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Ein weites Feld: Erkundungen von Kanones
im »Zeitalter der Aufklärung«

  • Anett Lütteken / Matthias Weishaupt / Carsten Zelle (Hg.): Der Kanon im Zeitalter der Aufklärung. Beiträge zur historischen Kanonforschung. Göttingen: Wallstein 2009. 248 S. 16 s/w Abb. Broschiert. EUR (D) 29,00.
    ISBN: 978-3-8353-0446-8.
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Unter dem Titel »Der Kanon im Zeitalter der Aufklärung« versammelt der vorliegende Band zehn Tagungsbeiträge, die aus der gleichnamigen Auftaktveranstaltung der Trogener Bibliotheksgespräche hervorgegangen sind. Erklärtes Ziel des Herausgeberteams ist es, im Anschluss an »empirische und literaturgeschichtliche Methodenvorgaben« der deskriptiv-historisch akzentuierten Kanonforschung »die Konstitutions-, Legitimations- und Funktionsfragen unterschiedlicher Kanones und divergenter Kanonisierungspraktiken im 18. Jahrhundert« (S. 8) in den wissenschaftlichen Fokus zu rücken.

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Terminologische Klärungen,
methodologische Herausforderungen

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Der umfangreiche Eröffnungsbeitrag von Klaus Manger über »Bestseller des 18. Jahrhunderts. Ein Überblick« (S. 17-45) dient als »eine Art Einführung in das Thema« (S. 23) und offeriert einen detailreichen Parcoursritt durch die deutschsprachige Bestsellerliteratur des 18. Jahrhunderts. Manger spannt den Bogen von aufschlussreichen Exkursionen in die Frühgeschichte des Kanongedankens in der Antike 1 über berühmte Fehden im Feld der Literaturkritik bis hin zu Ausblicken in Lektüre- und Leselisten der Gegenwart. Aufgrund der ontologisch-generativen Dynamik kultureller Erneuerung führen auch die in bester Absicht normativ akzentuierten Kanondebatten mit kulturkritischem Impetus nicht dazu, den Funktionswandel der Literatur oder anderweitige vermeintliche Kulturverluste revidieren zu können. Einer Annahme, der literarische Kanon sei abgelöst worden durch die »Sportart« des Ranking, hält Manger zu Recht die prinzipielle Differenz von klassischem literarischen Kanon und Bestsellern und Rankinglisten entgegen. Der literarische Kanon sei »eigentlich eine Komplexität von Höchstleistungen«, die »nicht nur aus Imitationen, sondern aus Aemulationen« (S. 20) resultiere und sich in dem wechselseitigen, wetteifernden Nachahmen von Vorbildern einer rivalisierenden Überbietungsrhetorik bediene. Unter einem solchem Blickwinkel stellt sich die Geschichte der deutschen Literatur als eine der literarischen Tradierungen, Beerbungen, Absorptionen, Intertextualitäten und Transformationen von Stoffen, Themen und Formen dar, wie sich nicht nur am Beispiel von Homers Odyssee zeigen ließe. Berechtigten Differenzierungsbedarf sieht Manger auch in Bezug auf den Gebrauchs- und Marktwert eines Textes und dessen ästhetisch-literarischen Wert: Weder kann von einer hohen Druck- und Auflagenhöhe eines Werkes unmittelbar auf dessen kanonische Geltung geschlossen werden, noch muss der kanonische Rang eines Textes sich zwangsläufig in Verkaufszahlen niederschlagen.

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Die den Aufklärern zu verdankende nationale Entgrenzung und Universalisierung von Literatur, aber auch veränderte Konstellationen von Leser, Autor und Publikum und vielfältige Neuerungen von Darstellungs- und Organisationsformen im literarischen Feld zogen veränderte Kunst- und Wert(ungs)maßstäbe sowie zum Ende des Jahrhunderts »[b]reitangelegte Bemühungen um eine entsprechende Geschmackshebung und Publikumsbildung« nach sich (S. 28). Ein Großteil des Publikums zeigte sich davon bekanntlich unbeeindruckt und frönte statt schwer verdaulichem Kunstgenuss anspruchsloserem Unterhaltungskonsum, bestehend etwa aus Schauer- und Räuberromanen von Spieß, Cramer oder Vulpius, Schauspielen Ifflands und Kotzebues und zahlreichen Romanen, deren Erfolgsrezept Manger vor allem im »Ausloten anthropologischer Dispositionen« (S. 41) sieht. Mangers Beobachtung, die »Spuren« der zeitgenössischen Bestseller hätten sich im Gegensatz zu den »Maßstäbe setzenden Werke[n]« verloren und seien »heute nur noch Fachleuten« bekannt (S. 29), trifft sicher zu, unterschlägt allerdings die Bedeutung institutionalisierter Fachgemeinden, welche mit ihrem Theorie- und Methodenrepertoire, mit Kanonisierungsmedien und Archiven für entsprechende Inklusion und Exklusion sorg(t)en (man denke etwa an literaturwissenschaftliche Kommentare, Literaturgeschichten, Lexika u.a.).

