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Sein und Zeigen

John Sallis' Neuentwurf der Phänomenologie der Einbildungskraft

  • John Sallis: Einbildungskraft. Der Sinn des Elementaren. (Philosophische Untersuchungen 24) Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 2010. XII, 304 S. Leinen. EUR (D) 99,00.
    ISBN: 978-3-16-149127-6.
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John Sallis, ein amerikanischer Philosoph, der zuletzt in Boston gelehrt hat, dürfte im deutschsprachigen Raum bisher kaum bekannt sein – auch deshalb, weil nur wenige seiner zahlreichen Monographien ins Deutsche übersetzt worden sind. Glücklicherweise liegt nun in einer hervorragenden und sorgfältigen Übersetzung (Tobias Keiling, Daniela Vallega-Neu) ein im Original vor über zehn Jahren (2000) erschienenes Buch zur »Einbildungskraft« bei Mohr Siebeck vor, das dazu angetan sein dürfte, Sallis in jeder Hinsicht als einen der wichtigsten zeitgenössischen amerikanischen Philosophen auch hierzulande stärker ins Bewusstsein zu holen.

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Inhalt

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In den »Präludien« umreißt Sallis die Erfahrungs- und Denksituation, aus der heraus eine Neuausrichtung des Verständnisses der Einbildungskraft nötig sein soll. Phantasie als Vermögen, der »geheimen Stärke der Dinge« (S. 5) auf die Spur zu kommen, macht an diesen gerade das sichtbar, was sich nur in der Form des Zurückhaltens manifestiert. Für Sallis ist in dieser Dimension die entscheidende Seinsweise von Dingen zu sehen: Ein Ding zeigt sich weder jemals allein noch zeigt es sich »vollständig und vollkommen« (S. 7) – und doch macht es sich dem Erschließungsgeschehen der Imagination, weil sein zeitliches Dasein der Offenheit des Sich-Zeigens zugehört, in der Weise seiner Darbringung kenntlich. Dem Seinsgeschehen der Öffnung im Sich-Zeigen der Dinge entspricht die Vorgängigkeit der Einbildungskraft, die für Sallis kein Zugang oder Vermögen ist, sondern ein Geschehen: das der Eröffnung eines Raumes des Daseins als Sichzeigendes. Die Frage, ob im scheinbar selbstgenügsamen, bloß subjektgesetzten, keine Nötigung vom Gegenstand her erhaltenden Phantasiebild etwas Anderes, von der ursprünglichen Daseinsöffnung des Dings her Kommendes einbrechen kann, hat die Tradition nach Sallis stets verneint. Phantasiebilder erschließen nichts, weil sie ihr »schwaches Leben« rein von unserer Spontaneität erhalten; ihre »Vergegenwärtigung« kann der »Gegenwärtigung« der Wahrnehmung nicht gleich kommen. Dagegen setzt Sallis die These, dass die Einbildungskraft, richtig verstanden in ontologischer Wendung weg von ihrer bloß subjekttheoretischen Fundierung, bereits vor aller Subjekt-Objekt-Unterscheidung und damit auch vor aller Wahrnehmung als Raum des Sich-selbst-Zeigens der Dinge zu denken ist. In bewusster Abkehr vom Denken des »Anthropozentrismus« (S. 30) als Denken von Stadt und Staat beschwört Sallis eine Philosophie, die elementaren Erfahrungen sich öffnet: »wenn man einen leichten Wind auf der Wange spürt oder Zuflucht vor einem tosenden Sturm sucht, wenn man die eigenen Füße auf die Erde setzt oder einen geliebten Menschen in ihr begräbt«. (S. 31)

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Darüber, (nicht einfach) anzufangen

