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Die dunkle Seite der Empathie

  • Fritz Breithaupt: Kulturen der Empathie. (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1906) Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009. 204 S. Paperback. EUR (D) 10,00.
    ISBN: 978-3-518-29506-9.
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In seinem Hauptwerk Kontingenz, Ironie und Solidarität verknüpfte Richard Rorty die Ausbildung gesellschaftlicher Solidarität aufs Engste mit der empathischen Anteilnahme am Leiden anderer: »Solidarität wird [...] dadurch geschaffen, dass wir unsere Sensibilität für die besonderen Einzelheiten des Schmerzes und der Demütigung anderer, uns nicht vertrauter Arten von Menschen steigern.« 1 Diese Sensibilisierung sollte dabei insbesondere durch die Lektüre solcher literarischer Texte bewirkt werden, welche den Leser mit den bislang unbeachteten Leiden anderer Menschen zu konfrontieren vermögen. Im Sinne einer Verminderung von Grausamkeit und einer fortwährend erweiterten Form von Solidarität ergab sich in den Augen Rortys die empathische Mission, »daß wir immer weiter daran arbeiten müssen, unser Verständnis des ›Wir‹ so weit auszudehnen, wie wir nur können« (S. 316), um damit Schritt für Schritt beizutragen zu »der Erschaffung eines immer größeren und bunteren ethnos« (S. 319).

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Regulierte Empathie

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In seiner Studie Kulturen der Empathie formuliert der Literaturwissenschaftler Fritz Breithaupt nun eine Grundannahme, die sich diesem expansivem Empathie-Modell klar widersetzt. Im Gegensatz zu der dehnbaren Solidarität à la Rorty, die immer mehr Individuen und Gruppen zu umfassen bestrebt ist, verweist er nämlich mit großem Nachdruck gerade auf die inhärenten Grenzen und Beschränkungen jeglichen empathischen Verhaltens:

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Empathie, das Verstehen der anderen, kommt nur zustande, weil unsere emotionale Aufmerksamkeit anderen gegenüber gestaut, blockiert und gefiltert wird. Ohne eine derartige (Teil)Blockade würden wir in einer Welt fortwährenden Perspektivenverlusts leben, in der wir unwillkürlich die Perspektiven aller anderen Menschen und darüber hinaus auch der Tiere, der Fabelwesen und Dinge einnehmen müssten. Erst das Filtern des empathischen Rauschens, das Kanalisieren und Blockieren erlaubt uns die Illusion einer Innensicht der anderen. (S. 12)
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Die von Foucault beschworene Angst vor dem »großen unaufhörlichen und ordnungslosen Rauschen des Diskurses« 2 wird bei Breithaupt also umgedeutet zu einer Angst vor dem ›empathischen Rauschen‹, die nach Formen der Regulierung und Kontrolle geradezu schreit. Um nicht im unendlichen Meer der Ein- und Mitfühlmöglichkeiten unterzugehen, müssen Selektionsmechanismen entwickelt werden, die Empathie weniger zum Regel- als zum Sonderfall werden lassen und die tatsächlichen Fälle der Perspektivenübernahme in ihrer Häufigkeit auf ein zu bewältigendes Maß limitieren. Dieses Argument der begrenzten Empathie-Kapazitäten leuchtet unmittelbar ein und wirft doch gleichzeitig die Frage auf, wie die dadurch gebotene Selektion konkret zustande kommt, sprich, für wen Empathie nun eigentlich reserviert wird.

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Parteiische Empathie

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Breithaupt gibt in diesem Punkt eine gleichermaßen originelle wie gewagte Antwort, wenn er statuiert, dass Empathie im Wesentlichen denjenigen vorbehalten bleibt, deren Partei man zuvor ergriffen hat:

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Weil sich einer in einem Konflikt für den einen und nicht den anderen entscheidet, ist er genötigt, seine Entscheidung zu begründen und zu legitimieren. Empathie, Mitgefühl, Mitleiden erweisen sich [...] als beste Strategien, die eigene Entscheidung zu rechtfertigen und zu festigen. (S. 16)
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Empathie ist laut Breithaupt also nicht die Voraussetzung, sondern im Gegenteil die Folge einer Parteinahme ─ eine Umkehrung, die dem gängigen Verständnis von Empathie diametral entgegengesetzt ist. Allerdings lässt dieses überraschende konzeptuelle Manöver den leisen Verdacht aufkommen, dass damit die entscheidende Frage womöglich weniger beantwortet als vielmehr verschoben wird, denn fragte man sich vorher: Empathie für wen? so fragt man sich nun: Parteinahme für wen?