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Die eigentlichen Spitzenbestseller im 18. Jahrhundert sind im Bereich der Ratgeberliteratur zu situieren, allen voran Rudolph Zacharias Beckers Noth- und Hülfsbüchlein. Angesichts der Masse an periodischer Literatur, für deren Distribution Leihbibliotheken und Lesegesellschaften sorgten, und der Vielzahl von Gattungen, wie etwa Bekenntnisliteratur, Haus- und Familienbücher, Autobiographien und Biographien, Märchen und Sagen, Robinsonaden und Reiseliteratur sowie der von Manger exponierten »neue[n] Gattung der Werkausgabe« (S. 43), ist der Eindruck von »Uferlosigkeit« (S. 41) und »Waghalsigkeit« (S. 45) eines Unterfangens, das »nur als Prokrustesbett zu bewältigen« (S. 42) sei, verständlich, zumal aufgrund fehlender statistischer Daten über »die Verbreitung der auctores classici der Antike oder der europäischen Nationalliteraturen im 18. Jahrhundert« die Frage nach Bestsellern des 18. Jahrhunderts ohnehin nur annäherungsweise beantwortet werden kann. Künftige historisch-empirisch angelegte Untersuchungen zu Bestsellern im 18. Jahrhundert (und des 18. Jahrhunderts) hätten, wie Manger als Fazit und Ausblick festhält, mit Hilfe »stärker quantifizierender Verfahren« weitere Ergebnisse »nicht nur punktuell, sondern auch in der Breite auf verlässlichere Grundlagen« (S. 45) zu stellen.

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Um Fragen »Zur Formation eines englischen Kanons für die Deutschen im 18. Jahrhundert« (S. 46-62) geht es in dem Beitrag von Rainer Baasner. Für den Prozess der Kanonbildung hatten zum einen die zunehmenden Übersetzungen sowie die Anregungen aus regionalen »Kristallisationsorten« (S. 51) vor allem aus dem nördlichen deutschen Reichsgebiet große Bedeutung, zum anderen Selektions- und Bewertungsstrategien in poetologischen Lehrbüchern. So sind einige Jahre nach Gottscheds bekannten Abwertungs- und Einschränkungsversuchen in seinem Versuch einer Critischen Dichtkunst (1730) Bemühungen um die Aufwertung englischer Literatur etwa in Johann Elias Schlegels 1747 verfassten Aufsatz Gedanken zur Aufnahme des dänischen Theaters erkennbar, in dem der Verfasser mit unverdächtig formulierten Positionsbestimmungen zum englischen Theater im Sinne einer multiplikatorischen und popularisierenden Vermittlungsleistung die »hochgesteckten Auseinandersetzungen um prinzipielle Kanonvorrechte unterläuft und sich der unvoreingenommenen Urteilsbildung der Zeitgenossen anempfiehlt.« (S. 50)

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Empirisch besehen bewegt sich eine auf englische Literatur in Deutschland bezogene Kanonkonstruktion für das 18. Jahrhundert als »wenig erforschte Formationsphase eines deutschen Bildes von englischer Literatur« auf unsicherem Terrain, zumal konkrete Anhaltspunkte wie z.B. »eine Geschichte der englischen Literatur für das große Publikum« oder Curricula des Englischunterrichts in Schulen fehlen. Fundierte und ausbaufähige Ansatzpunkte sieht Baasner indes in der bislang zu wenig beachteten Verbreitung von Selektionskriterien durch die »Metakommunikation der Literaturkritik« (S. 52 f.), in der Untersuchung von in Deutschland zusammengestellten englischen Anthologien 2 und explizit in den der Britannien-Vermittlung gewidmeten Rezensionszeitschriften, z.B. die von Karl Wilhelm Müller herausgegebene Brittische Bibliothek (1757-1763) oder Johann Joachim Eschenburgs sechsbändiges Brittisches Museum für die Deutschen (1777-1780), fortgesetzt als Annalen der Brittischen Litteratur vom Jahr 1780 (1781) (S. 54). Eschenburgs Lehrbuchprojekt Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften (1783) repräsentiert nach Baasner den »Entwicklungstand der poetischen Reflexion in Deutschland« zum Ende des 18. Jahrhunderts (S. 55). Auf Eschenburg zurückzuführen sei zudem das Verdienst einer Aufwertung englischer Poesie durch die »systematische Integration englischer Literatur in ein deutsches Tableau von Literarhistorie und Poetologie« (S. 54), freilich bei gleichzeitiger Inkaufnahme einer minderen Berücksichtigung und Bewertung französischer Schriftsteller. Am Beispiel des Dramas zeigt Baasner die Wende zum englischen Vorbild ausführlich auf und illustriert, wie mit Hilfe von »Umwertungen« (S. 58) und rhetorisch geschickten Argumentationsstrategien, zu denen u.a. der Verzicht »auf jegliche Shakespeare-Manie« (S. 59) gehörte, Eschenburg »an der französischen Traditionsbildung vorbei einen neuen englischen Kanon« (S. 59) etablierte, dem englischen Drama zu einem neuen Stellenwert im poetologischen Diskussionsfeld verhalf und damit eine Kanonbildung der englischen Literatur in Deutschland beförderte.

