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Ein schwieriges Verhältnis

Presse und Politik in der Weimarer Republik

  • Bernhard Fulda: Press and Politics in the Weimar Republic. London: Oxford University Press 2009. 342 S. 15 Abb. Hardcover. USD 110,00.
    ISBN: 978-0-19-954778-4.
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Who voted for Hitler? – Zu Forschungslage und Methodik

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Seit Richard F. Hamilton vor knapp drei Jahrzehnten in seinem Buch Who voted for Hitler? die Frage nach dem möglichen Beitrag der Massenmedien am Aufstieg der NSDAP gestellt hat, 1 bietet Bernhard Fulda am Beispiel der Berliner Tagespresse erst die zweite den gesamten Zeitraum der Weimarer Republik umfassende Darstellung des sich bedrohlich verändernden Verhältnisses von Presse und Politik. Angesichts der hochrelevanten Fragestellung kann man dieses Verdienst nicht genügend herausstreichen. Die 1992 unter dem Titel Mythos – Heilshoffnung – Modernität von Dietmar Schirmer vorgelegte Untersuchung politisch-kultureller Deutungscodes in der Weimarer Republik, die sogar über die Metropolenpresse hinausreicht, kennt Fulda leider nicht. 2 Schirmer entwarf damals im Rahmen des Forschungsschwerpunkts zur »Politischen Kultur in der Weimarer Republik« an der FU Berlin eine Operationalisierung des Konzepts der politischen Kulturforschung, das ihn zu empirisch gesättigten Aussagen über das Nichtzustandekommen eines demokratischen Grundkonsenses und über die Hegemoniefähigkeit des nationalsozialistischen Deutungsangebots befähigt und das bis heute Maßstabcharakter beanspruchen kann – die von ihm vorgegebene theoretische und methodische Stringenz wird von Fulda nicht erreicht.

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Der Vergleich ist gerechtfertigt, da Fulda keine Pressegeschichte schreibt und nur am Rande auf die Entwicklung der institutionellen und organisatorischen Beziehungen zwischen Presse und Politik eingeht, sondern – wie Schirmer – einen Beitrag zur Gesellschaftsgeschichte der Weimarer Republik bietet, eine »history of the Republic through the lens of the press«, wie es in der auf der Coverrückseite des Buches abgedruckten Rezension von Corey Ross heißt. Fulda folgt dabei nicht konsequent einem theoretischen Ansatz, sondern bemüht verschiedene, zumeist aus der Kommunikationswissenschaft stammende theoretische Ansätze, von denen er aber nicht sein methodisches Vorgehen ableitet. Hier hält er quantitative Verfahren angesichts fehlender digitaler Textbestände für nicht anwendbar und zieht qualitative Verfahren erst gar nicht in Betracht. Vielmehr vertraut er darauf, die Zeitungsberichte zu den ausgewählten Ereignissen und Themen zu lesen und in Einzelfällen um eine Auswertung zeitgenössischer Zeitungsausschnittsammlungen zu ergänzen.

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Welche Wirkung haben Zeitungen?

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Wie Schirmer und eine Reihe anderer Studien, die einzelne Aspekte des vielschichtigen Verhältnisses von Presse und Politik in der Weimarer Republik beleuchten, geht auch Fulda davon aus, dass die funktionale Ausdifferenzierung der Gesellschaft so weit vorangeschritten war, dass die damaligen Massenmedien – und das heißt im politischen Bereich schon aufgrund ihrer Aktualität: die Tageszeitungen – zu einem mächtigen Akteur im intermediären System der deutschen Gesellschaft geworden sind, sich in dieser Zeit also Öffentlichkeit primär über die Tagespresse konstituiert hat. So sehr der Autor einräumt, dass aufgrund der für die meisten Menschen fehlenden Möglichkeit von Primärerfahrungen in politischen Belangen die massenmedial vermittelten Informationen das in der Bevölkerung bzw. bestimmten Bevölkerungsgruppen vorherrschende Bild von Politik prägten (die »pictures in our heads«, wie dies der US-amerikanische Journalist Walter Lippmann schon 1922 in seinem bis heute diskutierten Werk Public Opinion formuliert hatte), sieht er aber eine besondere und bislang unterschätzte Wirkung der Presse auf die politischen Akteure gegeben – schon deshalb, weil diese ihr eigenes Mediennutzungsverhalten kurzschlüssig auf die Bevölkerung übertragen hätten und (daher?) von einer manipulativen Kraft der Medien ausgegangen wären.

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Anhand von Memoiren und Briefen zeigt er die Politiker jener Zeit als intensive Medienkonsumenten, die selbst ihre parlamentarischen Reden mittels »copy and paste« den Zeitungsberichten entnahmen. Ob sich diese Beobachtung freilich verallgemeinern lässt, muss unbeantwortet bleiben. Eine zweite Beobachtung, die der Autor als spezifische Ausprägung der Wirkungsmacht der Medien beschreibt, nämlich eine hohe Selbstreferenzialität der Zeitungen, die den öffentlichen politischen Diskurs angeheizt haben soll bis er »more vicious« (S. 206) » als im Parlament gewesen wäre, verbleibt jedenfalls mangels eines geeigneten methodischen Instrumentariums im Anekdotischen. 3

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Berichterstattung und Wahlverhalten:
»schwache« Medien?