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Deshalb zielt Sallis zufolge die Philosophie auf eine Sprache, die dem Sinnlichen – dem Zeichenkörper sowie den Dingen selbst – nicht äußerlich und vorgegeben ist, um es in einen anderen Bereich (das Intelligible) zu übersteigen. Sinn muss als Bewegung in und aus den Sachen selbst von deren Art, dem sinnlichen Sich-Zeigen, sein, ohne damit nur die sprachlose Anwesenheit der Dinge zu wiederholen. Einer Philosophie, welche die Sachen selbst er- und begreifen will, muss der Sinn jenseits äußerlicher, selbstverständlicher Bedeutungen aus der Offenheit des Sich-Zeigens der Sachen selbst zuwachsen: Sie muss fähig sein, diesen den Dingen abzulauschen, indem die Worte im Kontakt mit der Sache »von neuem Sinn erzeugen« (S. 45). Sallis fokussiert dabei das Sprachproblem, welches in einer solchen Konzeption liegt: Wie soll sich das zugelassene Selbstgegebensein angemessen in Sprache umsetzen lassen – welcher Sprache ist dafür aus welchem Grund zu vertrauen? Im Raum dieses Zweifels nimmt Sallis zwei Korrekturen an Husserl vor: 1. In Anerkennung der Kritik Derridas wird die Absolutheit des Prinzips der Anwesenheit in der Phänomenologie ersetzt durch das Bewusstsein, »dass im Sich-selbst-zeigen der Dinge immer konstitutive Momente von der Anwesenheit zurückgehalten und nicht der Anschauung preisgegeben werden.« (S. 51) 2. Nicht der »Felsgrund der Anwesenheit«, sondern das »Sichzeigen der Sachen selbst« (S. 52) und folglich die Gebärden, mit denen sich die Sachen enthüllen und verhüllen, sowie ihre Überführung in den Raum der Sprache rücken ins Zentrum phänomenologischer Aufmerksamkeit.

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Erinnerung

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Im 2. Kapitel widmet sich Sallis exemplarischen Stationen der philosophischen Geschichte der »Einbildungskraft« mit dem Ziel, die Unterbrechung herauszuarbeiten, welche der Begriff der Einbildungskraft der abendländischen Philosophie und ihren Zentralideen zugefügt hat. Dabei geraten sowohl die bereits in den »Präludien« angeklungene Kritik an der imaginativen Schwäche wie auch die Konzeption der Einbildungskraft als bloßes »Seelenvermögen« in den Fokus der Betrachtung. Die »doppelte Gerichtetheit« der Einbildungskraft, »insofern sie einerseits Erleuchtung und Erhöhung geschehen lässt, andererseits aber Täuschung und Verderben« (S. 58), wird dabei zu einem der Grundmotive abendländischen Nachdenkens über sie. Platon ordnet diesen widersprüchlichen Funktionen verschiedene Wortstämme zu (eikon – fantasia) und ein »zweifaches Vermögen des Bildes« (S. 60f.). Analog dazu grenzt Platon die Fähigkeit der »eikasia«, durch deren doppeltes Sehen im Bild das Original als Anderes »mitgesehen« und somit (beinahe als Grundstruktur jeden Erkennens) das Bild durchsichtig auf das ihm immanente Verhältnis wird, von der bloß täuschenden Kraft der »mimesis« ab, die das Scheinen des Bildes als Sein der Sache erscheinen lässt. Die Überschreitung des bloß Gegebenen sowohl auf Seiten des Objekts als auch des Subjekts begreift Sallis als theoretische Grundlage für die herausragende Stellung, welche die Einbildungskraft bei Kant als auch vor allem bei Fichte gewinnt. Sowohl für die reine als auch für die empirische Synthesis des Verstandes rückt die Einbildungskraft bei Kant in die Zentralposition der Grundlage aller Gegenstandsbildung wie auch aller möglichen Erfahrung überhaupt. Das »Erste und Ursprüngliche« (Hegel) der Einbildungskraft bei Fichte wird für Sallis zum Anknüpfungspunkt, ihre Entgrenzung von der Festlegung auf ein bloßes Vermögen beim Wort zu nehmen. Die Bilder der Einbildungskraft kommen aller subjektiven Zurichtung zuvor und sind zugleich durch eine »Spur eines Entzugs, eines abwesenden Rückbehalts« (S. 91) gekennzeichnet, der die ganz eigene Präsenz ihrer Gegenstände zwischen An- und Abwesenheit markiert.

