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Geist(er), Gespenster und Germanisten

Esther Kilchmann untersucht Verwerfungen in der familiären und der nationalen Einheit um 1840

  • Esther Kilchmann: Verwerfungen in der Einheit. Geschichten von Nation und Familie um 1840. München: Wilhelm Fink 2009. 204 S. Kartoniert. EUR (D) 27,90.
    ISBN: 978-3-7705-4761-6.
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Vielfalt und Einheit, beziehungsweise das Verhältnis der beiden Begriffe zueinander – ob nun Vielfalt in der Einheit oder Einheit in der Vielfalt angestrebt wird –, das ist ein Thema, das im öffentlichen Diskurs in regelmäßigen Abständen auftaucht. Wie ist Einheit zu denken, wie ist sie angesichts einer sich immer weiter ausdifferenzierenden Gesellschaft herzustellen, und ist Einheit überhaupt wünschenswert? Um hier keinen falschen Eindruck zu erwecken: Esther Kilchmanns Band ist kein direkter Beitrag zur aktuellen Debatte um die Multikulti-, die Einwanderungsgesellschaft oder die Frage, ob die Deutschen sich selbst abschaffen, allerdings vermag ihre Untersuchung, die sich mit den Anfängen der deutschen Nationalbewegung befasst, eines, was in den aktuellen Debatten zumeist übersehen wird, ganz klar zu zeigen: nationale Einheit ist nur als Konstrukt vorstellbar, Einheit wird wider alles Uneinheitliche, Ungeordnete und Verworfene hergestellt, Einheit muss perfomiert, vor allen Dingen aber erzählt werden. Erzählt aber nicht nur in literarischen Texten und in Zeitschriften und Magazinen, sondern auch in wissenschaftlichen Veröffentlichungen: in philosophischen Abhandlungen, religiösen Traktaten, historischen Untersuchungen und in philologischen Analysen.

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Bei einer Untersuchung zahlreicher um 1840 entstandener ›Erzählungen‹ nun stellt sich, so erklärt Kilchmann einleitend, eine nicht zu umgehende Irritation ein:

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Während um 1840 im deutschsprachigen Raum nationale Einheitsbewegungen an Dynamik gewinnen und das bürgerliche »Heim« zu einem zentralen Ideologem wird, erscheint in literarischen Texten ebenjener Jahre häuslich-familiäre ebenso wie nationale Einheit als eine nicht geheure. Diese Beobachtung widerspricht dem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts etablierten Konzept der »Nationalliteratur«, demzufolge Literatur sprachlich-geistige Einheit garantiert und so die Forderung nach politisch-staatlicher Einheit kulturell begründet. (S. 7)
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Diese Irritation wird zum Ausgangspunkt von Kilchmanns Ausführungen. Die Narrative der »neuen national-historisch argumentierenden Disziplin« (S. 7), die Jacob Grimm 1846 mit dem programmatisch aufzufassenden Begriff ›Germanistik‹ belegen wird, setzt Kilchmann in Bezug zu literarischen Einheits- und Herkunftsszenarien. Wird in der zeitgenössischen Debatte nationale Geschichte, auch Literaturgeschichte, als eine Familiengeschichte erzählt, so ist es reizvoll, zum einen diese Übertragung genauer zu analysieren, zum anderen aber in einem weiteren Schritt literarische Texte in den Blick zu nehmen, die Familiengeschichten vor dem Hintergrund der Nationalbildung erzählen. Und dabei zeigen sich ›Uneinheiten‹ – so Kilchmanns Terminologie –, zwischen dem, was von der Philosophie und der Philologie postuliert und was von den literarischen Texten vollzogen wird. Denn diese verweisen persisitierend (mal mehr und mal weniger offensichtlich) auf das Lückenhafte der Konstruktion: »im Medium der Literatur [werden] die Verwerfungen im Narrativ nationaler Einheit seismographisch aufgezeichnet.« (S. 7).

