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»Ad oculos et aures«

Massenmediale Bezüge der
Dritten Walpurgisnacht von Karl Kraus

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Abstract: Die Dritte Walpurgisnacht stellt den Versuch von Karl Kraus dar, die Ereignisse der nationalsozialistischen Machtergreifung zeitgenössisch zu verarbeiten. Man liest den Text heute mit offenem Mund, staunend über die massenmedialen Bezüge, die dem Wiener Publizisten schon 1933 erlaubten, sich ein treffendes Bild vom verbrecherischen Charakter des NS-Regimes zu machen. Der vorliegende Beitrag geht einigen jener Dokumente nach, die in den Medienarchiven erhalten sind: Es werden Zeitungsartikel über den Tod eines sozialistischen Politikers, Aufnahmen von Propagandareden und einer KZ-Reportage sowie Szenen der Filme N. S. Ton-Bild-Bericht Nr. 2 und Morgenrot ad oculos et aures, das heißt vor Augen und Ohren geführt. Eingebettet ist der Nachweis ausgewählter Presse-, Radio- und Film-Quellen der Dritten Walpurgisnacht in eine Analyse des Medienbegriffs und der Medienkritik, die Karl Kraus in der posthum veröffentlichen Schrift formuliert.
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Was sich am 30. Januar 1933 in Berlin abspielte, hatte nichts mit einer Revolution zu tun. Das Kanzleramt wurde von Hitler weder erkämpft noch ergriffen, sondern wie ein Paket in Empfang genommen, das eine »Clique von adligen Reaktionären« 1 geschnürt hatte und vom Staatsoberhaupt zugestellt wurde. Das ist keine neue Einsicht, sondern ein Sachverhalt, auf den Historiker und Journalisten ebenso häufig hinweisen wie auf den folgenden Prozess, der bis Mitte 1934 dauerte und mit Recht Machtergreifung genannt wird. 2 Weniger bekannt ist die Tatsache, dass es ein Buch, das heißt ein Fragment über diese politischen Ereignisse gibt, das während ihres Ablaufs entstanden ist und zwei Leitfragen der NS-Forschung medienkritisch zu beantworten versucht: Wie konnte das geschehen? Und was konnte man wissen?

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Der Wiener Publizist Karl Kraus fing gleich nach der Ernennung Hitlers zum deutschen Reichskanzler an, Dokumente über die Vorgänge im Nachbarland zu sammeln, entschied sich jedoch, dem Datum der letzten Quellen zufolge Ende September 1933, die Korrektur des im Lauf eines halben Jahres verfassten, bereits gesetzten Texts mit dem Titel Dritte Walpurgisnacht abzubrechen. Die nächste Ausgabe der Fackel, die im Oktober herauskam, bestand stattdessen aus einem Nachruf auf den befreundeten Architekten Adolf Loos, der im Sommer verstorben war, und einem Gedicht, dessen letzter Vers lautet: »Das Wort entschlief, als jene Welt erwachte.« 3 Im Juli 1934 veröffentlichte Kraus zwar einige Passagen in einem mit »Warum die Fackel nicht erscheint« überschriebenen Heft seiner Zeitschrift; verlegt wurde das formal abgeschlossene, nicht vollendete Werk aber erst 1952 von Heinrich Fischer. Seit 1989 liegt die Dritte Walpurgisnacht als zwölfter Band der Kraus’schen Schriften vor, die Christian Wagenknecht im Suhrkamp-Verlag herausgegeben hat. 4

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An eine Kriminalgeschichte gemahnt nicht nur der Weg der Druckfahnen, die von Wien über die Schweiz und New York nach Jerusalem gelangten, wo sie sich heute im Besitz der Hebräischen Universität befinden, sondern auch der eigenartige Verlauf der Rezeption. Denn von den knapp 300 Seiten des Originaltextes, der aus einer Vielzahl dokumentarischer und literarischer Zitate geflochten ist, nahm die Öffentlichkeit, unterstützt von ignoranten Kritikern, lediglich den Anfangssatz wahr: »Mir fällt zu Hitler nichts ein.« (DW 12) 5 Dass man, um den Einstieg verstehen zu können, den Schluss mitdenken muss, der »die guten Geister einer Menschenwelt« anruft (DW 327), leuchtet jenen Lesern ein, die zwischen den Zeilen der Dritten Walpurgisnacht den anthropologischen Dialog entdecken, in dem Thanatos das erste und Eros das letzte Wort hat. Obwohl dieser Diskurs über die Doppelnatur des Menschen, der sich wie ein roter Faden durch die Textstellen aus Goethes Faust und Shakespeares Macbeth zieht, der Analyse wert ist, soll es im Folgenden um eine Auswahl 6 der anderen, zeitgenössischen Quellen der neben Die letzten Tage der Menschheit wichtigsten Schrift von Karl Kraus gehen.

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Sinneswerkzeuge und mediales Vermögen

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Wer die Dritte Walpurgisnacht aufmerksam liest, wundert sich über das landläufige Bild ihres Autors als Pressekritiker, dessen Tunnelblick allein den Hauptfeind wahrgenommen habe, zumal das Panorama der nationalsozialistischen Machtergreifung, das der Text ausbreitet, auf allen Massenmedien 7 gründet, die 1933 zu sehen und zu hören waren. Immer wieder hebt Kraus hervor, dass seine Augen und Ohren mit Material über die Ereignisse in Deutschland überschüttet würden, dass man ihm »ad oculos et aures« demonstriere (DW 199), was der Welt missfallen müsse:

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Man sollte aber glauben, daß auch einer deutschen Mehrheit, die aus Geschöpfen Gottes besteht, diese Lautsprecher von Natur, denen sie sich ausgeliefert hat, Mißbehagen verursachen; man sollte hoffen, daß ihr die Erweiterung der akustischen Möglichkeiten des Rundfunks und der optischen einer illustrierten Presse das Bewußtsein der Absurdität beibringt, die ihrem kulturellen Dasein nunmehr aufgezwungen ist. Fällt es den Deutschen nicht auf – denn den andern fällt es auf –, daß keine Nation nicht nur so häufig sich darauf beruft, daß sie eine sei, sondern daß im Sprachgebrauch der ganzen Welt durch ein Jahr nicht so oft das Wort »Blut« vorkommt wie an einem Tag dieser deutschen Sender und Journale? (DW 199 f.)
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Da er das Geschehen »von Wien aus« verfolgt (DW 19), ist Kraus auf fremde Darstellungen angewiesen, die keineswegs von persönlichen Informanten stammen, sondern von Zeitungen, Radiostationen und Kinos verbreitet werden. Wenn er von den »spezifischen Sinneswerkzeugen« und dem »mediale[n] Vermögen« der Nationalsozialisten spricht (DW 183 f.), dann zeigt sich, wie viele Jahre er der wissenschaftlichen Diskussion voraus war, die erst im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts begann, Medien als Ausweitung der menschlichen Sinnesorgane zu betrachten, nachdem Marshall McLuhan das Buch Understanding Media publiziert hatte, das den Untertitel The Extensions of Man trägt. 8

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Freilich ist in der Dritten Walpurgisnacht mit diesem Medienbegriff die Klage verknüpft, dass die optischen und akustischen Erweiterungen unfähig seien, die reine Wahrnehmung wiederzugeben. Ein Medium, das sollte im Kraus’schen Verständnis ein passiver Übermittler sinnlicher Daten sein, vergleichbar der esoterischen Vorstellung, es gäbe Menschen, die ihren Körper Toten als Artikulationskanal überlassen könnten. Es handelt sich um das Idealbild eines Boten, der »das Unheil nur meldet, das vor jeglichem Versuch, es zu deuten, bloß den Gedanken an Rettung gewährt« (DW 324). Die Tatsache, dass Massenmedien mit der Information zumeist auch deren Interpretation liefern, machte sich Joseph Goebbels, »der gründliche Kenner journalistischer Mundart« (DW 128), zunutze: Nach Kraus verstand es der nationalsozialistische Propagandaminister meisterhaft, »Sachverhalte aufzuklären, bis das Gegenteil einleuchtet, Tatbestände im Wortschleim zu ersticken« (DW 101), also Fakten hinter einem Wall von Meinungen verschwinden zu lassen. Der Vorwurf, die Nazis seien »Systematiker der Lüge« (DW 108), ist daher weniger moralisch gemeint denn als Kritik an der gezielten Manipulation des Erkenntnisprozesses der Zeitungsleser, Radiohörer und Kinobesucher.