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Das 324 Seiten umfassende Buch besteht aus einer einleitenden Darstellung des Berliner Pressemarkts und aus fünf Einzelstudien, die sich mit unterschiedlichen thematischen Perspektiven befassen. So ist die erste, auf die Jahre von 1918 bis 1924 bezogene Studie der Personalisierung von Konflikten gewidmet, deren unterschiedliche Konsequenzen am Beispiel der Kampagne gegen den Zentrums-Politiker Matthias Erzberger und der Schaffung einer nationalen Leitfigur in Adolf Hitler verdeutlicht werden. Das darauffolgende Kapitel befasst sich mit der Berichterstattung über politische Skandale in den Jahren 1924 und 1925, anhand derer der Autor nicht nur auf die Konstruktion unterschiedlicher (hier: parteigebundener) Realitäten durch die Massenmedien verweist, sondern – wie in der Personalisierungsstudie – das Potenzial der Presse vor allem im Einfluss auf die Art der parlamentarischen Konflikte und die Bedingungen der politischen Debatte lokalisiert. Demgegenüber sieht er eher keine direkten Auswirkungen auf das Wahlverhalten der Bevölkerung.

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Dieser Frage geht Fulda detailliert in der dritten Fallstudie anhand einer – besonders verdienstvollen – Untersuchung der Lokalzeitungen in kleinen Provinzstädten im Berliner Umland nach. Als Anlässe dienen ihm die Reichspräsidentenwahl 1925 und das Referendum zur entschädigungslosen Fürstenenteignung 1926. Hier kommt der Autor zum Schluss, dass, wenn überhaupt, wahlentscheidende Effekte nur dort auftraten, wo keine konkurrierenden Positionen am Zeitungsmarkt vertreten waren. Die an mehreren Stellen des Buches angesprochene Korrelation von Stimmenanteilen der einzelnen Parteien und Auflagenanteilen der den jeweiligen Parteien zuzurechnenden Zeitungen ist jedoch ohne Berücksichtigung von intervenierenden Variablen kein ernstzunehmendes Argument – weder für noch gegen einen Wahleinfluss der Medien. 4 (Selbst aus der Auflagenperspektive übersieht Fulda, dass 1930 immer mehr nationale Berliner Blätter die NSDAP in ihre Wahlempfehlung mit einschlossen, während andererseits der Marktanteil der für die Parteien der Weimarer Koalition votierenden Zeitungen zurückging und 1932 schließlich – in der liberalen Metropole Berlin! – unter die 50%-Marke fiel. 5 )

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Berichte über Gewalt und Bürgerkriegshysterie:
»starke« Medien?

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Die letzten beiden Studien beruhen wiederum auf der Lektüre der Berliner Tagespresse, wobei zuerst der Fokus auf dem Aufstieg der Nationalsozialisten zwischen 1928 und 1930 und die einschlägige Berichterstattung der Massenpresse (einschließlich Pressefotografien und Cartoons) liegt, während schließlich für die beiden letzten Jahre der Weimarer Republik die Berichterstattung über politische Gewalttaten von Kommunisten und Nationalsozialisten im Mittelpunkt steht. Im Unterschied zur oben erwähnten »Minimal effects«-These in Bezug auf das Wahlverhalten, sieht Fulda die Bürgerkriegshysterie in den beginnenden 1930er Jahren durchaus als »press-induced over-reaction with politically disastrous effects« (S. 201), die zusammen mit dem medienvermittelten Image einer unentschlossenen Regierung die Nationalsozialisten als attraktive, Ordnung verheißende Alternative erscheinen ließen.

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So ist der Leser mit wechselnden Annahmen von einerseits »schwachen«, dann aber doch »starken« Medien konfrontiert, deren Wirkungsstärke einmal primär auf die Handlungen der politischen Entscheidungsträger bezogen ist, dann aber doch auch auf das Publikum. Ob die hier ins Treffen geführte »exzessive« Parteilichkeit (S. 214) uneingeschränkt für die Massenpresse in Geltung gebracht werden kann, muss überdies angezweifelt werden. Vielmehr wäre der Frage nachzugehen, ob nicht gerade die vor allem am kommerziellen Erfolg und nicht so sehr an einer Parteilinie orientierten Boulevardzeitungen entsprechend einer eigenen, im Entkopplungsprozess ausgebildeten Medienlogik agierten, die letztlich für das politische System dysfunktional war. 6

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Resümee

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Räumt man ein, dass eine historische Medienwirkungsforschung in der Tat vor kaum lösbaren Problemen steht (die der Autor freilich unzureichend reflektiert), so kann man die überaus spannend geschriebene Darstellung mit großem Gewinn lesen, schon weil sie das Verständnis für die Presse in ihrer intermediären Rolle zwischen Politik und Gesellschaft (und deren spezifische Ausformung in den Jahren der Weimarer Republik) stärkt und mit der Ausarbeitung dieses triangulären Verhältnisses in den genannten Einzelstudien eine Reihe von Anregungen für die zukünftige Forschung in sich birgt. Als medienbasierte Gesellschaftsgeschichte der Weimarer Republik wäre sie eine bedenkenswerte Erweiterung der existierenden Literatur.