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Die Doppeltheit des Bildes

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Sallis entwirft die »dyadische Struktur« des Bildes von vernehmendem und vernommenem Sinn, Wahrnehmungsakt und Wahrnehmungsinhalt, als Ineinander von Anwesenheit und Abwesenheit, das sich rein im Medium »sinnlichen Sinns« vollzieht: Das Bild ist »dasjenige, in dem und als welches das Anwesendmachen von etwas Abwesendem geschieht.« (S. 97) Der schon bei Platon vorgezeichneten »Mutation von Bildern zu Simulakren« (S. 103) setzt Sallis erst einmal die Erfahrung der »Natur« entgegen, an der sich eine Einbildungskraft auftut, die nicht leere Bilder unendlich generiert, sondern zu einem sich gegenwärtig machenden Sein hinführt. Damit kommt eine Überschreitung in den Blick, welche den schlechten Gegensatz zwischen leerem Bild und Zeichenbild, also dem bloß in seiner eigenen Leere ruhenden und dem bloß auf etwas Anderes verweisenden Bild aufhebt: Das Bild muss begriffen werden als etwas, das Gegenwärtigkeit eines Inhalts ermöglicht, ohne diesen Inhalt nur stellvertretend, zeichenhaft und damit uneigentlich zu repräsentieren. In der Kritik der neuzeitlichen philosophischen Theorie des Bildes findet Sallis dieses Problem vorgezeichnet. Sallis entwirft dagegen ein »Schema der Intentionalität«, welches seine drei Elemente »intentionaler Akt«, »Sinngehalt« und »intentionaler Gegenstand« zwar auseinanderhält, aber nicht mehr als verdinglichte, wie »innen« und »außen« sich zueinander verhaltende Räume begreift. Die »Bewegung über diesen Unterschied hinweg« (S. 116) heißt »Intentionalität«: Mit ihr ist zum Ausdruck gebracht, dass im Zusammenspiel der drei Elemente »eine Gegenwärtigung des Gegenstandes« selbst, nicht nur die Reproduktion einer bloßen Repräsentation von ihm sich vollzieht. Zugleich aber schiebt sich der Sinngehalt als »Bild« zwischen intentionalen Gegenstand und intentionalen Akt: Beides, die direkte Präsenz wie auch die bildhafte Vergegenwärtigung des Gegenstandes, ist also zusammenzudenken. Genau dafür reserviert Sallis den Begriff des »Bildes«: »Das doppelspielige, doppelzüngige Bild ist zugleich das eigene und dasjenige des Gegenstandes, doch ohne selbst geteilt oder verdoppelt zu sein. Sehen im Bild ist immer schon inmitten der und bei den Dingen; zugleich aber und ungetrennt davon gehört es einem Subjekt an und bleibt bei diesem, ohne es zu überspringen oder gar auszulöschen.

