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Was Walther von der Vogelweide,
Friedrich Hölderlin, Theodor Fontane, Karl Marx und Bob Dylan zusammenbringt.

Die Editionswissenschaft als lebendige Disziplin

  • Martin Schubert (Hg.): Materialität in der Editionswissenschaft. (Beihefte zu editio 32) Berlin: Walter de Gruyter 2010. 493 S. 95 s/w Abb. Paperback. EUR (D) 129,95.
    ISBN: 978-3-11-023130-4.
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Offene Türen

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Noch vor wenigen Jahren hätten die illegalen Konzertmitschnitte von Bob Dylans Never ending tour nichts auf einer wissenschaftlichen Tagung über editorische Fragen zu suchen gehabt. Etwas exotisch wirken diese Bootlegs auch heute noch zwischen mittelalterlichen Handschriften, Wasserzeichenkunde und Theodor Fontanes Notizbüchern, doch die technische Entwicklung, vor allem die Digitalisierung, hat in den Editionswissenschaften neue Türen aufgestoßen. Gleichzeitig ist das Interesse der Geistes- und Kulturwissenschaften am Material und an der Materialität erheblich gewachsen. Dabei haben sich neue – zum Teil überraschende – Anknüpfungspunkte, Schnittmengen, Fragestellungen und Herausforderungen entwickelt.

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Die Tagung

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Im Verlauf dieser erfreulichen Entwicklung ist allerdings ein wenig der Überblick verlorengegangen. Um diesem Missstand abzuhelfen, stellte die Arbeitsstelle Deutsche Texte des Mittelalters (DTM) der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften ihre 12. internationale und interdisziplinäre Tagung vom 13. bis 16. Februar 2008 unter das Thema Materialität in der Editionswissenschaft. Erklärtes Ziel der Tagung war eine umfassende Auseinandersetzung mit Materialität aus der Perspektive verschiedener Disziplinen, in der sowohl pragmatische als auch theoretische und philosophische Aspekte berücksichtigt werden. 1 Schon bald nach der Tagung wurden die Plenumsvorträge im Jahrbuch editio 22 veröffentlicht 2 . Die übrigen 35 Beiträge sind kürzlich von Martin Schubert, dem Leiter der Arbeitsstelle DTM, in einem eigenen Band herausgegeben worden.

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Das Arbeitsfeld der Editionswissenschaften

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Alles, was aufgezeichnet wird, entsteht zunächst im Kopf. Erst in dem Moment, wo es in irgendeiner Form fixiert wird, wird es im wahrsten Sinne des Wortes greifbar, wird Materialität. In den vielen Jahrhunderten, in denen die Handschrift das einzige Überlieferungsmedium war, kann man Materialität mit Beschreibstoff und Schreibwerkzeug gleichsetzen. Im 15. Jahrhundert kommt der Druck dazu, gegen Ende des 19. Jahrhunderts wird durch den zunehmenden Gebrauch der Schreibmaschine der Unterschied zwischen Manuskript und Druck verwischt und die individuelle Schrift weicht standardisierten Typen. Im vorigen Jahrhundert erschließen akustische und digitale Aufzeichnungen ganz neue Überlieferungswege. Mit der Frage, wie die sehr verschiedenen überlieferten Originale wiedergegeben und vervielfältigt werden können, beschäftigen sich die Editionswissenschaften.

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Ein breites Themenspektrum

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Dem Tagungsziel entsprechend ist das Spektrum der Beiträge zeitlich wie thematisch ausgesprochen breit angelegt, ohne sich jedoch in Beliebigkeit zu verlieren. Den Anfang machen zwei Aufsätze zur Analyse von Tinte und Wasserzeichen und drei eher theoretisch ausgerichtete Aufsätze über Briefeditionen und das Sammeln von Autographen. Der anschließende lange Reigen anschaulicher Beiträge, die editorische Fragen an Fallbeispielen erörtern, beginnt mit Luigi Reitamis »Schreiben, setzen, einritzen. Hölderlins Schreibszene im Homburger Folioheft« (S. 89–94). Friedrich Hölderlin hatte das Folioheft wohl ursprünglich für Reinschriften vorgesehen, diesen Vorsatz aber nur 15 Seiten lang durchgehalten, danach benutzte er das Heft ausschließlich für Entwürfe. Dichtbeschriebene Seiten wechseln sich mit leeren und solchen Seiten ab, die nur wenige Zeilen oder einen Titel aufweisen. Hält man die auf den ersten Blick vollkommen leer wirkende S. 40 gegen das Licht, erkennt man einige Zeilen, die mit trockener Feder eingeritzt wurden: »Und der Himmel wird wie eines Mahlers Haus / Wenn seine Gemählde sind aufgestellet.« Hier gehen Materialität und Bedeutung eine untrennbare Verbindung ein. Wie lässt sich so etwas edieren oder – wie Reitami es ausdrückt – in das Modell der Edition übersetzen? Was kann und soll eine Edition überhaupt leisten? Welche Symbiose von traditionell editorischem Handwerk und neuester Technologie ist möglich, notwendig und sinnvoll?