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Mit dem Beitrag »Der Kanon der Blumenlesen« (S. 63-88) widmet sich Anett Lütteken einer Sammelpublikation, für die sich aufgrund ihres im Vergleich zur explosionsartigen distributiven Entwicklung im 19. Jahrhundert noch einigermaßen übersichtlichen Quellenkorpus – in der Tat hatten die Herausgeber von Blumenlesen, Anthologien und Chrestomathien im 18. Jahrhundert noch »eher den Mangel als die Fülle zu verwalten« (S. 65) – eine empirisch gestützte Fallstudie angeboten hätte. Es bleibt allerdings vorerst beim Konjunktiv, da die Verfasserin sich auf die Andeutung des »Problemhorizont[es]« beschränkt (S. 65) und es bei Hinweisen auf erforderliche Untersuchungen z.B. zu Fragen literarischer Wertung und zur Rekonstruktion von Diskursen belässt. Der Beitrag skizziert zunächst die in aufklärerischer Absicht betriebenen Modifikationen, welche im Laufe des 18. Jahrhunderts »an den viel älteren und in schulischen Zusammenhängen omnipräsenten Gattungsvorläufern« vorgenommen wurden. Anhand informativer Beispiele zeigt Lütteken die begriffliche und funktionale Vielfalt der Gattung auf, die keineswegs auf die Selektion und Präsentation literarischen Wissens beschränkt war, und fasst den Funktionswandel der Blumenlesen im frühen 18. Jahrhundert unter den Stichworten Redefinierung und Poetisierung zusammen (S. 69). Ausschlaggebend für die Ablösung des antiken Literaturkanons durch deutschsprachige Musterschriftsteller und den forciert einsetzenden »literarischen Verdrängungswettbewerb« (S. 71), der etwa Logau, Wernicke, von Canitz, Geßner und Klopstock »in direkte Konkurrenz zu Horaz und Martial« treten ließ (S. 70), wurde nicht zuletzt das »stark empfundene Bedürfnis […], die antike Literatur in die Nationalsprache zu transponieren und sie derart vor allem nachzuahmen« (S. 69).

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Die zunehmende Produktion und Distribution von Blumenlesen resultierte nicht nur aus einem expandierenden Bildungsbedürfnis, sondern auch aus Möglichkeiten und Erfordernissen des sich ausdifferenzierenden literarischen Marktes. Hier zeigte sich die regionale Diversifizierung von Literatur als Übergangsphänomen u.a. in Form von Sammlungen, die angesichts der Qualität der in ihnen versammelten Texte häufig über den Bewertungsstatus des ›Provinziellen‹ kaum hinausreichten, jedoch der Pflege »regionaler Kontaktnetz[e]« und Konstruktionsversuchen autonomer Literaturgeschichte dienten, wie Lütteken am Beispiel einer schweizerischen Blumenlese aufzeigt. Dass die Prinzipien der Auslese dabei nur selten eindeutige und ästhetische Auswahl- und Wertungskriterien erkennen ließen und sich mancher Anthologist und/oder Lesebuchherausgeber der Werbung in eigener Sache befleißigte, stieß im Übrigen nicht nur im 18. Jahrhundert, sondern noch Anfang des 20. Jahrhunderts auf entsprechende Kritik. 3 Mit dem Blick auf das »Album Amicorum« bzw. Stammbuch als »Komplementärquelle« zu den gedruckten Sammlungen greift Lütteken abschließend den für die Kanonforschung wichtigen Ansatz auf, der Bedeutung von Kanonliteratur im lebensweltlichen Zusammenhang ihrer Rezeption 4 nachzugehen.