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Das Raumgeben des Bildes

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Die Gegenwärtigkeit des Selbstseins der Sache muss von der Anwesenheit der Dinge im Bild unterschieden werden, auch wenn sie sich in demselben Raum des Bildes abspielt. Sallis hält folglich »Anwesenheit« und »Sichzeigen« der Sachen im Bild als Grunddifferenz des Sinnlichen auseinander: Das Sichzeigen der Sache selbst ist gegenüber der Rede sinnlich und gegenwärtig, gegenüber der Anwesenheit des Bildgehalts aber flüchtig und nichtpräsent. In diesem Sehen wird nicht bloß das rein Gegenwärtige verzeichnet und analysiert, sondern das am Gegenwärtigen Sichzeigende hervorgebracht. Um die Grundstruktur an der Erscheinungsweise des Bildes begrifflich konkret zu machen, unterscheidet Sallis an der Bildwahrnehmung einen »Frontalhorizont« (S. 135) von einem »Seitenhorizont« (S. 137). In die anwesende Frontalsicht des Bildgegenstands als präsente Wahrnehmungsperspektive auf ihn ist demnach ein ganzer Horizont »lateraler Bilder« eingefaltet (z.B. verdeckte Seiten), der gegenüber der reinen Anwesenheit des Frontalbildes versetzt ist, zugleich aber als »Raumgeben« des Bildes dessen Gegenwärtigkeit erst bestimmt. Die Seitenbilder geben dem Ding selbst im Bild Raum, indem sie das starre, einseitige und kupierte Frontalbild in ein »Auseinander« zerlegen, das zugleich das Frontalbild »so umspannt, dass es dem Begreifen eine Öffnung auf das Ding hin, auf die Sache selbst als sie selbst bietet.« (S. 138) Erst im »Feld« (Merleau-Ponty) von Frontal- und Seitenbild als Raum zwischen der Anwesenheit des ersten und der Latenz der zweiten kann das sinnliche Sichzeigen des Dings selbst sich vollziehen. Darüber hinaus tritt jedoch, um die Konfiguration des Bildes komplett zu machen, zum Seitenhorizont noch der Umgebungshorizont als weitere Dimension latenter Einfaltung des Dings im Frontalbild. Mit diesem Begriff meint Sallis die pragmatischen und begrifflichen Kontexte, die latent in der Frontalansicht des Dings wesentlich mitschwingen. Erst im »Horizontkomplex« (S. 144) von Frontalbild, Seitenhorizont und Umgebungshorizont ergibt sich ein »Übergang jenseits des Bildes [...] zur Sache selbst« (S. 144), der zugleich ein Übergang im Raum der sinnlichen Bildwahrnehmung bleibt, weil er nicht auf ein bloß Begriffliches zielt.

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Traktive Einbildungskraft

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Wenn Sallis im ersten Teil des 5. Kapitels (S. 153–157) noch einmal alle wesentlichen Elemente der Einbildungskraft als ursprünglicher Vollzug des Sich-Zeigens der Dinge versammelt und erläutert, ist damit so etwas wie die Grundthese des Buches auf engem Raum entworfen. Zur Bedingung der sichzeigenden Selbstidentität der Sachen wird gerade der Aufschub ihrer Selbstidentität in der Präsenz: Erst in der Verbindung von Anwesenheit und Abwesenheit, von Horizontkomplex und Präsenz durch die Einbildungskraft gewinnt das Ding seine Tiefe und Dichte, in der es ganz bei sich sein kann und sich in diesem Beisichsein scheinend offenbart. Als Spiel von »protraction« und »retraction« (S. 155) konfiguriert die Einbildungskraft das Sichzeigen: indem die Horizonte so vorausgezogen und um das Ding herum gespannt werden, dass sie als entzogene den Raum der vollen Sichtbarkeit des Dings öffnen. Das gegensätzliche »Ziehen« der Einbildungskraft, die Anwesenheit hervorzutreiben und zugleich zurückzuhalten, bewirkt das »Schweben«, welches ihr vor allem im Deutschen Idealismus (Fichte, Schelling) zugeschrieben worden ist: der ständige Übergang zwischen Gegensätzen, die sie so wie Anwesenheit und Abwesenheit, Bestimmung und Bestimmungslosigkeit zusammenbindet, ohne deren Gegensatz auszulöschen. Zuletzt wendet sich Sallis gegen die Auffassung der Einbildungskraft als Vermögen eines Subjekts (S. 178–181). Als vorgängige Grundlage aller Wahrheit des Sichzeigens von Dingen und Subjekten selbst gehört sie nicht dem Subjekt zu – das Subjekt gehört vielmehr ihr zu und wird auch in seinem Sich-sich-selbst-Zeigen von der ihm vorgängigen Einbildungskraft erst ermöglicht und ins Dasein gesetzt.