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Der Fall Ernst Eckstein

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Als Beispiel für die ›Öffentlichkeitsarbeit‹ des frühen NS-Regimes kann der Fall Ernst Eckstein 9 dienen, der in der Dritten Walpurgisnacht aus einer Meldung der Neuen Freien Presse, dem wichtigsten bürgerlichen Blatt Wiens, und zwei Artikeln des Zentralorgans der österreichischen Sozialdemokratie, der Arbeiter-Zeitung, montiert ist. In dieser Passage, die am Beginn einer ausführlichen Analyse der KZ-Berichterstattung steht, bricht Kraus die offizielle Version der Todesumstände des Breslauer Anwaltes, der dem Vorstand der Sozialistischen Arbeiterpartei angehört hatte, in zweifacher Hinsicht auf – zum einen inhaltlich, indem er die Beobachtungen eines Mitgefangenen anführt, und zum anderen durch Sperrungen und Einschübe, die den amtlichen Täuschungsversuch in eine ironische Erzählung verwandeln, wobei der Unterschied lediglich in der Haltung des Autors liegt. Die Schilderung, »wie ein Fall, hingestellt als eine der grausigsten Bluttaten nach einem Verzweiflungsausbruch des Ermordeten, sich in Wahrheit abgespielt hat« (DW 204), soll vor Augen führen, dass Ironie nichts weiter als ersichtlich gemachte Lüge ist und die Verkehrung dessen, was in den Kommuniqués behauptet wurde, das wirkliche Geschehen erahnen ließ:

Dr. Ernst Eckstein, der als einer der ersten politischen Funktionäre in Schutzhaft genommen wurde

[12] 
– also geradezu ein Akt der Protektion –

konnte sich nur schwer mit den Bedingungen der Haft abfinden … [1]

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Man hatte ausgesprengt, diese Bedingungen wären Zwangsarbeit unter Kolbenstößen, Peitschenhieben ins Gesicht [2], Einnahme von Ricinus, Teilnahme an Sprechchören, und was dergleichen Mißverständnisse mehr sind. Gab es doch auch gelegentliche Rundfahrten durch die Stadt in einem niedrigen Rollwagen, angeblich unter dem Gejohle nationaler Kämpfer, während andere Zuschauer erschüttert weinten. [3]

Noch vor 14 Tagen war er bei Arbeiten für das Breslauer Konzentrationslager beschäftigt. [4]

[14] 
Keineswegs »im«; eine Art Bürotätigkeit. Freilich nicht ohne körperliche Ertüchtigung, die der tatkräftige Heines [5], der selbst einst ein Beispiel gegeben hat, für seine Schutzbefohlenen vorsieht. Einer von diesen behauptet:

Er mußte schwere Steine karren und wurde, wenn wir anderen Ruhe hatten, zum Reinigen der Latrine kommandiert. Während er in deren Inhalt herumwühlen mußte, wurde er Besuchern des Lagers gezeigt. [6]

[15] 
Doch, wie das schon so kommt, trotz solcher Ablenkung überließ er sich kopfhängerischer Schwermut, zu der er offenbar neigte. In einem Anfall, nämlich

von seelischer Depression verübte er in seiner Zelle einen Selbstmordversuch. Zuletzt verweigerte er die Aufnahme von Nahrung, so daß sie

[16] 
– man wollte ihn dem Leben und der Arbeit erhalten –

ihm künstlich zugeführt werden mußte. [7]

[17] 
Man tat das Erdenklichste. Ärzte wurden herbeigeholt. Sie führen sein Ableben

in erster Linie auf die freiwillige Selbstaufgabe zurück. [8]

[18] 
die er leider wichtigeren Aufgaben, die seiner harrten, vorzog. Man hatte ihn, kombinierte die Greuelphantasie, von Breslau nach Oels gebracht (Sitz des Kronprinzen), wo ihm »in stundenlangem Prügeln Lungen und Nieren zerschlagen wurden« [9]; er wimmerte die ganze Nacht; es hieß

anscheinend sei er im Kopf nicht mehr ganz in Ordnung. . . . Man brachte ihn seiner unglücklichen Mutter . . Sie ließ ihn in die Irrenanstalt an der Einbaumstraße überführen; dort ist er dann bald gestorben. [10] (DW 204 f.)

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Bild 1: Der ›Fall Eckstein‹ in den Druckfahnen der Dritten Walpurgisnacht mit handschriftlichen Korrekturen von Karl Kraus; Quelle: Deutsches Literaturarchiv Marbach, D:K. Kraus/Jahoda x, D 87.2.4, S. 178 f.

[21] 

Das Kraus’sche Verfahren ist einerseits postmedial, weil es sich auf den Vorfall bezieht, wie ihn die Zeitungen darstellten, und andererseits medienpädagogisch, da die Leser angeleitet werden, die Schwächen der Berichterstattung auszugleichen. Schon die Lektüre der kurzen Nachricht im Morgenblatt der Neuen Freien Presse vom 9. Mai 1933, die sich auf eine »Polizeipressestelle« berief, konnte Kraus zufolge offenbaren, was sich ereignet hatte:

[22] 
Dr. Eckstein, der als einer der ersten politischen Funktionäre in Breslau in Schutzhaft genommen worden war, konnte sich nur schwer mit den Bedingungen der Haft abfinden. [1] Er erlitt vor einiger Zeit einen seelischen Zusammenbruch. Noch vor vierzehn Tagen war er bei Arbeiten für das Breslauer Konzentrationslager beschäftigt. [4] In einem Anfall von seelischer Depression verübte er in seiner Zelle einen Selbstmordversuch, der jedoch rechtzeitig entdeckt worden ist. In den drei letzten Tagen hatte er die Aufnahme von Nahrung verweigert, so daß sie ihm künstlich zugeführt werden mußte. [7] Die Aerzte führen den Tod Ecksteins in erster Linie auf diese freiwillige Selbstaufgabe zurück. [8] 10
[23] 

[24] 

Bild 2: Artikel über den Tod Ernst Ecksteins in der Neuen Freien Presse (Wien) vom 9.5.1933 (S. 3 f.); Quelle: Österreichische Nationalbibliothek (Wien).

[25] 

Dieser Aspekt ist wichtig, weil die starren Fronten, die das politische Leben in der Ersten Österreichischen Republik prägten, vermuten lassen, dass die Folterberichte der sozialdemokratischen Organe von den Abonnenten der bürgerlichen Blätter, die das Thema großteils verschwiegen, ignoriert oder als demagogisch abgetan wurden. Daher rührt die Kritik, die Kraus in der Dritten Walpurgisnacht an der Rhetorik des Klassenkampfes übt – sie minderte die Glaubwürdigkeit der vielen Meldungen, die authentisch von den Misshandlungen in den Konzentrationslagern berichteten. So hieß es elf Tage nach Ecksteins Tod in der Arbeiter-Zeitung, dass über Stirn und Backen der Leiche Striemen gelaufen seien: »Er ist also offensichtlich mit der Peitsche ins Gesicht geschlagen worden.« [2] 11 Unter der Aufsicht des Breslauer Polizeipräsidenten und SA-Führers Edmund »Heines (der berüchtigte Fememörder)« [5] 12 habe man den Häftling öffentlich gedemütigt. »Auf einem niedrigen Rollwagen, der mit Telegraphenstangen beladen war, mußte Dr. Eckstein zusammen mit drei sozialdemokratischen Führern kreuz und quer durch die Stadt fahren, unter dem Gejohle der Nazihorden, während die Arbeiter, die ihn sahen, tief erschüttert waren und ergriffen weinten. « 13 [3] Drei Monate später, im August 1933, brachte das Blatt den Zeugenbericht eines Mitgefangenen von Ernst Eckstein:

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Er mußte schwere Steine karren und wurde, wenn wir anderen Ruhe hatten, zum Reinigen der Latrine kommandiert. Während er in deren Inhalt herumwühlen musste, wurde er Besuchern des Lagers gezeigt. [6] Eines Nachts vernahm ich ein fürchterliches Geschrei, man flüsterte mir später zu, Eckstein sei geschlagen worden und im Hemd durchs Lager geflüchtet. Vielleicht war das der Anlaß, daß man ihn von Breslau fortnahm, um kein Aufsehen zu erregen. Man brachte ihn nach Oels, wo in der Nähe des kronprinzlichen Schlosses geradezu ein Folterlager besteht. Ein Lagerkamerad, der dort mit ihm zusammen war, erzählte mir später davon. Man hat Eckstein stundenlang geprügelt und ihm dabei die Lungen und Nieren zerschlagen. [9] Der Kamerad sagte mir gleich, Eckstein, der die ganze Nacht gewimmert habe, sei ihm am Schluß ganz sonderbar vorgekommen. Anscheinend sei er im Kopf nicht mehr ganz in Ordnung. Etwa fünf Tage später wurde Eckstein plötzlich »entlassen«. Man brachte ihn seiner unglücklichen Mutter, die sofort erkannte, daß jede Hoffnung vergeblich war. Sie ließ ihn in die Irrenanstalt an der Einbaumstraße überführen, dort ist er dann bald gestorben. [10] 14
[27] 

[28] 

Bild 3: Artikel über den Tod Ernst Ecksteins in der Arbeiter-Zeitung (Wien) vom 19.5.1933 (S. 2). Quelle: Österreichische Nationalbibliothek (Wien).

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Bild 4: Artikel über den Tod Ernst Ecksteins in der Arbeiter-Zeitung (Wien) vom 12.8.1933 (S. 3 f.); Quelle: Österreichische Nationalbibliothek (Wien).