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Gegen die ›Denkblockade‹ Biedermeier – zur Methode

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Die Untersuchung widmet sich Texten, die durchaus zu den prominenten, zu den viel diskutierten Werken des 19. Jahrhunderts zählen, unter anderem Heinrich Heines De l’Allemagne, Jeremias Gotthelfs Schwarzer Spinne und Annette von Droste-Hülshoffs Judenbuche. Bei ihrer Relektüre dieser Texte nimmt die Verfasserin eine »Mikroperspektive« (S. 8) ein und untersucht beispielsweise die Signifikantenspiele in Gotthelfs und Drostes Erzählungen, um die Polyvalenzen, die diese Texte immer wieder verhandeln, herauszuarbeiten. Bezug nimmt sie dabei nicht auf einen »geschlossenen Theorieansatz[ ]«(S. 22), sondern arbeitet bei ihren Textlektüren »mit und an einzelnen theoretischen Ansätzen« (beispielsweise denen Derridas, Kristevas, Certeaus und Freuds). Dabei geht es Kilchmann darum, »nicht primär über literarische Texte zu arbeiten, sondern mit ihnen eine historisch-kulturelle Konstellation zu studieren«. (Ebd.)

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Mit Heine, Gotthelf und Droste nimmt Kilchmann drei Autoren in den Blick, die von der Literaturgeschichte traditionell – hier wirkt immer noch Friedrich Sengles monumentales Werk zur Biedermeierzeit 1 nach – zwei ›Lagern‹ zugeschrieben werden: Droste und Gotthelf der Restauration, dem Biedermeier im engeren Sinn, Heine hingegen der Revolution oder dem Jungen Deutschland. Diese – an politischen, sozio-historischen Kategorien orientierte – Zuordnung aber ist problematisch, unterschätzt sie doch das Potenzial, die Vielstimmigkeit von Literatur, die sich solchen Zuschreibungen durch ihre komplexe Faktur immer wieder entzieht. Werden politische, soziale und religiöse Konservativität nahtlos auf die Texte jener Autoren übertragen – Konservativität gilt dann auch in aestheticis –, so tappt man als Interpret, als Interpretin in das, was Peter von Matt als »biographische Falle« beschrieben hat. 2 Von Matt erklärt:

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Wo liegt die biographische Falle? – Sie liegt darin, daß die Qualität des Buches mich zur Suche nach der Person des Autors zwingt, die Person des Autors aber wiederum die Qualität des Buches verändert. Diese nämlich wirkt sich erneut auf mein Bild vom Autor aus, und das so veränderte Autorbild wieder auf das Buch. 3
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Kilchmann argumentiert in eine ähnliche Richtung und spricht – im Anschluss an wichtige Vorarbeiten von Michael Titzmann 4 und Walter Erhart 5  – von einer »Denkblockade« (S. 11) in der Beschäftigung mit der Literatur des Zeitraums 1815–1848: »Die Zuordnung zum politisch-fortschrittlichen Vormärz oder zum restaurativ-apolitischen Biedermeier, die strikte Trennung der beiden Bereiche, behindert die Entwicklung neuer Lesarten für die Literatur dieser Zeit.« (Ebd.) Was es hinter dieser Blockade zu entdecken gibt, hat nicht zuletzt die ›Stifter-Renaissance» der vergangenen Jahre gezeigt. 6

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Auch die Verwerfungen in der Einheit stellen einen gelungenen Versuch dar, diese Denkblockade zu umgehen. Sie legen den Fokus nicht auf die Einheit, sondern auf die Heterogenität der Literatur ›zwischen Goethezeit und Realismus‹ 7 und sehen in dieser Vielstimmigkeit der Literatur – gerade in dem Zeitraum, in dem sich die Literaturgeschichte als eine Disziplin zur Schaffung von Einheit etabliert – das Potenzial der Texte. Zentral ist dabei der geologische Begriff der »Verwerfung«, den Kilchmann nutzt, um »die Gleichzeitigkeit von Einheit und Uneinheit zu fassen« (S. 25):