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Das Elementare

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Die Frage nach der »Natur der Natur« als Hinterfragung ihres »Sinns« (S. 186) geht vom Sinn des Wortes »physis« aus, wie er sich in bestimmten Bemerkungen des Aristoteles zeigt. Demnach ist physis weder ein einzelnes Naturding noch deren additive Gesamtheit, sondern vielmehr die Art des Geschehens der Naturdinge: »der ihnen innewohnende Ursprung ihrer Bewegung«. (S. 187) In einem solchen Naturbegriff hat der empedokleische Begriff des »Elementes« Platz, an den Sallis fortan seine Überlegungen zur Natur wesentlich bindet: Die Elemente der Natur sind die ontologischen »Wurzeln«, welche die Naturdinge nähren und erscheinen lassen. Die Elemente binden und artikulieren erst die Weite des Sichzeigens der Dinge aus Anwesenheit, Seitenhorizonten und Umgebungshorizonten. Neben einer überwältigenden »Unbestimmtheit« beziehungsweise Grenzenlosigkeit kennzeichnet das Elementare vor allem eine besondere, nicht dinghaft zu denkende »Einseitigkeit« (S. 196), die mit einer besonderen Weise seiner »Tiefe« verbunden ist: »Die Seite, die ein Element zeigt, ist kein Aspekt oder Profil eines Dinges, und die Tiefe eines Elementaren birgt nicht eine Fülle anderer Profile« (S. 196), sondern vielmehr das Unauslotbare selbst. Diese radikale Nicht-Dinghaftigkeit des gleichwohl sinnlichen Elementaren wird auch durch den Umstand artikuliert, dass es keinen dinghaften Abstand und keine dinghafte Perspektive zulässt, die sich in Frontalbild und Seitenhorizont unterscheiden ließe: Im Elementaren ist man immer schon eingelassen und sein Sichzeigen eröffnet kein gegenständliches Muster der Präsenz und Abschattung. Als »Grenze der Grenze« (S. 212) fungiert das Elementare als äußerster Rand allen Sichzeigens und bildet gewissermaßen den letzten formgebenden Hintergrund, vor und in dem das Spiel des Sichzeigens von An- und Abwesenheit möglich wird.

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Zeitlichkeiten

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In diesem Zusammenhang nimmt Sallis auch eine Neubestimmung der Zeit vor, indem er nach dem »Ort (Topos) der Zeit« (S. 227) als Raum ihres Geschehens fragt. Im Gegenzug zur abendländischen Tradition von Augustinus über Kant und Husserl bis Heidegger, welche die Seele und damit die Innerlichkeit des Subjekts als Ort der Zeit bestimmt hat, versucht Sallis das Sichzeigen der Dinge als genuine Dimension von Zeitlichkeit zu erweisen. Statt der »existenzialen Zeitlichkeit« des Subjekts die »besorgte Zeit« (S. 231) der Dinge beziehungsweise »des Lichts, der Sonne, des Himmels« in den Blick zu nehmen bedeutet, am Sichzeigen zwischen Frontalansicht, Seitenhorizonten, Umgebungshorizonten und elementarem Hintergrund sowie in der zusammengehaltenen Differenz von Anwesenheit und Abwesenheit die eingefaltete Möglichkeit zeitlichen Vollzuges sichtbar zu machen, die sich aus der Gesamtkonfiguration ergibt. Gerade die Dimensionen der Abwesenheit, wie sie sich im Seiten- und Umgebungshorizont in das Sichzeigen der Dinge einfügen, werden dabei zum Ort der Entfaltung von Zeit: die »Seitenbilder, die Aspekte dessen sind, was zu anderer Zeit in die Anwesenheit gelangen könnte« (S. 234), und die Umgebungshorizonte, für die vor allem der »instrumentelle Charakter« (S. 235) des Dings eine Fülle zu zeitlichen Vorgängen des Gebrauchs in sich fasst. Dergestalt wird die Einbildungskraft als die Kraft, durch welche das Sichzeigen sich vollzieht, zum eigentlichen Organ von Zeitlichkeit – eine Bestimmung, die in der idealistischen Tradition einen festen Platz hat und die Sallis hier wiederaufnimmt.