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KZ-Reportage statt Offenbach-Zyklus

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Vom Umgang der Nationalsozialisten mit ihren politischen Gegnern handelte auch, was in der Dritten Walpurgisnacht als Versuch der »Wahrheitsfindung durch das Radio« angekündigt wird, nämlich eine »zwanglos[e] Unterhaltung mit Schutzhäftlingen«, die man »am 8. April via Stuttgart« gesendet habe, »zwischen den stündlichen Rationen von Phrasengebell und Tanzmusik, es war der Trumpf aller bestialischen Zumutungen an den Äther, an Gehör und Menschenwürde« (DW 228–230). Das auf Schallplatten fixierte Gespräch mit »einstigen badensischen Ministern« sei, wie Kraus anmerkt, »zur Abwehr der im Ausland verbreiteten Lügen« bestimmt gewesen. Demnach dürfte eine süddeutsche Version jenes »Berichts aus dem Konzentrationslager Oranienburg« bei Berlin gemeint sein, der im Deutschen Rundfunkarchiv vom 30. September 1933 datiert ist. 15 Denn in der vorliegenden Aufnahme teilt der Ansager ebenfalls mit, zur Abwehr der ausländischen »Gräuelmeldungen« werde eine Aufklärung über das Leben »der in Schutzhaft genommenen, verirrten, verhetzten und schuldig gewordenen Volksgenossen« von allen deutschen Sendern sowie dem Kurzwellendienst übertragen: »Das nationalsozialistische Deutschland baut den Staat, erzieht das Volk in unbegrenzter Wahrheitsliebe.« Der Reporter versichert dann, dass überall im Lager »Ordnung und Sauberkeit« herrsche und die Insassen gut versorgt würden. Als ein Häftling murmelt, es gäbe Erbsensuppe, weist der Interviewer auf eine Speckeinlage hin und fügt in holprigem Deutsch hinzu: »Was meinen Sie wohl, was wir Nationalsozialisten zu essen gekriegt hättet, wenn ihr Kommunisten am Ruder gewesen wärt? Ich glaube, ihr hättet uns hier nicht so anständig behandelt, wie ihr hier behandelt werdet.«

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Ton 1: Reportage aus dem Konzentrationslager Oranienburg, Aufnahme vom 30.9.1933 (00:00–04:10); Quelle: Deutsches Rundfunkarchiv (Frankfurt/M.), 9152121.

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Die überlieferten Passagen des Beitrags enthalten keine der Äußerungen, die Kraus zitiert, entsprechen aber seinen Hinweisen – der einleitenden Klage über die angebliche ›Gräuelpropaganda‹, der Ansprache ausländischer Hörer, der Unbeholfenheit des Journalisten wie der Opfer, die stammelnd beteuern, wohlauf zu sein. Ob es eine ganze Serie von KZ-Reportagen gab, mag dahingestellt bleiben; entscheidend ist, dass die Sendung in der Dritten Walpurgisnacht für die Zäsur steht, die der 30. Januar 1933 auch in der Radiogeschichte markiere: »›Offenbach in Deutschland verboten. Die Leitung des deutschen Rundfunks hat die Weisung erhalten, keine Werke von Offenbach mehr zu senden.‹ Als ob ein Äther, der für eine ›zwanglose Unterhaltung mit Schutzhäftlingen‹ Raum hat, solcher Weisung bedurft hätte!« (DW 53) Es sei ausgemacht, heißt es an einer anderen Stelle, »daß der deutsche Rundfunk in zwanzig völkischen Jahrgängen der Nation nicht das Entzücken ersetzen wird, das er ihr in zweien durch den Offenbach-Zyklus gewährt hat« (DW 47). Gemeint ist eine Sendereihe der Berliner ›Funk-Stunde‹, die in den Jahren 1930 bis 1932 von mehreren deutschen Stationen ausgestrahlt wurde. Insgesamt handelte es sich um fünfzehn Operetten des französischen Komponisten Jacques Offenbach; bei elf Aufführungen hatte Kraus selbst als »Wortregisseur« mitgewirkt. 16 Der Wiener Publizist war einer der Autoren, darunter auch Bertolt Brecht, Gottfried Benn, Alfred Döblin und Else Lasker-Schüler, die für Hans Flesch, den Intendanten der Station in Berlin, Radiosendungen gestalteten. 17 In einer Inszenierung von Shakespeares Timon von Athen, die am 13. November 1930 in der ›Funk-Stunde‹ lief, führte er nicht nur Regie, sondern sprach zugleich die Hauptrolle, während der bekannte Moderator Alfred Braun dem Haushofmeister Flavius die Stimme gab. 18

[35] 

Ton 2: Tischszene aus der Operette Die Schwätzerin von Saragossa von Jacques Offenbach, ›Funk-Stunde‹ Berlin am 28.11.1930, Wortregie von Karl Kraus (09:51–13:23); Quelle: Friedrich Pfäfflin / Eva Dambacher (Hg.): Karl Kraus liest Eigenes und Angeeignetes. 3 CDs mit historischen Aufnahmen. Marbach: Deutsche Schillergesellschaft 1999 (= Beiheft 2 zum Marbacher Katalog 52), Track 3.

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Ton 3: Szene nach Timons Goldfund aus der Tragödie Timon von Athen von William Shakespeare, ›Funk-Stunde‹ Berlin am 13.11.1930, Karl Kraus als Timon (02:40–04:35); Quelle: Deutsches Rundfunkarchiv (Frankfurt/M.), 2894918.

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Mit diesen Bemerkungen sind die »Männer des Rundfunks« genannt, an deren Schicksal in der Dritten Walpurgisnacht erinnert wird, jene »Flesch und Braun, gegen die sich hinterdrein der Verdacht des Europäertums verdichtet hat und denen der sieghafte Dilettantismus das Bewußtsein kulturellen Kontrastes nachträgt« (DW 119). Dem Passus liegt der Sachverhalt zugrunde, dass die ehemaligen Leiter des deutschen Rundfunks Anfang August 1933 verhaftet wurden, und zwar wegen des fadenscheinigen Vorwurfs, maßlos Geld verschwendet zu haben. 19 Kraus führt ein Bild an, auf dem die »Gequälten, umstellt von Wölfen des Konzentrationslagers«, zu sehen sind (DW 119): Sie stehen, noch in Anzüge gekleidet, in einer Reihe – Alfred Braun ganz aufrecht, Hans Flesch mit leicht gesenktem Kopf – und blicken auf eine Schar junger SA-Männer, die mit polierten Springerstiefeln ihren Einsatz erwarten.

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Bild 5: Leiter des Weimarer Rundfunks und Führer der preußischen SPD bei der Ankunft im Konzentrationslager Oranienburg im August 1933 (von rechts: Kurt Magnus, Hans Flesch, Heinrich Giesecke, Alfred Braun, Friedrich Ebert und Ernst Heilmann); Quelle: Deutsches Historisches Museum (Berlin), URL: http://www.dhm.de/lemo/objekte/pict/ba108964/index.html (20.2.2010).

[40] 

Wenn man sich bewusst macht, was auf die verschleppten Radioleute zukam, dann begreift man, weshalb in der Dritten Walpurgisnacht die »Tat dieses Herrn Bredow« hervorgehoben wird, »der mit einem Satz das Deutschtum rehabilitiert hat, indem er in Verbundenheit mit ihnen seine Person der Barbarei darbot, die es entehrt« (DW 119). Der erste Direktor der Reichs-Rundfunk-Gesellschaft hatte nach der Festnahme seiner früheren Mitarbeiter ein Telegramm an das Propagandaministerium gesandt, in dem er laut der Arbeiter-Zeitung feststellte, dass die Verhafteten »um den Rundfunk hochverdiente Männer« seien: »Er fühle sich mit diesen Männern verbunden und bitte um die gleiche Behandlung.« 20 Ende Oktober 1933 wurde Hans Bredow tatsächlich festgenommen; der Schauprozess fand erst nach einem Jahr statt und endete im Juni 1935 mit der Verurteilung der Angeklagten zu Geld- und Gefängnisstrafen. 21

[41] 

Ätherkrieg: Sirenengesang aus Lautsprechern

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Steht der »Offenbach-Zyklus« in der Dritten Walpurgisnacht für den Hörfunk der Weimarer Republik, so ist das NS-Radio, abgesehen von der »zwanglosen Unterhaltung mit Schutzhäftlingen«, durch den »Ätherkrieg« 22 vertreten, den die Nationalsozialisten gegen die österreichische Regierung führten. Kraus erwähnt die »Rundfunkpropaganda« (DW 105), die von Theo Habicht, dem ›Landesinspekteur‹ der NSDAP in Österreich, geleitet wurde, mehrmals direkt und einmal allusiv mit einem Zitat aus der »Klassischen Walpurgisnacht«, jener Versammlung antiker Geister im zweiten Teil des Faust, die Goethe als Pendant zur mittelalterlichen Hexenfeier, der »Walpurgisnacht« des ersten Teils der Tragödie, erfunden hat:

[43] 
Nötigt sie herabzusteigen!
Sie verbergen in den Zweigen
Ihre garstigen Habichtskrallen,
Euch verderblich anzufallen,
Wenn ihr euer Ohr verleiht. (DW 237) 23
[44] 

Es ist wie im Originaltext eine Warnung vor dem Sirenengesang, der zur Entstehungszeit der Dritten Walpurgisnacht aus Lautsprechern zu hören war. Denn schon am Beginn des Konflikts zwischen Hitler und dem österreichischen Bundeskanzler Engelbert Dollfuß, der aus der Christlichsozialen Partei kam und seine eigene Diktatur errichten wollte, 24 stand eine Ansprache, die Hans Frank am 18. März 1933 im Radio hielt. Nach einer Meldung des ›Wolff-Büros‹, der amtlichen Nachrichtenagentur Deutschlands, hatte der damalige Justizminister von Bayern, der später zum Reichsminister und Generalgouverneur im besetzten Polen avancierte, im Sender München gesagt:

[45] 
Zum Schluß richtete Dr. Frank einen Gruß an seine unterdrückten Parteigenossen in Österreich, die unter der ihm unbegreiflichen Unvernunft ihrer Regierung den letzten Terror und die letzte Unterdrückung auszustehen hätten. Österreich sei jetzt der letzte Teil Deutschlands, in dem man es noch wagen könne, das deutsche nationale Wollen zu unterdrücken. Er möchte die Österreichische Regierung in aller Freundschaft und bundesbrüderlichen Zuneigung davor warnen, etwa die Nationalsozialisten zu veranlassen, die Sicherung der Freiheit der deutschen Volksgenossen in Österreich zu übernehmen. 25 (vgl. DW 188)
[46] 

Anstatt der diplomatischen Forderung nach einer Entschuldigung zu entsprechen, trat Frank Mitte Mai bei Massenkundgebungen der NSDAP in Wien und Graz auf, was die latente zwischenstaatliche Krise offen ausbrechen ließ. Die Partei wurde, nachdem Nationalsozialisten eine Serie von Terroranschlägen verübt hatten, am 19. Juni 1933 in Österreich verboten.