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Unter dem Titel »Eschenburgs Beispielsammlung – ein norddeutsch-protestantischer Kanon?« (S. 89-111) geht der instruktive Beitrag von Carsten Zelle nicht etwa der im Titel enthaltenen rhetorischen Fragestellung nach, sondern zeigt am Detail auf, inwiefern der in Johann Joachim Eschenburgs umfänglichem Werk »beschreibbare deutschsprachige Subkanon im Rahmen einer umfassenden, nach Gattungen sortierten europäischen Kanonanthologie« nur vor dem Hintergrund der »in die Tiefe des 18. Jahrhunderts zurückreichenden […] Vielfalt von Kanonisierungsprozessen, ‑medien und ‑instanzen« angemessen eingeordnet und interpretiert werden kann (S. 93). Eschenburg baute seine achtbändige Beispielsammlung zur Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften (1788-1795), die als monumentales Anthologieprojekt zur Illustration seines Entwurfs einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften (1783) diente, auf der Grundlage eines rhetorischen Literaturbegriffs auf, nach dessen Maßgabe sich die »schönen Wissenschaften« in die zwei großen Teilbereiche der Poetik bzw. »Poesie« einerseits und die Rhetorik bzw. »Prose« andererseits unterteilten und in eine weit verzweigte Gattungssystematik mündeten. Auslassungen und scheinbare Marginalisierung von Gattungen sind somit nicht als Zeichen von Negativbewertung zu deuten, sondern lassen sich, wie Zelle nachweist, mit der »Taxonomie« (S. 100) des zugrunde gelegten Gattungssystems erklären und auf pragmatische Gründe einer organisatorisch bedingten Notwendigkeit der Stoffbegrenzung zurückführen.

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Im organisierenden Prinzip der Beispielsammlung sieht Zelle den Ausgangspunkt für ihre schwierige Einschätzbarkeit aus heutiger Sicht, insofern Eschenburg noch nicht »die identitätsstiftenden Muster einer ›Nationalliteratur‹, sondern de[n] ›Architext‹, d.h. das gelehrte Wissen um literarische Formen des europäischen Literaturensembles und dessen gegebenenfalls bis auf die Antike zurückgehenden Traditionsbestände« vor Augen hatte (S. 106). Die Zugehörigkeit Eschenburgs zu der »Wissensformation der frühneuzeitlichen Gelehrtenkultur« manifestiert sich in der Anlage seines Anthologieprojektes, das »noch prinzipiell international, übernational und interkulturell« und »von der Überlieferung der klassischen Tradition« geprägt war (S. 108 f.). Zelle plädiert zusammenfassend mit Berechtigung dafür, Eschenburgs Beispielsammlung »in den Zusammenhang einer umfassenden, historischen Kanontypologie« zu stellen (S. 106) und den Funktionswandel des literarischen Kanons im 18. Jahrhundert im Rahmen eines »komplizierte[n] Umbauprozeß[es] zwischen alten, gelehrten und modernen, identitätsbildenden Kanones« (S. 110) stärker als bisher in den Fokus der historischen Kanonforschung zu rücken.

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Leselisten, Literaturempfehlungen,
Lektürebiographien

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Anne Hegemann unternimmt mit ihrem Aufsatz zu »Linas Kanon – Leseempfehlungen für das weibliche Geschlecht bei Sophie von La Roche« (S. 112-145) den Versuch, sich ausgehend von einem 1998 von Renate von Heydebrand benannten Forschungsdesiderat an Untersuchungen zu »Kanones von Autorinnen« 5 zu beteiligen. Den Ausführungen Hegemanns scheint allerdings von vorneherein ein Zuordnungsmissverständnis eingeschrieben zu sein, das den zu erforschenden Stellenwert von Autorinnen und deren Texten im literarischen Kanon überführt in eine »Erforschung von Kanones einzelner [Hervorhebung I.Z.] Autorinnen« (S. 113). Die Tragfähigkeit eines solchen Kanonbegriffes wäre indes zu prüfen, zumal die beiden folgenden Aufsätze des vorliegenden Bandes in ähnlicher Weise jeweils »Kanones« von Schriftstellern thematisieren. Hegemanns Beitrag provoziert allerdings weitere Fragezeichen, die vermutlich auf begriffliche Indifferenz zurückzuführen sind; dazu zählen etwa die hartnäckige Gleichsetzung von Kanon und »Leseempfehlungen« oder »Lektürevorlieben« und die nicht hinreichend berücksichtigte Differenz zwischen faktischen und fiktionalen Lektüreempfehlungen (in den Texten) La Roches. Insofern bleiben sowohl das Verfahren Hegemanns, die Leseempfehlungen der La Roche zunächst bewusst als ein Kanonisierungsmedium anzusehen, »das zur Schaffung eines ›frauenspezifischen‹ Kanons beitragen sollte« (S. 116) als auch ihr Ausblick auf eine »Verknüpfung zwischen La Roches Darstellung ihrer Büchersammlung und deren möglicher kanonstiftender Funktion« (S. 124) sowie »die Annahme konträrer Kanonisierungskonzepte bei Männern und Frauen« (S. 131) fraglich, wenngleich der Beitrag sicher zutreffende Erläuterungen zur lektürepädagogischen Reglementierung des weiblichen Lesepublikums im 18. Jahrhundert enthält und einige interessante Beobachtungen an der Briefkorrespondenz, dem autobiographischen Text Mein Schreibetisch sowie an der von La Roche herausgegebenen Zeitschrift Pomona für Teutschlands Töchter dokumentiert.