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Damit wird versucht, ein Phänomen zu fassen, das zwar uneins ist, aber weder brüchig noch zersplittert, will heißen, das nie »eins« gewesen ist. Verwerfungen entstehen vielmehr bei der Herausbildung der Einheit selbst und sind somit ein konstitutiver Teil derselben. Sie markieren zugleich die Trennung und den Zusammenhalt der einzelnen Schichten. (Ebd.)
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Heine als Scharnier – Zur Gliederung

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Diesen Verwerfungen widmet sich Kilchmann in drei Kapiteln. Im ersten Teil (A) »Herkunft – Geist – Erbe. Nationale Einheitsfunktionen« nimmt sie prominente Literaturgeschichten des 19. Jahrhunderts, wie etwa Schlegels Geschichte der alten und neuen Literatur und Gervinus’ opulente Geschichte der poetischen Nationalliteratur der Deutschen in den Blick, bevor sie »Nationale Phantombildungen« am Beispiel Arminius beschreibt. Ein Blick auf »Enden und Erben der Literatur«, auf Georg Herweghs Texte und Heines Wintermärchen schließen diesen Teil ab.

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Im zweiten Teil (B) arbeitet Kilchmann das literaturtheoretische Potenzial von Heinrich Heines De l’Allemagne heraus. Dieses Kapitel nimmt in der Arbeit eine Scharnierfunktion ein, indem Kilchmann an Heines Textsammlung die Grenzüberschreitungen, die De l’Allemagne in Bezug auf Konventionen der Literatur- und Kulturgeschichtsschreibung vollzieht, nachzeichnet und daraus das Modell für die folgenden Lektüren ableitet, die sich nämlich, wie Heines Texte das vorführen, auf die Uneinheiten, auf die Verwerfungen konzentrieren.

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Im dritten Teil (C) schließlich liefert Kilchmann Analysen von Gotthelfs Bildern und Sagen aus der Schweiz und der Schwarzen Spinne und zeigt dabei auf, wie die Analogisierung von patriarchaler Haus- und Vaterlandsordnung prekär wird, indem das, was eigentlich aus dieser Konstruktion ausgeschlossen werden soll, im Innern der Konstruktion eingeschlossen wird. Schließlich analysiert Kilchmann zwei Texte aus Drostes projektiertem, aber nicht abgeschlossenem ›Westfalenwerk‹, die Westphälischen Schilderungen aus einer westphälischen Feder und die Judenbuche. Beide werden auf ihr Potenzial hin gelesen, Genealogien, vermeintlich gesicherte Herkünfte zu durchkreuzen und damit auch das Ideal einer ›reinen‹ Nationalität zu destabilisieren.

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Gepfropfte Genealogien und mythische Ursprünge – Literaturgeschichte bei Schlegel und Gervinus

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Sowohl Friedrich Schlegel als auch Georg Gottfried Gervinus legen im fokussierten Zeitraum große, wirkmächtige Literaturgeschichten vor, die – das hat Jürgen Fohrmann herausgearbeitet 8  – unter anderem die Funktion haben, einen gemeinsamen Ursprung, eine gemeinsame Vergangenheit einer deutschen Nation narrativ herzustellen, die der zeitgenössischen Zersplitterung der Nation entgegen gesetzt werden. Konstruiert wird ein »nationale[s] Vermächtnis[ ]« (S. 18), das – so die Selbstauffassung der Autoren – durch den Literaturhistoriker aus den Texten hergeleitet und einem Publikum vermittelt werden kann.

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Schlegels Geschichte der alten und neuen Literatur beispielsweise ist intensiv damit befasst, eine homogene Überlieferungsgeschichte zu entwickeln und fremde Einflüsse zu marginalisieren oder auszuschließen. Angeboten wird ein »genealogisches Modell […], mittels dessen divergente Herkünfte überdeckt und eine Einheit konstruiert werden kann.« (S. 31). Verbunden ist mit diesem Modell aber auch – und dieser Aspekt ist für Kilchmann von besonderem Interesse – das »Narrativ familiärer Herkunft« (S. 34). Sprechen Literaturhistoriker von ›Generationen‹, von ›Vätern‹ und ›Ahnen‹, so wird Literaturgeschichte, und damit auch Nationalgeschichte, zur Familiengeschichte. Literarische Familiengeschichten der Zeit aber – wie etwa die Schwarze Spinne oder die Judenbuche – erhalten vor diesem Hintergrund eine ganz neue Dimension.