[47] 

Anfang Juli kündigte der bayrische Rundfunk dann per Pressemitteilung eine neue Sendereihe an: »Flüchtlinge aus Oesterreich sollen am Mikrophon zu Worte kommen und den Deutschen diesseits und jenseits der Grenze von dem brutalen Kampfe erzählen, der z. Zt. von einer kleinen separatistischen Clique in Oesterreich gegen alles Deutsche geführt wird.« 26 Den Auftakt machte der Landesinspekteur selbst, der im Juni verhaftet und nach Deutschland abgeschoben worden war. Theo Habichts Rede, sein »Aufruf an das deutsche Volk Österreichs«, wurde am 5. Juli 1933 vom Münchner Sender übertragen und zwei Tage später auf der Titelseite des Völkischen Beobachters, dem Kampfblatt der NSDAP, abgedruckt. Die österreichische Republik sei, so lautete die Kernaussage, nicht national gewachsen, sondern nach dem Ersten Weltkrieg von den Siegerstaaten aus Eigeninteressen geschaffen worden; als »willenloses Instrument der französischen Machtpolitik« habe das Land nie Aussichten gehabt, aus eigener Kraft zu überleben, weshalb der »Wille zur Überwindung des Zwangsstaates von St. Germain«, wo man 1919 den Friedensvertrag unterzeichnet hatte, ungebrochen sei. Da nun mit der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler die historische Stunde geschlagen habe, die deutsche Volksgemeinschaft zusammenzuführen, hätten »im Dienste Frankreichs Juden, Marxisten und Freimaurer« eingegriffen, um die nationalsozialistische Bewegung in Österreich kurzerhand zu verbieten:

[48] 
Hochverräter ist nicht der, der als Sprecher der überwältigenden Mehrheit eines Volkes unter strengster Wahrung seiner Verfassung und Gesetze bestrebt ist, den Willen dieser Mehrheit zur politischen Gestaltung zu bringen, sondern Hochverräter ist, wer, wie die Regierung Dollfuß, unter fortgesetztem Bruch der Verfassung und unter Mißbrauch der Gesetze als Vertreter einer verschwindenden Minderheit diese Mehrheit vergewaltigt und von der politischen Gestaltung ausschaltet. 27
[49] 

[50] 

Bild 6: Theo Habichts »Aufruf an das deutsche Volk Österreichs« im Völkischen Beobachter (Münchener Ausgabe) vom 7.7.1933 (S. 1); Quelle: Institut für Zeitungsforschung (Dortmund).

[51] 

Bis zum ›Juliputsch‹, dem nationalsozialistischen Umsturzversuch am 25. Juli 1934 in Österreich, liefen rund 130 Hetzreden dieser Art im Abendprogramm der süddeutschen Radiostationen München, Stuttgart, Nürnberg und Breslau. 28 Schon der ersten Sendung waren diplomatische Proteste beim Auswärtigen Amt und bei der Reichs-Rundfunk-Gesellschaft in Berlin gefolgt, bevor die RAVAG, der Wiener Sender, am 8. Juli 1933 eine Erwiderung der österreichischen Regierung ausstrahlte, die von Eduard Ludwig, dem Leiter des Bundespressedienstes, verlesen wurde. Wer einen Gegenangriff erwartet hatte, den enttäuschte der eher versöhnliche Vortrag, der Bundeskanzler Dollfuß mit den Worten zitierte: »Das deutsche Volk im Reich möge seine Verhältnisse gestalten, wie es will. Wir sind gewillt, vorbehaltlos und in aller Freundschaft mit der deutschen Regierung zusammenzuarbeiten.« In der Gewissheit, »daß die überwiegende Mehrheit der österreichischen Bevölkerung entschlossen hinter der Bundesregierung steht«, lasse man sich durch die Provokationen des Herrn Habicht und seiner Gefolgschaft nicht vom eingeschlagenen Kurs abbringen. 29 Auch Justizminister Schuschnigg, der am 12. Juli vor das RAVAG-Mikrofon trat, um über die nationalsozialistische Radiopropaganda zu sprechen, übte sich in Zurückhaltung, denn es sei der »Inbegriff der österreichischen Sorge«, den »aufgezwungenen Kampf in Ehren zu bestehen«. Er betrachte jenen als wahren Deutschen, »der für sein Volkstum – also in unserem Falle das österreichische Deutschtum – am meisten schafft in lückenlos treuer Pflichterfüllung«, und halte es daher für einen ausgemachten Unsinn, »Österreich des Partikularismus oder des Separatismus zu zeihen«. 30

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[53] 

Bild 7: Artikel über Eduard Ludwigs Rundfunkrede in der Wiener Zeitung vom 9.7.1933 (S. 2 f.); Quelle: Österreichische Nationalbibliothek (Wien).

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[55] 

Bild 8: Artikel über Kurt Schuschniggs Rundfunkrede in der Wiener Zeitung vom 13.7.1933 (S. 3); Quelle: Österreichische Nationalbibliothek (Wien).

[56] 

Im bayrischen Rundfunk wurde nun fast täglich eine weitere Tirade übertragen, was eine gemeinsame Demarche der Botschafter Englands und Frankreichs beim Auswärtigen Amt in Berlin bewirkte. Italiens Ministerpräsident Mussolini verzichtete auf diesen Schritt, weil ihm Hitler zugesagt hatte, die Radiovorträge einzudämmen, und zeigte sich verärgert, als Habicht am 9. August 1933 im Münchner Sender eine Rede hielt, die keineswegs Mäßigung erkennen ließ. 31 Der Landesinspekteur führte die diplomatischen Interventionen auf das »Hilfegeschrei« zurück, das die österreichische Regierung in der »ihr dienstbaren jüdischen, tschechischen, frankophilen Presse in Wien« losgelassen habe, und wandte sich gegen den Eindruck, »dass es in diesem Kampf um die Aufrechterhaltung der äusseren Freiheit und Unabhängigkeit Oesterreichs ginge […], sondern vielmehr handelt es sich um die Austragung einer rein innerösterreichischen Angelegenheit, eines Kampfes, der sich abspielt zwischen der überwältigenden Mehrheit des nach Herkunft, des Blutes und Wesens deutschen Volkes und einer Gruppe Terroristen«. Wenn Dollfuß tatsächlich glaube, was er ständig behaupte, nämlich dass das Volk hinter ihm stehe, dann solle er den Mut aufbringen, sich einer Wahl zu stellen; die NSDAP verpflichte sich »von vornherein zur bedingungslosen Anerkennung des Volksurteils«, denn man habe immer nur den gerechten Anteil an der Macht in Österreich gefordert. Wer die tausendjährige Geschichte der »Ostmark« kenne, sei über die breite Anschlussbewegung nicht erstaunt, die seit dem Zerfall der Monarchie mit aller Kraft in die deutsche Heimat dränge und jene Wiedervereinigung fordere, die von der »Gewaltfaust der Siegerstaatendiktatur« beharrlich verhindert werde. 32

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Bei der Absage wies der Moderator auf die nächste Sendung über Österreich hin, die am 11. August stattfinde und bei der Hermann Hönig, der Wiener Korrespondent der Münchner Zeitung, zu Wort komme, um seine »Erfahrungen mit österreichischen Behörden und Gefängnissen« darzulegen. Man habe ihm und seinen Kollegen, berichtete Hönig dann, bei der Ausweisung übel mitgespielt:

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So wurden wir in kleinen Zellen untergebracht, in denen auch Schwerverbrecher gefangen gehalten wurden. Der Chefkorrespondent des Scherl-Verlages z. B. war gezwungen, die ganze Nacht unter völlig verschmutzten Decken auf ein und derselben Holzpritsche mit einem Einbrecher zu schlafen, der unter anderem auch mehrfach wegen homosexueller Exzesse vorbestraft war. 33
[59] 