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Mit seinem Aufsatz »Der Kanon der Spätaufklärer – zum Beispiel Johann Gottfried Seume« (S. 146-163) lenkt Urs Meyer den Blick auf eines der für lektürebiographische Fallstudien fraglos interessantesten Beispiele des späten 18. Jahrhunderts. Wenn Meyer Seume zunächst in der Reihe von »Opfer[n] einer lebenslangen und bis heute andauernden Negativkanonisierung« (S. 146) verortet, so ist dem mit Blick z.B. auf die schulische Kanonisierung wohl uneingeschränkt zuzustimmen; prüfenswert erscheint die These allerdings in Bezug auf die Literaturwissenschaft, innerhalb der nicht zuletzt einschlägige Forschungsarbeiten zu Autor und Werk sich justierend auf den Grad der Kanonisierung oder De- bzw. Rekanonisierung auswirken können. Nicht jedoch dem Prozess der konstatierten »Negativkanonisierung« Seumes gilt das Interesse Meyers, sondern der Frage, »wie sehr auch die eigene Kanonisierungspraxis Seumes der »dauerhaften Fehlrezeption seines Werks Vorschub leistete« (S. 147). Unter »Fehlrezeption« will Meyer das »ungebrochen folkloristisch-biografische Interesse an Seume als einem ›Helden der Wanderbewegung‹« verstanden wissen, welcher dieser mit einer freilich unbeabsichtigten Selbststilisierung Vorschub geleistet habe (S. 148).

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Die Versinnbildlichung von Seume als ›Wanderer‹ dürfte allerdings weniger auf einer literarästhetisch geschulten Rezeption der Texte beruht haben als vielmehr auf der Bewertung und biographischen Ausdeutung des Autors Seume. Meyers Begriff der »Kanonisierungspraxis« bezieht sich auf die Modi der Lektürerezeption und der auf Literatur bezogenen Präferenzen und Abneigungen Seumes, welche er anhand der Apokryphen, der Reisebeschreibung Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802, der Autobiographie Mein Leben sowie anhand von Briefen Seumes rekonstruiert und zusammenfassend darstellt als dessen diverse »Subkanones« und als eine »Strategie der Dekanonisierung klassischer und romantischer Literatur« (S. 148). Überzeugend weist Meyer nach, inwiefern Seume in der antiken und »nicht in der deutschsprachigen literarischen Tradition« die »Schlag- und Leit-Worte seines eigenen Schreibens« und die Vorbilder für »die eigene politische Rhetorik der brevitas« (S. 151) fand, indem er dessen Antikenrezeption, die Hochschätzung Rousseaus und Voltaires (S. 153 f.), die Begeisterung für die englische Literatur (S. 157 f.), die Wertschätzung Klopstocks und Wielands (S. 154), Gleims, Fernows, Merkels oder Klingers (S. 161) nachzeichnet, aber auch Seumes Ablehnung Hobbes’ (S. 153 f.) und seine »Strategie der hochverschlüsselten Goethe-Verleugnung« als »Ausblendungskanon« (S. 160) herausstellt.

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In den aufs Ganze gesehen zweifellos aufschlussreichen Ausführungen macht sich als Schwachstelle die weitgehende Abstinenz von Ergebnissen der Kanonforschung bemerkbar, aus der nicht zuletzt terminologische Unschärfen, wie etwa die umstandslose Gleichsetzung von Rezeption und Kanon oder die Deklaration von individuellen Lektürevorlieben zu einem Kanon, sowie ein nahezu inflationär und daher etwas beliebig wirkender Gebrauch des Kanon-Begriffs resultieren. Wer sich indes daran nicht stören will, wird sein uneingeschränktes Vergnügen an dieser Rekonstruktion der Lektürebiographie Seumes haben.