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Eigentümlichkeiten

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Im achten Kapitel bezieht Sallis die Konfiguration des Sichzeigens der Dinge auf das Subjekt und sein Verhältnis zum Sichzeigen zurück. Das »Auffassen« des Sichzeigens benötigt von Seiten des Subjekts gleichermaßen »Abstand« wie »Zugehören zur elementaren Konfiguration des Sichzeigens des Dings« (S. 243), wobei Sallis die Komponente der Zugehörigkeit weitaus stärker betont. Das Subjekt steht damit den sichzeigenden Dingen nicht wie ein äußerlicher Beobachter gegenüber, sondern ist als »Ort«, an welchem sich »das Sichzeigen des Dings versammelt« (S. 244), immer schon in die vorgängige Verbundenheit der »Gabe« gestellt, mit dem es den sichzeigenden Dingen zugehört. Gleichwohl bleibt das eigene Sichzeigen von Subjekten noch von dem der Dinge zu unterscheiden: Denn Subjekte besitzen die Eigentümlichkeit, ihr Eigensein im Zeigen auch stets sich selbst zu zeigen, also ein unhintergehbares Selbstverhältnis im Sichzeigen zu manifestieren. Antithetisch dazu markiert Sallis zugleich den vorgängigen Selbstentzug des Subjekts, das in einer stets vorausliegenden Voreingenommenheit von sich gründet, die sich nicht so zeigen lässt, dass sie mir selbst manifest werden kann (S. 255). Wieder muss von der Szene des Sichzeigens der Dinge ausgegangen werden: Nur in diesen ist sich das Subjekt von diesen her selbst gegeben, nicht in der vermeintlich autonom-reflexiven Rückwendung auf sich. Als Rückerschließung des Sehenden reflektiert jedes Ding im Sichzeigen den, der es erblickt; der »Ort des Sehenden unter den Dingen« wird in der Szene des Sichzeigens der Dinge manifest.

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Poetische Einbildungskraft

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Das Hervorbringen (poiesis) der Einbildungskraft, so ist bisher festgestellt, ist weder reproduktiv (im Sinne der Verdopplung eines unabhängig ihrer Produktion Vorhergehenden) noch produktiv (im Sinne bloß willkürlichen Hervorbringens): Sie ist das Ziehen in ein Sichzeigen hinein, das zugleich ursprünglich und andenkend ist. Was aber macht nun die besondere künstlerische Einbildungskraft aus, welche Art des Hervorbringens kennzeichnet sie? Im Anschluss an Coleridges Unterscheidung von primärer Einbildungskraft, sekundärer Einbildungskraft und Phantasie macht Sallis zwei wesentliche Momente der poetischen Einbildungskraft aus: 1. In der Hervorbringung des Werkes durch die Einbildungskraft gewinnt diese einen Überschuss sowohl über das verfügbare, bewusste Wissen der Herstellung als auch über die Selbstmächtigkeit des Subjekts als hervorbringendes. Damit ist das Moment des »Genies« bezeichnet, das Sallis als notwendige Folge des Ziehens in das Sichzeigen reaktiviert. 2. Nicht nur das Werk wird durch die Einbildungskraft hervorgebracht – einmal produziert, bringt das Werk durch Einbildungskraft selbst hervor. Kunstwerke erzeugen eine eigene »Erschlossenheit« (S. 271): Damit kritisiert Sallis die Reduzierung künstlerischer Vergegenwärtigung sowohl auf die »Mimesis« bloßer Verdopplung eines Individuellen als auch auf die »Darstellung« allgemeiner Ideen im Besonderen (S. 272). Vielmehr wird die Selbstbezüglichkeitsthese des Kunstwerks ins Zentrum gerückt: Kunstwerke erschließen die »Weite des Sichzeigens« selbst (S. 273). In und durch Kunstwerke wird in der »Wende des Sichzeigens zurück auf sich selbst« (S. 274) sichtbar, wie Scheinen als solches manifest werden kann, das heißt wie der Vollzug des Sichzeigens in der Einbildungskraft selbst sich zeigt.