Es ist eine der wenigen konkreten Passagen der Rundfunkpropaganda, die sich in der Dritten Walpurgisnacht wiederfinden, wo es heißt, die Nationalsozialisten würden sich im Radio beschweren, »daß man einen deutschen Journalisten die Zelle eines österreichischen Homosexuellen teilen ließ (was hier vielleicht noch als Courtoisie beschönigt wird)« (DW 186). An einer anderen Stelle erwähnt Kraus die Drohung, Deutschland bringe Österreich vor den Völkerbund und nicht umgekehrt: »Es ist die ultima ratio – Habicht hat gewarnt.« (DW 192) Und zwar am 16. August 1933, als er im bayrischen Rundfunk einen weiteren »Lagebericht« lieferte, in dem behauptet wurde, die österreichische Regierung halte die nationalsozialistischen Radiovorträge auf Schallplatten fest, um sie »bei einer kommenden Auseinandersetzung vor dem Völkerbund« als Beweismaterial verwenden zu können. Er hoffe nur, sagte Habicht, dass die Dokumente nicht im Archiv verstauben, sondern wirklich »dem angekündigten Verwendungszweck zugeführt« würden, damit die Welt »die wahre Meinung und Gesinnung des Volkes von Oesterreich« aus seinem Mund zu hören bekäme. 34

[60] 

[61] 

Bild 9: Behördliches Protokoll der Rundfunkrede von Hermann Hönig vom 11.8.1933 (K. 114, f. 453); Quelle: Neues Politisches Archiv im Österreichischen Staatsarchiv (Wien).

[62] 

[63] 

Bild 10: Behördliches Protokoll der Rundfunkrede von Theo Habicht vom 16.8.1933 (K. 113, f. 444); Quelle: Neues Politisches Archiv im Österreichischen Staatsarchiv (Wien).

[64] 

Statt den Konflikt mit dem Nachbarstaat im Völkerbund zu verhandeln, trat Deutschland im Herbst 1933 aus der internationalen Organisation aus. Es lässt sich nicht endgültig klären, ob Habichts Reden aufgenommen wurden. Erhalten ist lediglich ein knapp vierminütiger Originalton auf einer getarnten Schallplatte mit dem Titel An der schönen blauen Donau; er stammt aus einer Ansprache, die am 13. November 1933 im Sender München lief. Der Landesinspekteur rühmte das Ergebnis der Reichstagswahl, die am Tag zuvor stattgefunden hatte, als Beleg der »unlösbaren Verbundenheit von Volk und Regierung« in Deutschland. Nach offiziellen Angaben hatten über neunzig Prozent der Wähler das Kreuz bei der NSDAP, der einzigen Partei auf dem Stimmzettel, gemacht. Entgegen dieser »Einheit von Führer, Volk und Staat im Zeichen der nationalsozialistischen Bewegung« verfüge die Regierung in Österreich, wo seit dem 10. November wieder die Todesstrafe galt, das Standrecht: »Gegen den deutschen Menschen als den Träger der deutschen Zukunft erfindet sie den österreichischen Menschen als den Repräsentanten einer untergegangenen Zeit.« Da sich Dollfuß weder auf »die Liebe und das Vertrauen des deutschen Volkes in Österreich« noch auf die Verfassung stützen könne, hänge seine Herrschaft von der »Anwendung der brutalen Gewalt« ab, weshalb sein letztes Argument in der »Drohung mit dem Galgen« bestehe. »Noch liegen Nacht und Dunkelheit über Österreich«, sprach Habicht, »aber hoch über den Kerkermauern dieses sterbenden Systems erhebt sich leuchtend und sieghaft das Bild eines neuen und größeren Deutschland – eines freien, glücklichen und geeinten Volkes.« 35

[65] 

Ton 4: »Ansprache an das österreichische Volk« von Theo Habicht, Sender ›München‹ am 13.11.1933 (00:00–03:55); Quelle: Deutsches Rundfunkarchiv (Frankfurt/M.), 2884770.

[66] 

Was die Repliken der RAVAG betrifft, gibt es ebenfalls eine Aufnahme in der Länge von rund vier Minuten. Es handelt sich um einen Ausschnitt aus einer Rede vom 17. Januar 1934, die der Heimwehrführer Richard Steidle in seiner Funktion als ›Bundeskommissär für Propaganda‹ im Wiener Sender hielt. Österreich verbitte sich jede Einmischung in seine inneren Angelegenheiten, sagte der christlichsoziale Politiker: »Man lasse uns nach unserer Fasson selig werden. Diese Fasson ist durch jahrhundertealte Erfahrung und Kultur entstanden und kann nicht ohne weiteres durch ein braunes Hemd ersetzt werden. Man verzichte uns gegenüber auf einen befehlshaberischen Kasernenton, der uns nicht liegt, und versuche anstatt dessen, durch brüderliches Einfühlen in die österreichische Seele uns zu gewinnen.« 36 Gut vier Jahre später war die Ostmark Teil des Dritten Reichs. »Der Österreicher ist so deutsch, wie seine Donau blau ist« 37 , schrieb Alfred Polgar, der vor den Nationalsozialisten flüchten musste, in einem Nachruf auf seine Landsleute. Wer je in Wien war, kennt die Farbe der Donau. Sie ist eher braun als blau.

[67] 

Ton 5: Ausschnitt aus dem »Kommentar zur deutschen Propaganda gegen Österreich« von Richard Steidle, Sender ›Wien‹ am 17.1.1934 (00:10–01:58 + 02:14–02:51); Quelle: Österreichische Mediathek (Wien), 99–34007.

[68] 

»Erschütternde Bilder von der Not
eines geknechteten Volkes«

[69] 

Dass die Annexion Österreichs nicht nur in Presse und Rundfunk, sondern auch im Kino vorbereitet wurde, betont Kraus mit dem Hinweis auf einen »Tonfilm« namens »Erschütternde Bilder von der Not eines geknechteten Volkes« (DW 186). Tatsächlich stammt das Zitat aus der Inhaltsangabe des N. S. Ton-Bild-Berichtes Nr. 2, den die Reichspropagandaleitung der NSDAP im Sommer 1933 herausbrachte und der im Filmarchiv des deutschen Bundesarchivs erhalten geblieben ist. 38 Aber liegt dieser Bemerkung eigene Zeugenschaft zugrunde? Lief der knapp zwanzigminütige Streifen in einem der rund 180 Kinos 39 , die es damals in Wien gab? Nach den Zensurlisten der Magistratsabteilung 52 zu schließen, die in der österreichischen Hauptstadt für die Filmprüfung zuständig war, lautet die Antwort: Nein. Denn das Verzeichnis der im Zeitraum von 1. Januar bis 31. Dezember 1933 freigegebenen Filme enthält keinen N. S. Ton-Bild-Bericht Nr. 2. 40 Das heißt, dass er entweder abgelehnt oder gar nicht, wie landesgesetzlich vorgeschrieben, zur Kontrolle eingereicht wurde. Dessen ungeachtet mag der Propagandafilm, sei es bei Parteiveranstaltungen oder von nationalsozialistischen Kinobesitzern, illegal gezeigt worden sein; realistischer als die Vorstellung, Kraus habe sich zwischen eine Schar johlender Braunhemden gezwängt, ist jedoch, dass die Ausgabe der Arbeiter-Zeitung vom 11. August 1933 als Quelle diente. Dort findet sich nämlich eine mit »Deutscher Greuelfilm« betitelte Glosse, wo das »in einer gleichgeschalteten reichsdeutschen Filmzeitung« abgedruckte Inserat der NS-Produktion zitiert wurde: »Dollfuß spricht über den Nationalsozialismus. / Polizeiattacken auf die Wiener Bevölkerung. / Erschütternde Bilder von der Not eines geknechteten Volkes!« 41

[70] 

[71] 

Bild 11: Artikel über den N. S. Ton-Bild-Bericht Nr. 2 in der Arbeiter-Zeitung (Wien) vom 11.8.1933 (S. 4); Quelle: Österreichische Nationalbibliothek (Wien).

[72] 

Der Beitrag über Österreich ist das letzte der vier Sujets des N. S. Ton-Bild-Berichtes Nr. 2. Er nimmt den erwähnten Besuch Hans Franks in Wien zum Anlass, jenen »Vernichtungsfeldzug« darzustellen, den Bundeskanzler Dollfuß gegen den Nationalsozialismus führe. Der bayrische Justizminister war am 13. Mai 1933 bei einer NSDAP-Kundgebung in der Wiener Engelmann-Arena aufgetreten, die mit den Feiern zum 250. Jubiläum der »Türkenbefreiung« kollidierte. In Großaufnahmen von Schlagzeilen des Völkischen Beobachters wird auf die »christlich-soziale Verschwörung« in Österreich hingewiesen, wie sie beim Türkenbefreiungsfest im Schlosspark von Schönbrunn, dem die folgenden Szenen gewidmet sind, zum Ausdruck gekommen sei. Dollfuß spricht zu den versammelten Anhängern über »fremde Ideen«, die sich im Volk »eingenistet« hätten, worauf die männliche Off-Stimme ergänzt, dass zur selben Stunde »dieses österreichische Volk in Wien die deutschen Minister Kerrl und Frank« empfangen habe: Hitlergrüßende und heilrufende Menschenmassen jubeln einer Autokolonne zu, in der, wie die nächste Sequenz zeigen soll, der Besuch aus dem Reich chauffiert wurde. »Vielen herzlichen Dank«, sagt Hans Frank zum Wiener Gauleiter Alfred Eduard Frauenfeld, »für den lieben Empfang, den Sie mir hier bereitet haben.« Es sei eine »unerhörte Freude«, an der »deutschesten Stelle des Ostens«, wo Hitlers »Lebenskampf als einfacher Handarbeiter« begonnen habe, betonen zu können, dass der Führer stolz auf seine Heimat sei, die »zu ihm und seiner Bewegung, zur Idee des Völkerfriedens, zur Idee der nationalen Wohlfahrt, zur Idee der Freiheit und Reinheit des Volkslebens« stehe.