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Auch Benedikt Jeßing erhebt in seinem Beitrag, »Der Kanon des späten Goethe« (S. 164-183) den »individuelle[n] Kanon eines Schriftstellers zum Gegenstand« (S. 164) und hebelt damit wie seine beiden VorgängerInnen den definitorischen Minimalkonsens der Forschung zum Kanonbegriff als Selektion und Korpus von Texten, die eine Gesellschaft oder Gruppe für wertvoll und überlieferungswürdig hält, aus. Jeßing rekurriert auf Goethes spezielle Position »in der literarischen Öffentlichkeit der ersten drei Dezennien des 19. Jahrhunderts« und widmet sich dessen Strategien der Selbststilisierung und »programmatische[n] Selbstauratisierung«, die »möglicherweise die Umstrittenheit oder Missachtung seines Werks«, des 1809 erschienen Romans Die Wahlverwandtschaften, »kompensieren« sollte (S. 166). Die Frage nach Goethes »Kanon« und »Klassikerbegriff« sowie nach »Wertungsmaßstäben und Kanonisierungskriterien« (S. 166 f.) sucht Jeßing auf der Grundlage von programmatischen Überlegungen zu beantworten, welche Goethe in einer Reihe von Aufsätzen und Rezensionen z.B. 1795 in den von Schiller herausgegeben Horen und in den 1820er Jahren in seinem eigenem Periodikum Über Kunst und Alterthum (vgl. S. 167 ff.) publizierte.

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Mit Goethes 1827 veröffentlichter Würdigungstabelle poetischer Productionen der letzten Zeit bringt Jeßing eine interessante Quelle ein, stiftet jedoch etwas Verwirrung, wenn er zuerst konstatiert, dass die »Subjektivität der Beurteilungskriterien, ihre mangelnde Verallgemeinerbarkeit sowie die wohl sehr kontingente Textgrundlage […] verbieten, aus Beurteilungskategorien und Wertungen Kanonisierungskriterien abzuleiten« (S. 169 f.), kurz darauf aber diesen »Kriterienkatalog« nun »möglicherweise doch zu einem allgemeineren Bewertungssystem kanonisierbarer Literatur zu erweitern« (S. 170) trachtet. Überzeugender fallen die informativen Einzelbeobachtungen zu Goethes Lese- und Werklisten und dessen Auswahl von »herausragenden Stücke[n]« aus Theaterprogrammen (S. 171 ff.) aus. An ausgewählten Beispielen nimmt Jeßing sich schließlich des Verhältnisses von Goethe zur »Poesie der Völker« (S. 173) an und zeigt auf, wie es diesem mit einer Auffassung von Weltliteratur als »intellektuelle[m] Kommunikationskonzept« (S. 176) gelingt, sich als ein Literat von Welt zu inthronisieren und sich somit, wie Jeßing abschließend zuspitzt, in den »engste[n] Kanon des späten Goethe«, der sich aus antiken Schriftstellern und Schiller zusammengesetzt habe, mit einzubeziehen.

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Sinn, Ordnung, Wissen:
Kanonbildung als regulative Praxis

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Mit den drei letzten Beiträgen des Bandes erweitert sich das Untersuchungsfeld und öffnet sich in interdisziplinärer Perspektive. Gernot Gruber skizziert in seinem konzisen Aufsatz »Der Kanon der Musik« (S. 178-183) die abendländische Entstehungsgeschichte eines Kanons musikalischer Meisterwerke und verweist dabei insbesondere auf den unhintergehbaren Kontext der christlichen Kirchen- und Liturgiegeschichte. Inwiefern deren fortwirkende Rezeption Bestandteil der modernen Kanonbildung in der Musik um 1800 gewesen sei, verdeutlicht Gruber beispielhaft anhand der Rezeption von Händels Oratorien und Mozarts Requiem. Das kennzeichnende und innovative Moment der modernen Kanonbildung in Bezug auf die abendländische Musik sieht Gruber in der »Verlagerung der Trägerschaft der anspruchsvollen Musikpflege von Kirche und Hof zu bürgerlichen Institutionen«, in der »Ausbildung einer musikalischen Öffentlichkeit« und in der »Entstehung einer Autonomieästhetik«, wobei Gruber die Komplexität dieses Verlagerungsprozesses und eine »auch in Hinblick auf Musik« (S. 179) erforderliche Differenzierung des Kanonbegriffs betont, welche z.B. die Unterscheidung eines empirischen Kanons von einem »Wertekanon« (S. 180 f.) impliziere. Wichtiger Impulsgeber für die Entstehung eines modernen musikalischen Wertekanons war die Diskussionskultur um Musik, die »über Gespräche in Salons den Weg in die sich ausbildende musikalische Öffentlichkeit und das ihr entsprechende Schrifttum fand.« (S. 180) Aufwändige memorialkulturelle Praktiken (Denkmal, Biographie, Werkedition, Gedenkkonzerte u.a.) und die Auratisierung von Künstlerpersönlichkeiten unterstützten und sicherten die Kontinuität der Rezeption von »Ideenkunstwerken« ebenso wie deren Eintragung in die seit den 1770er Jahren entstehenden, großen Darstellungen der Musikgeschichte. An den Beispielen Haydn, Mozart und Beethoven schließlich zeigt Gruber auf, dass nicht zuletzt die Interferenz der Künste, insbesondere von Literatur und Musik, bei der Kanonbildung der Musik eine nicht unerhebliche Rolle spielte.