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Schlegel beschreibt im weiteren Verlauf die Entstehung der deutschen Literatur aus der Verbindung von Antike, Juden- und Christentum und dem »Nordischen« als ›Veredelung‹ eines ›Stammes‹ mit dem »Bild einer Pfropfung« (S. 37):

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»Veredelt« wird dieses Nordische, indem ihm die höchste Stufe zu der der indisch-mosaisch-griechische Stamm gelangen konnte, nämlich das Christentum, aufgepropft wird. Umgekehrt ist es für den Stamm nur möglich, sich noch weiterzuentwickeln, indem dessen höchste Stufe (das Christentum) von seiner Genealogie (indisch-mosaisch-griechisch) abgeschnitten und auf die nordische Wurzel aufgepflanzt wird. (S. 38)
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Ein wenig in einer Fußnote versteckt weist Kilchmann auf den interessanten double-bind hin, der sich in diesem Bild der Veredelung oder Pfropfung verbirgt. Die Pfropfung nämlich ist nicht nur eine Verbindungsstelle, ein Ort des (veredelnden) Übergangs, sie ist auch, wechselt man die Perspektive, eine Bruchstelle und damit der Punkt, an dem das Narrativ und damit auch das gesamte Modell, das Schlegel entfaltet, gefährdet ist. (Vgl. S. 37, Anm. 31).

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Auch in Gervinus’ von 1835–1842 erschienenen Geschichte der poetischen Nationalliteratur der Deutschen – die zum Standardwerk der Literaturhistorie avancierte und enorme Wirkmacht entfaltete – wird Literatur nicht als »Produkt von Motivwanderungen und Einflüssen verschiedener Traditionen, sondern als nationale Erbschaft« begriffen. (S. 19) Dabei rekurriert Gervinus’ Schreiben auf das, was Kilchmann im Anschluss an Hinrich C. Seeba 9 als »Singularisierung des Geistes« (S. 41) beschreibt. Mit der Konstruktion eines ›singulären Geistes‹, der sich in den literarischen Texten zu äußern vermag, ist es möglich, eine Geschichte zu entwerfen, die – sich auf das Wirken dieses Geistes als »vereinheitlichende nationale Größe« (S. 48) berufend – geradezu teleologisch auf das Ziel der nationalen Einheit zuläuft.

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Rückgebunden wird dieses Prinzip in zahlreichen der Literaturgeschichten an die Vorstellung eines gemeinsamen Ursprungs in gemeinsamen mythischen Ahnen, entwickelt wird – die Verfasser der Historien werden dabei zu »Mythographen« (S. 51) – ein Ursprungsszenario, das meist an einen Namen gebunden ist: Arminius. Konstituiert wird dabei nicht nur Arminius als ›Vater der Nation‹ – schließlich gelang ihm die Einigung der germanischen Stämme –; spekuliert wird gleichzeitig über mögliche Ursprünge einer deutschen Literatur, über germanische Gesänge etwa, über deren Form reflektiert wird, obwohl es keinerlei Überlieferungen solcher Gesänge gibt.

