als ›Menschenfeind‹ an jenes globale Machtgefüge der Ungleichheit zurück zu binden, das ihn als solchen erklärt.

 
 

Anmerkungen

Giorgio Agamben: Homo Sacer: Sovereign Power and Bare Life. Aus dem Italienischen von Daniel Heller-Roazen. Stanford: Stanford UP 1998.   zurück
Vgl. dazu Michel Serres: Der Parasit. Aus dem Französischen von Michael Bischoff. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1987.   zurück
So zitiert auf der Rückseite des Covers der deutschen Übersetzung.   zurück
Erschienen im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung vom 03.05.2010, S. 12.   zurück
Stephen Sedley: »Enemies of All Mankind.« The London Review of Books vom 24. Juni 2010, S. 33–34.    zurück