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Für die Popularisierung gelehrten Wissens gewannen historiographische Werke im 18. Jahrhundert zunehmend an Bedeutung. In seinem Beitrag »Zum Kanon historischer Werke in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts« (S. 184-201) geht Matthias Weishaupt der Frage nach, ob es »für diese historische Literatur einen Kanon gegeben hat und welche Titel […] dazugehörten« (S. 185). Weishaupt nähert sich seinem Thema zunächst über die Orientierung an dem Bekanntheits- und Popularitätsgrad von einzelnen Werken, den er an Übersetzungen in andere Nationalsprachen festmacht, und kommt so auf eine Reihe von Autoren und Titeln, etwa auf Werke der beiden französischen Gelehrten Montesquieu und Voltaire, auf die Geschichtsschreibung englischsprachiger Historiker wie David Hume, William Robertson, Edward Gibbon, sowie auf bekanntere Verfasser der deutschsprachigen Geschichtsschreibung, von denen das Kriterium der Übersetzung allerdings nur Johann Joachim Winckelmann, August Ludwig Schlözer, Michael Ignaz Schmidt, Johann Wilhelm Daniel von Archenholz und Ludwig Timotheus Spittler erfüllen. Über Verbreitung und Rezeption, so räumt Weishaupt ein, lassen sich allerdings kaum empirisch gesicherte Aussagen machen, und mit einer bloßen »Aufzählung von Aufklärungshistorikern […] lässt sich«, wie er an späterer Stelle zutreffend anmerkt, »kein Kanon bestimmen« (S. 189).

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Dass zum Untersuchungskorpus auch Titel »an der Schnittstelle von Dichtung und Philosophie« gehören, wie Schillers historische Arbeiten, scheint einsichtig, wobei die Einbeziehung fiktionaler Texte in Form der »prominentesten Beispiele« von Schillers »Historiendramen« (S. 188) die Notwendigkeit einer Spezifizierung der Gattung »Geschichtsschreibung« vor Augen führt. Nur en passant erwähnt Weishaupt Periodika und Reiseberichte, sein Interesse gilt vielmehr Bücherempfehlungen und Katalogen von Leihbibliotheken: Am Beispiel der 1797 in Berlin und Leipzig erschienenen, 400 Seiten umfassenden Anleitung zur Bücherkunde von August Burkhardt skizziert er, wie sich aufgrund des Kommentierungsverfahren des Herausgebers unterschiedliche Gewichtungen von Titeln zur historischen Literatur ablesen lassen (S. 190 f.). Indem er Burkhardts Bücherempfehlungen mit den Katalogen und Verzeichnissen zweier Leihbibliotheken der Stadt Herisau im Kanton Appenzell Ausserrhoden (Schweiz) synchron und diachron im Hinblick auf eine Schnittmenge von Titeln und Autoren abgleicht, filtert Weishaupt neben den Schweizer Historikern zehn Namen, die zu einem sich auszubildenden Kanon von Geschichtsdarstellungen am Übergang von 18. zum 19. Jahrhundert gezählt werden müssten: »Archenholz, Bossuet, Friedrich II., Gibbon, Girtanner, Hume, von Müller, Robertson, Schlözer und Schmidt« (S. 201). Abgesehen davon, dass der Einblick in die Historie der Hirsauer Leihbibliotheken etwas zu ausgedehnt ausfällt und eine Differenzierung der Gattung »Geschichtsdarstellung« für solch ein Projekt ratsam wäre, ist Weishaupts Studie als ein gelungenes Beispiel für eine historisch-empirisch orientierte Projektskizze mit ausbaufähigem Potenzial anzusehen.