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Heines Grenzüberschreitungen

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Diesem Modell von Kontinuität, das von langen, ununterbrochenen Traditionslinien ausgeht und mit der Stilisierung eines deutschen Geistes und dem Ausschluss ›fremder‹ Einflüsse operiert, wird in Heinrich Heines Texten ein dynamisches Modell der Literatur- und Kulturgeschichte entgegengesetzt: »Heine«, so erklärt Kilchmann, »denkt hier zusammen, was gleichzeitig von den Literaturhistorikern getrennt wird. Dichtung und Geschichte, Geist und Geister, Nation und Übersetzung.« (S. 20) Heines Texte – wie etwa die Sammlung De l’Allemagne aber auch das Wintermärchen – inszenieren Grenzüberschreitungen. Nicht nur diejenigen des Erzählers zwischen Deutschland und Frankreich (die immer einen Kultur- und ›Systemwechsel‹ bedeuten), sondern auch zwischen den Genres und den Disziplinen. De l’Allemagne, transgrediert die Konventionen der Literatur- und der Kulturgeschichte und legt so – damit Axiome des narrative turn antizipierend – den narrativen Charakter der Geschichtsschreibung, deren Rekurs auf das Erzählerische, auf narrative Strategien, offen.

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Zusammengedacht werden dabei Literatur und Nation als Orte der Übertragung, der Überlagerung und der Verschiebung, mithin also als Orte der wechselseitigen Beeinflussung und der Widersprüche, die nicht in einem linearen Modell von Literaturgeschichte aufgehen können. Heine, so erläutert Kilchmann, verstehe Geschichte

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vielmehr als Prozess von Überlagerung und Unterdrückung verschiedener religiöser Stufen und politischer Herrschaftsformen sowie als verborgenes Fortleben und Wiederhervorbrechen überwunden geglaubter Auffassungen und Affekte. Historische Brüche und kultureller Wandel sind somit nicht Resultate einer kontinuierlichen Fortschritts- oder Verfallsgeschichte, sondern Effekte von Kräfteverschiebungen im inneren Spannungsverhältnis der Kultur. (S. 83)
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Dieses Modell einer Literatur- und Kulturgeschichte zeichnet sich durch das Interesse an Ungleichzeitigkeiten aus, es durchkreuzt die Idee eines Geistes, der alles vereinheitlicht, und beschreibt die Orientierung an den Ahnen, den Blick in die Gräber der Vorfahren als affektive Bindung an Gespenster. Erzählstrategisch bedeutet das,

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jene Dynamiken zu fokussieren, die Konstruktionen chronologischer und systematischer Ordnungseinheiten immer wieder stören: unabgeschlossene affektive Bindungen an Tote und Totes, dem übergreifenden Geist im Singular widerlaufende Geister und das entstellte Fortwirken überwundener Glaubensinhalte. (S. 101).
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In diesem Sinne liefert Heine ein Modell, das Kilchmanns Zugriff auf die Texte Gotthelfs und Droste-Hülshoffs strukturiert. Geliefert werden Lektüren, die auf Bindungen an Tote und Totes, auf Geister und Gespenster, auf unsichere Herkünfte und schwierige Erbschaften abheben.

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Arachnophobie, Arachnophilie und das Abjekte – Gotthelfs Schwarze Spinne

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In ihren Lektüren zeigt Kilchmann nicht nur das Potenzial der gewählten Mikroperspektive, sondern auch ihr enormes literaturwissenschaftliches Gespür. An Gotthelfs Bildern und Sagen aus der Schweiz arbeitet sie zunächst die darin entfaltete Übertragung von patriarchalen Familienordnungen auf die Ordnung der Nation heraus. Auf beiden Ebenen geht es laut Kilchmann um die Überlieferung von moralischen und materiellen Werten. Dabei liefert die Familie, beziehungsweise deren Generationenfolge, das Modell der Übertragung, der Vererbung. So weit, so gut: Diesen Konnex nämlich hat die Forschung in den Texten Gotthelfs bereits gesehen und auch beschrieben. Kilchmanns Zugriff aber unterscheidet sich an dieser Stelle, denn sie fokussiert nicht die Kontinuitäten, nicht den gelungenen Entwurf einer Genealogie, nicht die gelungene Tradierung, sondern die Brüche, die dieser erzählten, konstruierten Genealogie eingeschrieben sind. In ihrer präzisen Lektüre der Schwarzen Spinne wird deutlich, »dass das, was als vermeintliche Grundfestigkeit des Gotthelfschen Hauses und der daran ausgerichteten Größe des ›Vaterlandes‹ erscheint, aus der Schaffung eines prekären Gleichgewichtes in der ständigen Ausbalancierung häuslicher Ambivalenzen resultiert.« (S. 21).