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Unverständlich ist jedoch, warum der Autor immer wieder – wie bereits erwähnt – auf kommunikationswissenschaftliche Ansätze und Konzepte verweist (wie »Agenda Setting«, »Framing«, »Personalisierung«, den »Third Person-Effect« u.a.m.), ohne geeignete methodische Verfahren einzusetzen, die erlauben würden, diese Ansätze tatsächlich zur Überprüfung seiner Annahmen zu verwenden und nicht bloß zu behaupten, dass die daraus abgeleiteten Effekte »apparent« (S. 73) seien. Zweifellos wäre eine dem Thema durchaus adäquate interdisziplinäre Untersuchung mit einem Aufwand verbunden gewesen, der möglicherweise den Rahmen einer Dissertation (die der Buchpublikation zugrunde liegt) gesprengt hätte. Es geht aber nicht an, Konzepte einer anderen Disziplin als Versatzstücke zu verwenden, die man ungeachtet ihrer methodischen Implikationen beliebig einbauen kann. Um die Entwicklung des schwierigen, weil sehr komplexen und daher auch schwierig zu erforschenden Verhältnisses von Presse und Politik in der Weimarer Republik zu klären, bleibt also noch viel zu tun.

 
 

Anmerkungen

Richard F. Hamilton: Who voted for Hitler? Princeton, NJ: Princeton University Press 1982.   zurück
Dietmar Schirmer: Mythos – Heilshoffnung – Modernität. Politisch-kulturelle Deutungscodes in der Weimarer Republik. (Studien zur Sozialwissenschaft 114 ) Opladen: Westdeutscher Verlag 1992.    zurück
Zur Netzwerkanalyse als einem dafür empfehlenswerten Verfahren vgl. Gabriele Melischek / Josef Seethaler: Leitmedien als Indikatoren politischer Krisen und Umbrüche. Das Beispiel der Weimarer Republik. In: Daniel Müller / Annemone Ligensa / Peter Gendolla (Hg.): Leitmedien. Konzepte – Relevanz – Geschichte. Bielefeld: Transcript 2009, Bd. 1, S. 151–170.   zurück
Zur historischen Wahlforschung vgl. Jürgen Falter: Hitlers Wähler. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1991.   zurück
Gabriele Melischek / Josef Seethaler: Die Berliner und Wiener Tagespresse von der Jahrhundertwende bis 1933. In: Kai Kauffmann / Erhard Schütz (Hg.): Die lange Geschichte der Kleinen Form. Beiträge zur Feuilletonforschung. Berlin: Weidler 2000, S. 60–80. Die von Fulda gegebene Auflagenstatistik (http://www.hist.cam.ac.uk/academic_staff/further_details/fulda-circulation.html; 03.12.2010) ist im Übrigen ausbaufähig; vgl. Gabriele Melischek / Josef Seethaler / Christian Balluch / Karin Walzel: Die Berliner Tageszeitungen 1918–1933. In: Relation 2 (1995), No. 1, S. 69–110; No. 2, S. 47–86; http://www.oeaw.ac.at/cmc/hypress/bz.htm (03.12.2010).   zurück
Zur Rolle der Massenpresse vgl. u.a. Kurt Imhof: Wandel der Gesellschaft im Licht öffentlicher Kommunikation. In: Markus Behmer / Friedrich Krotz / Rudolf Stöber / Carsten Winter (Hg.): Medienentwicklung und gesellschaftlicher Wandel. Beiträge zu einer theoretischen und empirischen Herausforderung. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2003, S. 153–182; Gabriele Melischek / Josef Seethaler: Erfolg und Misserfolg als Dimension der Politikvermittlung. Ein attributionstheoretisches Modell. In: Wolfgang Donsbach / Olaf Jandura (Hg.): Chancen und Gefahren der Mediendemokratie. (Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft 30) Konstanz: UVK 2003, S. 161–173; Gabriele Melischek / Josef Seethaler: The Winner Takes It All. Einflussfaktoren der Berichterstattung über die Nationalsozialisten in der Berliner Presse der Weimarer Republik. In: Oswald Panagl / Ruth Wodak: Text und Kontext. Theoriemodelle und methodische Verfahren im transdisziplinären Vergleich. Würzburg: Königshausen & Neumann 2004, S. 87–104; Rudolf Stöber: Deutsche Pressegeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. 2., überarb. Aufl. Konstanz: UVK 2005, bes. S. 256–265.   zurück