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Unter dem Titel »Kanon Nationalkultur: Johannes Müller und die Rekonstruktion einer historischen Identität der Schweiz« (S. 202-228) stellt Edgar Bierende seine Überlegungen zum Phänomen der Umwertung von Kulturgütern und deren Funktion für die Definierung eines auf komplexen Auswahlprozessen beruhenden »Kanon[s] ›Kultur‹« (S. 202) vor. Als illustratives Beispiel zieht er die zwölfteilige Publikationsreihe des Zürcher Ingenieurs Johannes Müller (1733-1816) heran, welche zwischen 1773 und 1783 in zehn Heften unter dem Titel Merckwürdige Überbleibsel von Alterthümern an verschieden Orten der Eydtgenossenschaft nach Originalen gezeichnet und in Kupfer heraus gegeben erschien, um daran die medialen Möglichkeiten der »Bildpräsenz« (S. 213) für eine Rekonstruktion einer historischen Identität der Schweiz aufzuzeigen. Über das Beispiel von Müllers Publikation hinausführend verdeutlicht Bierende dabei im besten Sinne des Wortes anschaulich, wie Praktiken des Sammelns, Auswählens, Anordnens und Kombinierens von Artefakten Erinnerung aktualisieren, neu organisieren und damit Sinn, Ordnung und Wissen konstruieren, so dass [d]as Alte« schließlich »zum Neuen« (S. 213) wird. Die zentrale Aufgabe der Müllerschen Publikationsreihe, »Geschichte mittels historischer Artefakte zu vergegenwärtigen« (S. 218), schloss daher keineswegs nachträgliche Korrekturen der Herausgeber etwa im Hinblick auf »Lebensdaten, Personenidentifikation und historische Entwicklungen« (S. 220) aus. Die Vielfalt der ergebnisreichen Bildinterpretationen und ihre Verknüpfung mit kunst- und mediengeschichtlichen Reflexionen machen den Beitrag nicht nur zu einer ausgesprochen anregenden Lektüre, sondern zeigen auch, wie sich literatur- und medienhistorische Fragestellungen produktiv zu einer kulturwissenschaftlichen Perspektive verbinden lassen. Dass es Bierende außerdem gelingt, das Phänomen des »Kanon[s] ›Kultur‹« (S. 202) in einen größeren theoretischen Zusammenhang von Erinnerungs- und Gedächtniskonzepten und Praktiken der Neuordnung von Sinn und Wissen zu stellen, ohne dabei den Gegenstand in kaum noch nachvollziehbaren Abstraktionen aufzulösen, gilt es als besonderes Verdienst dieses Beitrags herauszustellen.

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Fazit

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So bleibt am Ende, nach Carstens Zelles resümierendem »Versuch einer Zusammenfassung in sechs Thesen« (S. 229-231), eine positive Bilanz im Blick zurück nach vorn: Der Band löst in weiten Teilen ein, was er verspricht, ohne die sich jeweils ergebenden methodologischen Herausforderungen der Kanonforschung zu leugnen.

 
 

Anmerkungen

Angelehnt an Jürgen Dummer: Entwicklungen des Kanongedankens in der Antike. In: Gerhard R. Kaiser / Stefan Matuschek (Hg.): Begründungen und Funktionen des Kanons. Beiträge aus der Literatur- und Kunstwissenschaft, Philosophie und Theologie. Heidelberg 2001, S. 9-20.   zurück
Vgl. Marie-Luise Spieckermann: Anthologien englischer Autoren und die Bildung eines deutschen Kanons der englischen Literatur. In: Barbara Schmidt-Haberkamp / Uwe Steiner / Brunhilde Wehinger (Hg.): Europäischer Kulturtransfer im 18. Jahrhundert. Literaturen in Europa – Europäische Literatur? Berlin 2003, S. 31-45.   zurück
So monierte Paul Goldscheider 1906, dass so manches Lesebuch »in so und sovielen Nummern Stücke des Herrn Herausgebers bringt, der sich auf diese Weise selbst den literarischen Lorbeer flicht und kühnlich neben Ranke, Mommsen, Freytag setzt. Wagt man es doch sogar in vereinzelten Fällen, auch die eigenen Gedichte neben Schiller und Uhland einzuschmuggeln!«; vgl. Paul Goldscheider: Lesestücke und Schriftwerke im deutschen Unterricht. München 1906, S. 23.   zurück
Hermann Korte: »Meine Leserei war maßlos«. Literaturkanon und Lebenswelt in Autobiographien seit 1800. Göttingen 2007, S. 7.   zurück
Vgl. Renate von Heydebrand: Kanon – Macht – Kultur. Versuch einer Zusammenfassung. In: R. v. H. (Hg.): Kanon – Macht – Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildungen. Stuttgart, Weimar 1998, S. 612-625, hier S. 624.   zurück