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Dass »jede Parteinahme auf einer freien Entscheidung beruht« (S. 156 f.), darf aufgrund der Einbettung allen Handelns in soziale Strukturen wohl in Zweifel gezogen werden, und auch die Vermutung, dass bei der Beobachtung eines Konflikts die Passivität des Schwächeren beziehungsweise des Leidenden der Passivität des Beobachters strukturell ähnelt und dadurch letzterer sich tendenziell eher auf die Seite des Opfers schlagen wird (vgl. S. 159), wirkt angesichts des aktiven Charakters jeder Beobachtung nicht völlig überzeugend. Sehr plausibel ist in diesem Zusammenhang allerdings Breithaupts These, dass Empathie einen dezidiert narrativen Charakter besitzt, der im Rahmen von Parteinahmen die Form von unter Umständen sehr komplexen Rechtfertigungs- und Legitimationserzählungen annimmt. Wo eben solche Narrationen erfolgreich ansetzen und sich fortspinnen können, etwa weil dafür schon attraktive Muster angeboten werden, dort wird man auch stärker mit Parteinahmen und empathischer Teilnahme rechnen dürfen. »Sich selbst als lesbar zu präsentieren« (S. 161) wird somit zur Hauptaufgabe von potenziellen Empathieempfängern, deren Chancen auf Unterstützung gemeinsam mit den Ansatzmöglichkeiten ansteigen, die sie unterschiedlichen Narrationen anzubieten vermögen.

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Grausame Empathie

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Literatur, dies stellt Breithaupt unter anderem am Beispiel von Fontanes Effi Briest anschaulich dar, bietet in diesem Zusammenhang ein weites Betätigungs- und Übungsfeld, bietet sie doch einerseits selbst ein umfassendes Arsenal verschiedenster empathischer Narrationen an und eröffnet andererseits mannigfaltige Konstellationen, in denen der Leser seinerseits als aktiver empathischer Narrateur aufgerufen wird. An diesem Punkt setzt auch die wahrscheinlich provokanteste These des Buches ein, wird doch behauptet, dass sich der Leser das ungerechtfertigte Leiden und die grundlose Verkennung der Figuren insgeheim sogar wünschen müsse, da erst diese ihm die Gelegenheit geben, die empathischen Leerstellen des Textes mit seinen eigenen Narrationen zu füllen. Die empathische Lust am Text ist folglich im Kern eine grausame Lust, welche sich am Los der Erniedrigten und Beleidigten ergötzt, auch und gerade wenn sie deren Partei ergreift. Dehnt man nun aber diese Erkenntnis von der Rezeption von Literatur auch auf die Beobachtung von Konflikten allgemein aus, dann steht Empathie nicht wie noch bei Rorty im Zeichen verminderter Grausamkeit, sondern vielmehr im Zeichen fortgesetzter oder gar erweiteter Grausamkeit. Empathie, so wie Breithaupt sie konturiert, verliert mithin ihren ethischen Anstrich, ihr sozialer Charakter tritt hinter ihren egoistischen Charakter klar zurück.

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Fazit

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Breithaupts Buch stellt eine äußerst thesenreiche und inspirierende Auseinandersetzung mit den in (literatur-)wissenschaftlichen Diskursen oft unreflektierten Spielarten der Empathie dar, die darüber hinaus auch noch sehr unterhaltsam geschrieben ist. Selbst die gelegentlichen Ausflüge in das Gebiet der Neurologie und Evolutionsbiologie, die für einen Literaturwissenschaftler sicher nicht ganz risikolos sind, gliedern sich nahtlos in den Aufbau der gesamten Studie ein, deren Resultate an jedem Kapitelende pointiert und übersichtlich zusammengefasst werden. Dies erleichtert sowohl den Nachvollzug der einzelnen Schritte der Argumentation als auch den Abgleich der verschiedenen Teile untereinander. Außerdem wird hierdurch auch die Möglichkeit einer partiellen Lektüre unter kognitionswissenschaftlichen oder literaturwissenschaftlichen Vorzeichen geschaffen, die Breithaupt in seiner vorangestellten »Gebrauchsanweisung« (S. 17) explizit anregt.

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Nicht ganz eingelöst wird dagegen das Versprechen, das der Titel des Buches gibt: Von ›Kultur‹ ist eher nur am Rande die Rede, eine ausführliche Dar- und Gegenüberstellung unterschiedlicher ›Kulturen der Empathie‹ wird man darin kaum finden. Gerade aber die Frage, welche kulturellen Rahmenbedingungen welche Formen von Parteinahme und Empathie begünstigen beziehungsweise erschweren, verspricht interessante Aufschlüsse. Für die Gewinnung entsprechender Erkenntnisse liefert Breithaupts Buch nun eine fundierte Grundlage, lässt dabei aber auch noch viel Raum für konkrete Fallstudien. Das große Verdienst, die dunkle Seite der Empathie erhellt zu haben, bleibt der Studie aber allemal. Als bloßer »Kitt, der die Gemeinschaft zusammenhält«, wie es im zugehörigen Klappentext noch heißt, wird man Empathie nach der Lektüre von Breithaupts Buch jedenfalls künftig nicht mehr so einfach abtun können.

 
 

Anmerkungen

Richard Rorty: Kontingenz, Ironie und Solidarität. Übersetzt von Christa Krüber. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1992, S. 16.   zurück
Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. Aus dem Französischen von Walter Seitter. Frankfurt/M.: Fischer 1991, S. 33.   zurück