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Fazit

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John Sallis’ Philosophie der Einbildungskraft ist keine bloße Philosophie- oder Begriffsgeschichte der Imagination, wie der lapidare Titel vermuten lässt. Zwar kann man ihren philosophiehistorischen Ort ziemlich präzise angeben: Sallis schließt in Vorgehensweise und Terminologie deutlich und grundsätzlich an Husserls, Sartres (hier vor allem an dessen phänomenologische Psychologie der Einbildungskraft) wie auch Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung an. Gleichwohl ist bereits in diese »Ortsangabe« eine Irritation einzutragen. Denn daneben wird die historisch gleichfalls aus der phänomenologischen Philosophie hervorgehende Dekonstruktion vor allem Derridas von Sallis sowohl im Stil als auch in bestimmten Denkfiguren zusätzlich herangezogen, um das Denken der »Anwesenheit« der Wirklichkeit im Wahrnehmungsvollzug um die Dimensionen zu erweitern, die in dekonstruktivistischer Sicht Effekte des Zeichengeschehens sind: Verzögerung, Aufschiebung, Zerstreuung, Ausbleiben, Unterbrechen, Umweg. Ziel ist es dabei jedoch nicht, alte Dichotomien wieder hervorzuzaubern und sie zu zementieren: Worauf Sallis zielt, ist nichts weniger als eine umfassende Theorie dessen, wie sich uns Wirklichkeit in der Wahrnehmung wie im Bild zeigt – zusammen mit der Begründung der These, dass sich Wirklichkeit uns wahrhaft und umfassend zeigen kann und immer schon zeigt. 1 Die »dekonstruktivistischen« Elemente des Sichzeigens von Wirklichkeit, mit denen Husserls Überlegungen zur »Abschattung« der Wahrnehmung aufgenommen und differenziert werden, treten gerade dafür ein zu begründen, wie wir immer schon abkünftig von einer Wirklichkeit sind, die sich uns seit jeher auf die Tiefe ihrer Wahrheit hin geöffnet hat. Kein bloßer Schein, hinter dem das Ansichsein der Dinge unendlich verschwindet; keine Relativität des sozial gesteuerten Blicks, die Dinge ständig anders konturiert und zu bloßen Leinwänden ihrer Pathologien macht; keine Theorie der vielfältigen Medien, die uns die Dinge filtern und entstellen. Sallis ist daran gelegen aufzuzeigen, inwiefern eine phänomenologisch grundierte Analyse der Gegenwärtigkeit und Wahrhaftigkeit der Wirklichkeit in der Wahrnehmung um eine Begrifflichkeit für die Dimensionen der Latenz und der »anwesenden Abwesenheit« erweitert werden muss, um das Sichzeigen der Dinge zu erfassen. Deshalb wird die Einbildungskraft als Kraft, in der »Schwebe« zwischen Anwesenheit und Abwesenheit, Subjekt und Welt, Vergangenheit und Zukunft et certera nichtreduzibel zu vermitteln, zum hervorragenden Organ der Wahrnehmung – und zwar ganz bewusst in Abkehr von subjektorientierten Theorien der Imagination und hin zu einer Theorie der Einbildungskraft, welche diese als dem Subjekt vorgeschaltete, es fundierende und es erst als Subjekt dasein lassende Kraft denkt. Die Philosophie der Präsenz der Welt in der Wahrnehmung wird so erweitert um Dimensionen des Verschwindens, die als gegenstrebige zugleich an der vollen Gegenwart der Dinge beteiligt sind, indem sie jede einfache Anwesenheit unterlaufen – der zentrale Gedanke des ganzen Buches, den Sallis an einer Fülle von Bausteinen (Philosophie des Bildes, der Natur, der Kunst, des Subjekts, der Zeit, des Raumes et cetera) zu durchdenken und zu verbinden sucht.