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In Gotthelfs Spinne – das zeigt Kilchmann, nah am Text argumentierend – funktioniert diese Herstellung von Einheit zum einen über das Erzählen, über die Erzählung des Großvaters, die vermeintliche Brüche in der Genealogie, das heißt ein »Nichtwissen« (S. 126) um die eigene Herkunft, kouvriert und eine ›reine‹ Abstammung zu entwerfen bemüht ist. Dabei wird die mögliche Herkunft von einer Frau negiert, deren Verhalten traditionelle Geschlechterkonventionen transgrediert, und die sich in eine Spinne verwandelnde Figur wird um den Preis des eigenen Lebens bekämpft.

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Gleichzeitig aber wird dieses Ausgeschlossene und Verdrängte, das Abjekte – wie Kilchmann es auf Kristeva rekurrierend bezeichnet – im Innersten der Ordnung, im Haus der Familie, eingeschlossen. Dabei ist der Ort dieses Eingeschlossenen mit dem schwarzen Balken stets markiert und präsent, der double-bind von Arachnophobie und Arachnophilie, den Kilchmann überzeugend herausarbeitet, besteht darin, dass dieser Punkt, obwohl er eigentlich verschwiegen und zum Familiengeheimnis werden soll, zum ›Familienroman‹ wird, der immer wieder zu Erzählungen herausfordert, immer wieder thematisiert werden muss. Das die Ordnung gefährdende Element wird erzählerisch immer wieder freigesetzt: »Auf diese Weise wirkt ebendas stabilisierend, was die Ordnung primär bedroht, und muss aus diesem Grunde durch Erzählung in seiner bedrohenden Funktion erhalten werden.« (S. 180)

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Wer hat Angst vor Hermann? – Drostes Schilderungen und die Judenbuche

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Wie Gotthelf, so widme sich auch Droste den »Verwerfungslinien im Familiengefüge« (S. 147): »Anders als bei Gotthelf«, so Kilchmann, gehe »es aber hier nicht darum, kleinere Einheiten – wie die Familie – zu ordnen, um die Funktionstüchtigkeit größerer – wie des ›Vaterlandes‹ – sicher zu stellen. Im Gegenteil ist es bei Droste-Hülshoff umgekehrt das vermeintlich Homogene, das im Lauf des Erzählens auseinander fällt.« (S. 147 f.) In der Forschung zur Judenbuche – bei der es sich immerhin um einen Text handelt, der zu den meistdiskutierten des 19. Jahrhunderts zählt – stellt Kilchmann deshalb einen grundlegenden Mangel fest:

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Es wurde […] nicht weiter beachtet, dass die 1842 genau während des Baubeginns des Hermannsdenkmal erscheinende Erzählung im Teutoburger Wald spielt, durch den auch noch ein Gespenst namens Hermann spukt – wie bereits im Gedicht Die Stadt und der Dom scheint darin durchaus auch ein parodistisches Moment in Drostes Beschäftigung mit dem nationalen Diskurs auf. (S. 149 f.)
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Tatsächlich gelingt es Kilchmann, vor dieser Folie der Judenbuche und den Westphälischen Schilderungen überaus interessante neue Aspekte zu entbergen. Es zeigt sich, dass in Drostes Texten ausgerechnet jener Raum, der Teutoburger Wald, der in der nationalen Einheitsbewegung zu dem Ort stilisiert wurde, an dem der Ursprung einer vereinten deutschen Nation liegen soll, zum Schauplatz von tiefgreifender Rechtsverwirrung im öffentlichen und privaten Bereich, zum Ort prekärer Genealogien avanciert. Ordnungen und jegliche Form ordnungsstiftender Instanzen wie Familie, Gesetz, Obrigkeit oder auch die Religion – das zeigt die engagierte Lektüre – scheitern in Drostes Texten fortwährend, und es zeigt sich, wie »Gewalt gegen Juden mit christlich-heidnischen, standes- und geschlechtsspezifischen Uneinheiten gleichsam implodiert.« (S. 21).