[73] 

[74] 

Film 1: Ausschnitt aus dem N. S. Ton-Bild-Bericht Nr. 2, NSDAP Berlin 1933 (11:16–12:43 + 12:58–13:47); Quelle: Bundesarchiv-Filmarchiv (Berlin), K 172392.

[75] 

Die kurze Ansprache erntet großen Beifall, Heilrufe, erhobene Arme; Demonstranten, hauptsächlich junge Männer, singen das Deutschlandlied und werden von Polizisten mit Pferden und Schlagstöcken durch die Straßen geschoben; Bajonette erscheinen in Naheinstellungen; einer, der wie Ludwig Wittgenstein aussieht, wird abgeführt. Dann schwenkt die Kamera auf einen Aufmarsch der paramilitärischen Heimwehr, und der Sprecher erläutert: »Der Weg der Unterdrückung und Verbote ist gefährlich, wenn man die Mehrzahl des Volkes gegen sich und als Gegner eine Bewegung hat, deren innere Kraft alles überrennt, was sich ihr in den Weg stellt.« Mit dem Nebensatz wechselt das Bild, in das nun von rechts SA-Truppen mit Hakenkreuzfahnen marschieren, streng geordnet an Hitler vorbei, der die Parade mit zusammengeschlagenen Stiefeln und ausgestrecktem Arm abnimmt. Die letzten Szenen des Films zeigen Ausschnitte der Parteiveranstaltung in der Engelmann-Arena. »Wir aber deutsche Volksgenossen«, ruft ein Redner 42 mit hoher, aggressiver Stimme, »wir werden diesen Kampf gekrönt haben durch den Erfolg, durch den Sieg! Wir Deutsche der Ostmark hier, wir werden heimgefunden haben ins heilige dritte deutsche Reich!« Daraufhin stimmt die Menge, von einer Kapelle begleitet, das Horst-Wessel-Lied an, mit dem der N. S. Ton-Bild-Bericht Nr. 2 ausklingt.

[76] 

[77] 

Film 2: Ausschnitt aus dem N. S. Ton-Bild-Bericht Nr. 2, NSDAP Berlin 1933 (15:19–15:46 + 16:28–18:03); Quelle: Bundesarchiv-Filmarchiv (Berlin), K 172392.

[78] 

Das Menetekel ist ein Film der Metufa

[79] 

Am Ende der ersten Strophe der Parteihymne heißt es: »Kameraden, die Rotfront und Reaktion erschossen, / marschier’n im Geist in unsern Reihen mit.« 43 Das ganze Horst-Wessel-Lied drückt eine nihilistische Haltung im Sinn Nietzsches aus, der mit Nihilismus den »Willen zum Nichts«, eine Entwertung des Lebens im Namen höherer Werte bezeichnete. 44 Der Spielfilm Morgenrot, bei dem der Österreicher Gustav Ucicky Regie geführt hatte, war ebenfalls eine Ausgeburt dieser Mentalität. 45 Als er am 2. Februar 1933 im Berliner Ufa-Palast am Zoo aufgeführt wurde, nachdem die Premiere zwei Tage vorher in Essen stattgefunden hatte, saß der neue Reichskanzler, flankiert von seinen Koalitionären Alfred Hugenberg und Franz von Papen, im ersten Rang. »Morgenrot, Morgenrot, leuchtest mir zum frühen Tod«, sang der Henker, der Dritten Walpurgisnacht zufolge, im deutschen Konzentrationslager. (DW 213) Dass Kraus dabei nicht nur an Wilhelm Hauffs Gedicht Reiters Morgengesang dachte, das in Friedrich Silchers Vertonung zu einem bekannten Soldatenlied geworden war, sondern auch an den symbolträchtigen Film, wo es im Titel zitiert und am Schluss gespielt wurde, lässt eine andere Textstelle vermuten, die lautet: »[…] das Mene Thekel Upharsin, welches jenes letzte Ende verkündet, ist ein Film der Metufa.« (DW 129 f.) Über die Kreuzung aus dem Wort Metapher und dem Kürzel der deutschen ›Universum Film AG‹, die zu Hugenbergs Medienkonzern gehörte, wird noch zu reden sein. Fragen wir uns zunächst, weshalb Morgenrot, vom Namen und Erscheinungstermin abgesehen, ein Unheil kündendes Zeichen darstellte.

[80] 

Die Geschichte spielt im Jahr 1915. Kapitänleutnant Liers, den der österreichische Schauspieler Rudolf Forster gab, ist ein erfahrener U-Boot-Kommandant, der Meerskirchen, seine Heimatstadt, verlassen muss, um hinter den feindlichen Linien einen britischen Kreuzer zu versenken. Der Abschied fällt allen schwer, besonders seiner Mutter, die nicht noch einen Sohn im Krieg verlieren will. Die Mannschaft hingegen sticht erwartungsvoll in See und erfüllt ihre Mission schon nach kurzer Zeit. Auf der Heimfahrt gerät das U-Boot aber in einen Hinterhalt, da sich ein Schiff der englischen Flotte als neutraler Segler tarnt – es wird von einem Zerstörer gerammt und sinkt, schwer beschädigt, in die Meerestiefe. Zehn Männer retten sich in einen wasserdichten Raum und finden dort acht Atemschutzgeräte vor. Für den pflichtbewussten Kommandanten ist klar, dass er und sein Oberleutnant Fredericks, den alle Fips nennen, zurückbleiben, damit der Rest überleben kann. Die Mannschaft weigert sich jedoch, das Opfer anzunehmen, und erklärt, mit ihren Führern untergehen zu wollen. »Alle oder keiner!« Als Liers sich an Fredericks wendet, um die Lage zu besprechen, sagt dieser, er »könnte zehn Tode sterben für Deutschland, hundert«, worauf der Kapitän ergänzt: »Ich danke euch allen, und es freut mich, mit euch zusammen rübermarschieren zu können. Zu leben verstehen wir Deutsche vielleicht schlecht, aber sterben können wir jedenfalls fabelhaft.« Es kommt dann nicht zum gemeinsamen Heldentod, weil sich Fips – der erfahren hat, dass sein großer Schwarm, die Tochter des Bürgermeisters, nicht ihn, sondern Liers liebt – und ein einzelgängerischer Matrose vorher selbst erschießen. Die übrigen Männer gelangen mithilfe der Tauchretter an die Wasseroberfläche und werden geborgen.

[81] 

[82] 

Film 3: Ausschnitt aus dem Spielfilm Morgenrot, Ufa 1933 (1:06:58–1:09:20); Quelle: Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung (Wiesbaden).

[83] 

Mit einem Wort, das »letzte Ende«, das Morgenrot verkündet, ist der Krieg und also der Tod. Es ist jenes »nichts«, das Kraus zu Hitler einfällt, nämlich »Vernichtung« als politisches Programm. (DW 12/23) Man denkt dabei zu Recht an die Opfer der Nationalsozialisten, vor allem die Juden; es sollte aber nicht übersehen werden, dass die programmatische Geringschätzung des Lebens auch für die Täter galt. Deutsche Soldaten waren nach dieser Gesinnung berufen, für das Vaterland zu sterben, und wer den Kampf überlebte, hatte seine Pflicht nicht voll erfüllt. Der Tod ist in Morgenrot kein Sturz in den Abgrund, sondern eine sanfte Umarmung, eine Heimholung oder, wie Liers meint, »das einzige Erlebnis im Leben«.

[84] 

Das vollendete Projekt der Abklärung

[85] 

Was sagt uns der Begriff »Metufa« (DW 130), davon abgesehen, dass er sich auf den besprochenen Spielfilm Morgenrot beziehen lässt? Sein Gerüst bildet das Wort ›Metapher‹, das auf das griechische Verb ›metaphérein‹ zurückgeht und ›Übertragung‹ bedeutet. Übertragen wird bei der Metapher der Sinn eines Ausdrucks: Wenn Rudolf Forster in der Rolle des U-Boot-Kommandanten Liers behauptet, es freue ihn, gemeinsam mit seiner Mannschaft »rübermarschieren« zu können, dann ersetzt er die Vorstellung, dass zehn Menschen ersticken oder ertrinken werden, durch das Bild einer Gruppe von Soldaten, die aufrecht und pflichtbewusst eine Grenze überqueren, Neuland betreten, das der Eroberung harrt. Indem Kraus den hinteren Teil des Worts gegen das klanglich passende Kürzel der ›Universum Film AG‹ austauscht, formt er eine Kontamination, die zwei Schlüsse nahelegt, nämlich erstens, dass die Ufa diese Methode der symbolischen Verschiebung gezielt anwendet, und dass sie, zweitens, selbst die Metapher eines Systems darstellt, was rhetorisch ungenau ist, denn im Grunde handelt es sich um eine metonymische Beziehung – das deutsche Filmunternehmen steht für die Massenmedien insgesamt.