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Ungewöhnlich und einzigartig, für manchen Leser sicher aber auch gewöhnungsbedürftig ist neben den dekonstruktivistischen Stilfiguren des Poetisierens der Theorie sowie des Aufschiebens und Umgehens der eigenen Argumentation, die einige Geduld fordert, auch der hermeneutische Umgang mit literarischen Texten: An einigen Stellen des Buches entwickelt Sallis exemplarisch seine Argumentation an lyrischen oder dramatischen (zumeist shakespeareschen) Werken. Damit wird das Genre des rein argumentativen Traktats eben so aufgebrochen wie mit den protreptischen Naturbeschreibungen, in denen Sallis den Leser immer wieder zur imaginativen Probe anleiten und abholen möchte und die philosophisch an Heideggers Mythisierung der Naturelemente anschließen, um die Evidenzerfahrung des unentstellten Daseins der Dinge in der Erfahrung aufzuweisen. Hochinteressant, gelehrt und überaus erhellend durchziehen das Buch außerdem immer wieder Passagen, in denen Sallis Geschichten philosophischer Begriffe und Vorstellungen, bevorzugt an Platon, Aristoteles, Kant, Hegel, Husserl und Heidegger entlang entwirft und liebgewordene Deutungen problematisiert. Dass ein solches Gemisch – bei aller angestrebten und auch wirklich erreichten Klarheit der Argumentation des Buches – vom Leser einiges verlangt, dürfte allein aus der Aufzählung klar geworden sein. Bei Sallis wird so deutlich, dass ein längstmögliches (wenn auch nie distanzlos-blindes) Festhalten an der Demut des hermeneutischen »principle of charity« für manche Bücher eine durchaus lohnenswerte Einstellung sein kann – oder umgekehrt: dass eine durch überprofessionalisierte Lektürehaltungen eingeübte, allzu voreilige pseudokritische Abneigung gegen das Nicht-Normierte dort fühlbar an ihre engen Grenzen kommt, wo ein bestimmter Individualstil nicht mit der Geduld ertragen wird, die er einfordert und eben manchmal auch mit Gewinn vergütet. Eine bestimmte Normierung des Wissenschaftsstils in den Kulturwissenschaften auf einen möglichst blassen, technizistischen Ausdruck und die immerselben kartellbildenden Begriffsschablonen auf der einen Seite, und wirr strukturierte, ungenau gedachte, begrifflich hypertrophe und mit ungelenker poetischer Anstrengung nur mühsam kompensierte Geniesimulationen auf der anderen Seite machen die schlechten Extreme aus, unter die sich leider zu viele Qualifikationsschriften einreihen; Sallis’ genaue, individuelle, immer am Gegenstand ausgerichtete und klare Sprache entgeht beiden auf wohltuende Weise.

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Belohnt wird der Leser so mit einem der interessantesten und ungewöhnlichsten philosophischen Werke der letzten Jahre, welches einem zentralen Diskussionsfeld der Kulturwissenschaften der Gegenwart, der Frage nach der Präsenz und Welthaltigkeit unserer Perzeptionen, Erfahrungen und Begriffe 2 , mit beeindruckender philosophischer Tiefenschärfe neue Facetten abgewinnt und dabei einen ganz unverwechselbaren, individuellen Ton des Nachdenkens findet.

 
 

Anmerkungen

Vgl. Lambert Wiesing: Das Mich der Wahrnehmung. Eine Autopsie. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2009.   zurück
Vgl. bspw. Hans Ulrich Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2004; ders.: Unsere breite Gegenwart. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2010; Martin Seel: Die Macht des Erscheinens. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2007; Dieter Mersch: Posthermeneutik. (Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Sonderband 26) Berlin: Akademie-Verlag 2010.   zurück