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Wie sich dieses Versagen von Ordnungen von der familiären auf die nationale Ebene übertragen lässt, zeigt Kilchmann in einer Analyse der Signifikantenspiele in Drostes magnum opus; hier am Beispiel der ›Narben‹ und ›Flecken‹. An einer Narbe wird der sich schließlich in der Judenbuche Suizidierende erkannt, so scheint es zumindest auf den ersten Blick. Verweisen kann diese Narbe auf den Fleck an der Schläfe des Juden Aaron, wo er den Punkt markiert, an dem das Opfer der tödliche Schlag traf. Voller Flecken, voller Versehrungen ist aber auch das corpus delicti im Falle des Mordes am Förster Brandis. Auf der Axt, mit der der Förster erschlagen wurde, zeigen sich zunächst während der Verhandlung die eingetrockneten Blutflecken, später, nachdem der Fall nicht aufgeklärt werden kann und die Axt im Archiv verschwindet, die Rostflecken. Schließlich aber – und hier lässt sich eine Übertragung des Geschehens auf die Nation ansetzen – handelt es sich bei dem Dorfe B., in dem all dies geschieht, um einen Ort, wie es derer in Deutschland so viele gibt: um einen ›Fleck‹ mitten in Deutschland.

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Mit dieser Lektüre der Judenbuche – eine ganz ähnlich operierende Analyse, die die Signifikantenspiele mit dem ›Schlag‹ in Drostes Text verfolgt, liefert Claudia Liebrand in ihren Kreativen Refakturen 10  – vermag Kilchmann ein neues Licht auf Drostes Texte zu werfen, die sich, wie Liebrand das für zahlreiche der Droste’schen Texte beschrieben hat, in ihrer Buchstäblichkeitsmanie in Verbindung setzen lassen zu Texten der Klassischen Moderne und die das Bild des politisch und ästhetisch konservativen Adelsfräuleins, das von der Forschung lange Zeit propagiert wurde, zu durchkreuzen vermag. 11 »Die Droste« – so erklärte Heinrich Detering zum 200. Geburtstag der Autorin –»ist alles andere als eine gemütvolle Heimatdichterin« 12 : Arbeiten wie die Esther Kilchmanns, Claudia Liebrands oder Peter von Matts vermögen dieses Diktum eindrücklich zu belegen.

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Lesen! Ein Fazit

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Kilchmanns Buch hat eine Qualität, die ihr auch als Schwäche ausgelegt werden kann: Auf knapp 180 Seiten liefert die Hamburger Juniorprofessorin eine tour de raison durch zentrale Texte der Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, durch die Texte Heinrich Heines, Georg Herweghs, Jeremias Gotthelfs und Annette von Droste-Hülshoffs. Dabei kommen – so ließe sich sicherlich kritisieren – manche Bereiche zu kurz. Die Auseinandersetzung mit der Frage nach der »Singularisierung des Geistes« beispielsweise hätte durchaus umfangreicher sein können, wie auch die Herleitung einzelner, auf Texte Kristevas, Derridas oder Freuds rekurrierender Termini. Auch die Positionierung des Bandes in der »aktuellen literaturwissenschaftlichen Diskussion um den Ort der Literatur im modernen Wissensgefüge« (S. 181) – die nicht auf einen der zentralen Texte zum Thema, auf die Poetologien des Wissens 13 eingeht – gerät ein wenig kurz.