[86] 

Damit kehren wir an den Beginn der Untersuchung zurück, das heißt zum Kraus’schen Verständnis von Medien als Ausweitungen der menschlichen Sinnesorgane, denen die gesellschaftliche Aufgabe zukommt, Wahrnehmungen unverfälscht zu übermitteln. In Wirklichkeit aber verzahnen sich Medium und Metapher, da während der Vermittlung Übertragungen stattfinden, die schwerwiegende Folgen zeitigen würden:

[87] 
Denn der Nationalsozialismus hat die Presse nicht vernichtet, sondern die Presse hat den Nationalsozialismus erschaffen. Scheinbar nur als Reaktion, in Wahrheit auch als Fortsetzung. Jenseits aller Frage, mit welchem Humbug sie die Masse nähren – sie sind Journalisten. Sie sind Leitartikler, die mit Blut schreiben. Ja, Feuilletonisten der Tat. Sie haben die Höhle bezogen, als die das gedruckte Wort der Altvordern die Phantasie der Menschheit hinterlassen hat, und daß sie des Zierats entbehren oder ihn nicht nachstümpern können, ist ihr kultureller Vorsprung. (DW 307 f.)
[88] 

Was Kraus den Journalisten vorwirft, ist ihr Unvermögen zur strengen Benennung der Realität, ihren Hang, künstlerische Mittel im Nachrichtengeschäft zu missbrauchen. Darum liegt der hypertrophen Anklage, dass die Presse »den Nationalsozialismus erschaffen« habe, der kryptische Befund zugrunde, die Nationalsozialisten hätten »die Höhle bezogen, als die das gedruckte Wort der Altvordern die Phantasie der Menschheit hinterlassen hat« – ein Urteil, das McLuhans bekannte These, wonach das Medium die Botschaft sei, 46 kritisch vorwegnimmt. Denn für Kraus besteht die wesentliche Gefahr der Medien, ungeachtet der Frage, »mit welchem Humbug sie die Masse nähren«, in den Auswirkungen auf die Erkenntniskräfte der Leser, Hörer und Betrachter. Es geht ihm nicht primär um die Inhalte, sondern um die Art und Weise, wie die Inhalte vom Sender zum Empfänger gelangen. Die beiden journalistischen Typen der angeführten Passage, die »Leitartikler« und die »Feuilletonisten«, sind das Gegenteil eines meldenden Boten: der eine kommentiert das Geschehen, der andere umschreibt es – berichten will keiner. So trifft die Information nie ohne Interpretation beim Publikum ein, das nicht die Gelegenheit erhält, die Ereignisse selbständig zu verarbeiten.

[89] 

Wer 1933 in Wien über die faktischen Vorgänge in Deutschland Bescheid wissen wollte, musste die Tatsachen aus einem Meinungsmeer fischen. Während die bürgerliche Presse vor allem die nationalsozialistischen Darstellungen wiedergab, verringerten die sozialdemokratischen Zeitungen den Informationsgehalt ihrer Zeugenberichte, indem sie die erschütternden Schilderungen in den parteipolitischen Kontext des Klassenkampfes stellten; im Radio waren außer unterhaltenden namentlich Propagandasendungen zu hören, die je nach gewählter Station das deutsche oder das österreichische Regime lobten; und die Kinos brachten, abgesehen von Spielfilmen, ›Dokumentationen‹ der NSDAP, deutschnationale und austrofaschistische Wochenschauen, aber keine Filme, die wahrheitsgetreu vermittelten, was im Nachbarland vor sich ging. 47 Dass es trotzdem möglich war, sich schon im Jahr 1933, und zwar von Wien aus, ein adäquates Bild vom verbrecherischen, ja bestialischen Charakter der NS-Herrschaft zu machen, das zeigt die Dritte Walpurgisnacht auf eindringliche Weise.

[90] 

Gewiss, viele Menschen wollten es nicht wahrnehmen, sahen und hörten weg, kümmerten sich um den eigenen Kram. Folgt man der Kraus’schen Medienkritik, dann war die Masse jedoch nicht mehr imstande, sich ein autonomes Urteil zu bilden, weil ihr das Fundament, der Kitt der Erkenntnisquellen, fehlte: In Kants Erkenntnislehre ist die Einbildungskraft insofern maßgeblich an der Urteilsbildung beteiligt, als sie erstens die ›Apprehension‹, die Zusammenfassung der Sinneseindrücke zu einem Bild, zweitens die ›Assoziation‹ als Wiedererweckung von Vorstellungen in der Erinnerung und drittens die ›Apperzeption‹, das bewusste Erfassen eines Wahrnehmungsinhalts, verwirklicht – sie dient, vereinfacht gesagt, als Bindeglied zwischen Sinnlichkeit und Verstand, den beiden Stämmen der Erkenntnis. 48 Wenn man die Prämisse, wonach »das gedruckte Wort der Altvordern die Phantasie der Menschheit« ausgehöhlt habe (DW 308), auf diesem epistemologischen Hintergrund sieht, lässt sich der Gedankengang von Kraus so verstehen, dass die Nationalsozialisten kein kollektives Bewusstsein entwickeln, sondern nur eine Masse von Menschen übernehmen mussten, die nicht mehr fähig waren, selbst zu denken, weil die Öffentlichkeit seit Jahrzehnten von Zeitungen beherrscht wurde, die keine Tatsache ohne Meinung verbreiteten, also die Leser der Freiheit beraubten, die übermittelten Sinnesdaten auf eigene Begriffe zu bringen, was zur Verkümmerung ihrer Imagination geführt habe. Es handelt sich um die Vollendung eines Projekts, das in der Dritten Walpurgisnacht den Namen »Abklärung« trägt (DW 67/174).

[91] 
Kurzbiografie: Simon Ganahl, 1981 in Bludenz geboren, studierte Kommunikationswissenschaft, Germanistik, Politikwissenschaft und Philosophie in Wien und Hamburg. Seine Diplomarbeit Ich gegen Babylon: Karl Kraus und die Presse im Fin de Siècle ist 2006 als Monografie erschienen. Für die im Dezember 2008 vorgelegte Dissertation über die Dritte Walpurgisnacht von Karl Kraus wurde ihm ein DOC-Stipendium der Österreichischen Akademie der Wissenschaften zuerkannt. Derzeit absolviert er einen Forschungsaufenthalt an der Universität Zürich.

 
 