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Allerdings kann man – und der Rezensent plädiert mit Nachdruck dafür – das auch anders sehen: In der Kürze des Bandes nämlich liegt auch seine Qualität. Die Verwerfungen in der Einheit enthalten pointierte, exakte Lektüren und enorm präzise Überblicke, die Verfasserin führt keine ellenlangen Auseinandersetzungen um Begriffsdefinitionen in den Fußnoten, wie dies heute beinahe üblich erscheint. Stattdessen macht Kilchmann das, was Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler auszeichnet: Sie liest. Genau, exakt, immer wieder – und arbeitet so die Funktionsweisen der Texte und deren Verwerfungen heraus. 14 Damit liefert ihre Untersuchung das, was literaturwissenschaftliche Arbeiten liefern sollen: überraschende, innovative Lektüren, die die Texte ›beim Wort‹ nehmen und sich nicht von Epocheneinteilungen und Vorurteilen zu Autoren irritieren lassen.

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Den Verwerfungen in der Einheit wünscht man deshalb viele Leserinnen und Leser.

 
 

Anmerkungen

Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815–1848. Stuttgart 1971–1980.   zurück
Vgl. Peter von Matt: »Ihr guten Leute und schlechten Musikanten!« Über die biographische Falle im Umgang mit der Literatur. In: P.v.M: Das Wilde und die Ordnung. Zur deutschen Literatur. München 2007, S. 239–247.   zurück
Ebd., S. 239.   zurück
Michael Titzmann: Zur Einleitung: ›Biedermeier‹ – ein literaturhistorischer Problemfall. In: M.T.: Zwischen Goethezeit und Realismus. Wandel und Spezifik in der Phase des Biedermeier. Tübingen 2002, S. 1–7.   zurück
Walter Erhart: »Das Wehtun der Zeit in meinem innersten Menschen.« ›Biedermeier‹, ›Vormärz‹ und die Aussichten der Literaturwissenschaft. In: Euphorion 102/2 (2008), S. 129–162.   zurück
Zu nennen wären beispielsweise: Eva Geulen: Worthörig wider willen. Deutungsproblematik und Sprachreflexion in der Prosa Adalbert Stifters. München 1992; Franziska Schößler: Das unaufhörliche Verschwinden des Eros. Sinnlichkeit und Ordnung im Werk Adalbert Stifters. Würzburg 1995; Christian Begemann: Die Welt der Zeichen. Stifter-Lektüren. Stuttgart 1995; Cornelia Blasberg: Erschriebene Tradition. Adalbert Stifter oder das Erzählen im Zeichen verlorener Geschichten. Freiburg 1998.   zurück
Vgl. Michael Titzmann (Hg.): Zwischen Goethezeit und Realismus. Wandel und Spezifik in der Phase des Biedermeier. Tübingen 2002.   zurück
Jürgen Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte. Entstehung und Scheitern einer nationalen Poesiegeschichtsschreibung zwischen Humanismus und Deutschem Kaiserreich. Stuttgart 1989.   zurück
Hinrich C. Seeba: Zeitgeist und deutscher Geist. Zur Nationalisierung der Epochentendenz um 1800. in: DVjs 61 (Sonderheft 1987), S. 188–215.   zurück
10 
Claudia Liebrand: Kreative Refakturen. Annette von Droste-Hülshoffs Texte. Freiburg 2008, S. 203.   zurück
11 
Vgl. dazu auch: Claudia Liebrand / Irmtraud Hnilica / Thomas Wortmann (Hg.): Redigierte Tradition. Literaturhistorische Positionierungen Annette von Droste-Hülshoffs. Paderborn u.a. 2010.   zurück
12 
Heinrich Detering: Nirgends ist es ganz geheuer. Die Droste war alles andere als eine gemütvolle Heimatdichterin. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 04.01.1997.   zurück
13 
Joseph Vogl (Hg.): Poetologien des Wissens um 1800. München 1999.   zurück
14 
Vgl. dazu auch Frauke Berndt: »Ghostbuster«. (Rezension über: Yvonne Wübben, Gespenster und Gelehrte. Die ästhetische Lehrprosa G. F. Meiers (1718–1777), Tübingen 2007), in: IASLonline [26.04.2009]. URL: http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=2995. Datum des Zugriffs: 22.09.2010.   zurück