Anmerkungen

Eric Hobsbawm: Gefährliche Zeiten. Ein Leben im 20. Jahrhundert. Übers. von Udo Rennert. München, Wien: Hanser 2003, S. 79.   zurück
Vgl. Karl Dietrich Bracher: Stufen totalitärer Gleichschaltung: Die Befestigung der nationalsozialistischen Herrschaft 1933/34. In: Wolfgang Michalka (Hg.): Die nationalsozialistische Machtergreifung. Paderborn u. a.: Schöningh 1984, S. 13–28.   zurück
Karl Kraus (Hg.): Die Fackel. Nr. 888/1933, S. 4.   zurück
Karl Kraus: Dritte Walpurgisnacht. Hg. von Christian Wagenknecht. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1989 (= Schriften, Bd. 12). Künftig mit der Sigle DW und der Seitenzahl im laufenden Text zitiert; Spationierungen werden in Kursivschrift wiedergegeben.   zurück
Vgl. zur Rezeptionsgeschichte Jochen Stremmel: »Dritte Walpurgisnacht«. Über einen Text von Karl Kraus. Bonn: Bouvier 1982 (= Literatur und Wirklichkeit, Bd. 23), S. 162–219.   zurück
Der Schwerpunkt wird auf die Kraus’sche Verarbeitung von Radiosendungen und Kinofilmen gelegt, da die Presse-Bezüge der Dritten Walpurgisnacht schon besser erforscht sind. Vgl. etwa Eckart Früh: Dritte Walpurgisnacht und Arbeiter-Zeitung. In: Kurt Faecher (Hg.): Noch mehr. Wien: gratis und franko 1983.   zurück
›Medien‹ werden hier nach der kommunikationswissenschaftlichen Definition von Ulrich Saxer als »komplexe institutionalisierte Systeme um organisierte Kommunikationskanäle von spezifischem Leistungsvermögen« verstanden. Vgl. Ulrich Saxer: Konstituenten einer Medienwissenschaft. In: Helmut Schanze / Peter Ludes (Hg.): Qualitative Perspektiven des Medienwandels. Positionen der Medienwissenschaft im Kontext »Neuer Medien«. Opladen: Westdeutscher Verlag 1997, S. 15–26, hier S. 21.   zurück
Vgl. Marshall McLuhan: Understanding Media. The Extensions of Man. New York: New American Library 1964.   zurück
Vgl. dazu Fritz Stern: Fünf Deutschland und ein Leben. Erinnerungen. Übers. von Friedrich Griese. München: Beck 2007, S. 105, 111, 122.   zurück
10 
N. N.: Tod des Führers der sozialdemokratischen Arbeiterpartei Dr. Eckstein. In: Neue Freie Presse (Wien), 9.5.1933 (Morgenblatt), S. 3 f.   zurück
11 
N. N.: Wie Ernst Eckstein starb. In: Arbeiter-Zeitung (Wien), 19.5.1933, S. 2.   zurück
12 
13 
14 
N. N.: Wo Paul Löbe war. In: Arbeiter-Zeitung (Wien), 12.8.1933, S. 3 f., hier S. 3.   zurück
15 
Vgl. Bericht aus dem Konzentrationslager Oranienburg, Deutsches Rundfunkarchiv in Frankfurt/M. (DRA), Signatur 2955807 u. 9152121. Ein Transkript der Aufnahme ist abgedruckt in Rundfunk und Geschichte, Nr. 24/1998, S. 165–169. Ausschnitte aus der Reportage sind auf folgenden CDs enthalten: 1933 – Der Weg in die Katastrophe. Hg. von Deutschen Rundfunkarchiv u. Deutschen Historischen Museum. Frankfurt/M., Berlin: Deutsches Rundfunkarchiv u. Deutsches Historisches Museum 2000 (= Stimmen des 20. Jahrhunderts), Track 15; Hans Sarkowicz (Hg.): Radio unterm Hakenkreuz von 1933 bis 1945. CD 1. Berlin: Universal 2004 (= Die Geschichte des Rundfunks in Deutschland, Teil 2), Track 2.   zurück
16 
Vgl. Sigurd Paul Scheichl: Karl Kraus im Rundfunk. In: Kraus Hefte. Nr. 61/1992, S. 2–6, hier S. 2 f.   zurück
17 
Anhand der Angaben in der Fackel lassen sich 24 Rundfunksendungen von Karl Kraus nachweisen – von einigen sind Ausschnitte im Deutschen Rundfunkarchiv vorhanden. Friedrich Pfäfflin hat die erhaltenen Aufnahmen 1999 auf drei CDs herausgegeben. Vgl. Friedrich Pfäfflin / Eva Dambacher (Hg.): Karl Kraus liest Eigenes und Angeeignetes. 3 CDs mit historischen Aufnahmen. Marbach: Deutsche Schillergesellschaft 1999 (= Beiheft 2 zum Marbacher Katalog 52).   zurück
18 
Vgl. Karl Kraus (Hg.): Die Fackel. Nr. 845–846/1930, S. 27 f.   zurück
19 
Die Wiener Presse berichtete ausführlich über die Vorfälle – siehe etwa die Ausgaben der Arbeiter-Zeitung vom 1.8.1933 (S. 3), 2.8.1933 (S. 2) und 9.8.1933 (S. 2). Vgl. dazu Ansgar Diller: Rundfunkpolitik im Dritten Reich. München: DTV 1980 (= Rundfunk in Deutschland, Bd. 2), S. 128.   zurück
20 
N. N.: Ein aufrechter Mann. In: Arbeiter-Zeitung (Wien), 9.8.1933, S. 2. Vgl. dazu Ansgar Diller (Anm. 19), S. 128 f.   zurück
21 
Vgl. Ansgar Diller (Anm. 19), S. 132.   zurück
22 
Ebd., S. 214 ff.   zurück
23 
Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Faust. Texte. Hg. von Albrecht Schöne. Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag 2005, V. 7161–7165.   zurück
24 
Mit der scharfsinnigen Kritik am Nationalsozialismus kontrastiert in der Dritten Walpurgisnacht eine Parteinahme für die Politik der österreichischen Regierung, die hier nicht analysiert, sondern nur zurückgewiesen werden kann. Denn entgegen der Kraus’schen Darstellung hat sich Dollfuß, nachdem die Nationalratspräsidenten am 4. März 1933 zurückgetreten waren, nicht deshalb entschieden, autoritär zu regieren, um Österreich vor dem nationalsozialistischen Gegner zu schützen, sondern weil er die Chance sah, seine Vorstellung einer katholischen Diktatur zu verwirklichen. Vgl. dazu Emmerich Tálos: »Das austrofaschistische Herrschaftssystem«. In: Emmerich Tálos / Wolfgang Neugebauer (Hg.): Austrofaschismus. Politik – Ökonomie – Kultur. 1933–1938. 5., überarb. u. erg. Aufl. Wien: Lit 2005 (= Politik und Zeitgeschichte, Bd. 1), S. 394–420.   zurück
25 
Zit. nach Aktennotiz vom 22.3.1933, Politisches Archiv des Auswärtigen Amts in Berlin, R 28392 (Büro des Reichsministers, Aktenzeichen 16: Österreich).   zurück
26 
Zit. nach Bericht der RAVAG über die Rundfunkpropaganda vom 26.7.1933, Neues Politisches Archiv im Österreichischen Staatsarchiv (NPA), K. 113 (Mappe zur deutschen Rundfunkpropaganda, f. 304).   zurück
27 
Zit. nach Völkischer Beobachter, Münchener Ausgabe, 7.7.1933, S. 1.   zurück
28 
Vgl. Theodor Venus: Der lange Weg zum Juliputsch 1934 – Hallwich und Hugenberg, Habicht und Huber. In: Wolfgang Duchkowitsch (Hg.): Mediengeschichte. Forschung und Praxis. Wien u. a.: Böhlau 1985, S. 143–172, hier S. 157.   zurück
29 
Zit. nach Wiener Zeitung, 9.7.1933, S. 2 f.   zurück
30 
Zit. nach Wiener Zeitung, 13.7.1933, S. 3.   zurück
31 
Vgl. Dieter Ross: Hitler und Dollfuß. Die deutsche Österreich-Politik 1933–1934. Hamburg: Leibniz 1966, S. 72 f.   zurück
32 
Zit. nach Mitschrift der Rede vom 9.8.1933, NPA, K. 113 (Mappe zur deutschen Rundfunkpropaganda, f. 437–443).   zurück
33 
Zit. nach Mitschrift der Rede vom 11.8.1933, NPA, K. 114 (Mappe mit Rundfunkreden, f. 453–456).   zurück
34 
Zit. nach Mitschrift der Rede vom 16.8.1933, NPA, K. 113 (Mappe zur deutschen Rundfunkpropaganda, f. 444–449).   zurück
35 
Theo Habicht: Ansprache an das österreichische Volk, DRA, Signatur 2884770.   zurück
36 
Richard Steidle: Kommentar zur deutschen Propaganda gegen Österreich, Österreichische Mediathek in Wien, Signatur 99–34007.   zurück
37 
Alfred Polgar: Der Österreicher (Ein Nachruf). In: A. P.: Kleine Schriften. Bd. 1: Musterung. Hg. von Marcel Reich-Ranicki. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1982, S. 205–209, hier S. 209.   zurück
38 
N. S. Ton-Bild-Bericht Nr. 2, NSDAP Berlin 1933, Bundesarchiv-Filmarchiv in Berlin (BA-FA), Signatur K 172392.   zurück
39 
Vgl. Walter Fritz: Im Kino erlebe ich die Welt. 100 Jahre Kino und Film in Österreich. Wien: Brandstätter 1997, S. 145.   zurück
40 
Vgl. Thomas Ballhausen / Paolo Caneppele (Hg.): Entscheidungen der Wiener Filmzensur. 1929–1933. Wien: Filmarchiv Austria 2003 (= Materialien zur österreichischen Filmgeschichte, Bd. 10), S. 437–496.   zurück
41 
N. N.: Deutscher Greuelfilm. In: Arbeiter-Zeitung (Wien), 11.8.1933, S. 4. Der Titel des Films lautet hier »N. S. Tonfilmbericht N2«.   zurück
42 
Laut den Angaben des Deutschen Rundfunkarchivs handelt es sich um Theo Habicht, dessen Stimme in der erwähnten Ansprache an das österreichische Volk allerdings tiefer und anders gefärbt ist. Vgl. Theo Habicht: Ansprache auf einer öffentlichen Kundgebung, DRA, Signatur 2844053.   zurück
43 
Zit. nach Alfred Roth: Das nationalsozialistische Massenlied. Untersuchungen zur Genese, Ideologie und Funktion. Würzburg: Königshausen & Neumann 1993 (= Epistemata: Reihe Literaturwissenschaft, Bd. 112), S. 105.   zurück
44 
Vgl. Gilles Deleuze: Nietzsche und die Philosophie. Übers. von Bernd Schwibs. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 2002, S. 161.   zurück
45 
Morgenrot, Ufa-Tonfilm 1933, BA-FA, Signatur M 10435. Vgl. dazu Erwin Leiser: »Deutschland, erwache!« Propaganda im Film des Dritten Reichs. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1968, S. 19 f. sowie Francis Courtade / Pierre Cadars: Geschichte des Films im Dritten Reich. Übers. von Florian Hopf. München: Heyne 1977, S. 116–120.   zurück
46 
Vgl. Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle. »Understanding Media«. Düsseldorf, Wien: Econ 1970, S. 13–28.   zurück
47 
Vgl. dazu Simon Ganahl: Ad oculos et aures. Presse, Radio und Film in der Dritten Walpurgisnacht von Karl Kraus. Wien: Univ. Diss. 2008, URL: http://othes.univie.ac.at/4658 (20.2.2010).   zurück
48 
Vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft 1. Hg. von Wilhelm Weischedel. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1974 (= Werkausgabe, Bd. III), A 124 f.   zurück