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Roter Faden

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Fragen dieser Art ziehen sich wie ein roter Faden durch die Beiträge. So stellt etwa Ulrich Bubrowski die Notizbücher Ernst Barlachs vor (S. 121–133), denen man die physische Intensität von Barlachs Schreiben, sein »Ringen mit der Materie und den Materialien« deutlich ansieht (S. 133). Ernst Barlach benutzte seine Notizbücher im Hoch- wie im Querformat, er riss Seiten heraus, klebte andere Seiten ein oder nähte sie gar an –»verholzte Dickichte« nannte er sie selbst einmal (S. 132). Die Notizbücher Ernst Barlachs machen auch deutlich, wie wichtig das Schreiben für den Künstler war, der den meisten eher als Bildhauer denn als Schriftsteller bekannt ist.

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Die Tagebücher des Schriftstellers, Weltreisenden, Politikers und Pazifisten Harry Graf Kessler enthalten neben Tagebuchaufzeichnungen auch kunsttheoretische Betrachtungen, Zeichnungen, Fotos, Zeitungsartikel, Recherchen, Fahrpläne, Eintrittskarten und Dienstbefehle. Angela Reinthal beschreibt die Schwierigkeiten, diese Arrangements in eine Edition zu übertragen (S. 135–144). Neben dem Problem der Darstellung steht die Frage nach der Relevanz der einzelnen Einträge. Ist es beispielsweise sinnvoll, die Dienstbefehle in den Editionstext hineinzunehmen oder gehören sie eher in die Anmerkungen?

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Vor ähnlichen Problemen steht Gabriele Radecke bei den bisher weitgehend unveröffentlichten Notizbüchern Theodor Fontanes (S. 95–106). Die Notizbücher waren Fontanes ständige Begleiter und dienten ihm für Aufzeichnungen aller Art wie etwa für Mitschriften, Beschreibungen von Schlachtfeldern, Entwürfe für Theaterkritiken oder Tagebucheinträge im engeren Sinne. Kartenmaterial und Zeitungsausschnitte fehlen auch hier nicht. In diesen Notizbüchern spiegelt sich »die Aura des ganzen Fontane« (S. 98). Von ihrer Edition erwartet Gabriele Radecke sicher zu Recht neue Zugänge zum erzählerischen und journalistischen Werk des Dichters.

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Bei den Texten Walthers von der Vogelweide können wir leider nicht auf Autographen zurückgreifen. Walthers Ton 36/36a ist in vier Handschriften in unterschiedlicher Konsistenz überliefert. Die Ausgabe Christoph Cormeaus von 1996 erweckt den Eindruck, es habe »zwei Lieder gegeben [...], die man nun interpretieren kann« (S. 269). 3 Durch sorgfältige Analysen des Überlieferungsbefundes hat Thomas Bein herausgearbeitet, dass es sich bei Walthers Ton 36/36a um »vier nebeneinander existierende[ ] Strophenkomplexe[ ] ähnlicher Bauform« handelt (S. 273). Obwohl er mit dem Stand der Dinge noch nicht ganz zufrieden ist, gewährt Thomas Bein einen Blick in die laufende Arbeit an einem neuen Editionskonzept, das weniger irreführend ist als die Darstellung Cormeaus (S. 267–274).

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Die Edition der Zukunft

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Wäre das mittlerweile recht kostengünstig zu produzierende digitale Faksimile möglicherweise die Lösung der angesprochenen Probleme? Die übereinstimmende Antwort lautet: Es ist ein wichtiger Beitrag, der Weisheit letzter Schluss ist es jedoch nicht. So zeigt etwa Richard Sperl am Beispiel der Marx-Engels-Gesamtausgabe, wie wichtig nicht nur die Umschrift der oft nur schwer lesbaren Handschriften ist, sondern auch, welche Bedeutung die editorische Erschließung und Bearbeitung für das Werkverständnis hat (S. 193–208). Mit einem Faksimile wäre nur absoluten Spezialisten gedient. Editionen jedoch sind »Dienstleistungen« und müssen »zuvörderst von den Bedürfnissen ihrer [...] Nutzer getragen« und für diese »nützlich, leicht erfassbar und verständlich« sein (S. 201).

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Als Modell der Zukunft kristallisiert sich die Hybridedition heraus, die aus einer Kombination von Buch und digitalem Medium besteht. Das digitale Medium (CD-Rom, DVD, Online-Ressource) gibt das Faksimile, die komplette Umschrift, über das Werk hinausweisende Quellentexte etc. wieder, während das Buch den Editionstext mit Apparat und Anmerkungen enthält. Es bleibt weiterhin die Aufgabe der Editoren und Editorinnen, den Text zu erschließen und individuelle Darstellungsweisen zu finden, die Textgenese und materiale Besonderheiten sichtbar machen. Für das Gelingen der editorischen Arbeit konstatiert Luigi Reitami am Ende seines Beitrags eine wesentliche Bedingung: »Wenn wir aber lernen werden, die Subjektivität unserer Arbeit zu schätzen und nicht zu tabuisieren, so werden wir immer bessere Modelle entwickeln, die die Materialität der Texte überzeugend darstellen können« (S. 94).

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Zum guten Schluss

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Sechs Beiträge, die auf Grund ihrer Länge oder ihrer Ausrichtung wohl nicht besser unterzubringen waren, schließen den Band ab. Hier findet sich auch der Aufsatz über Bob Dylans Bootlegs, in dem Johannes John aufzeigt, welch gigantische Aufgabe allein die Verzeichnung der verschiedenen musikalischen Fassungen der Stücke bedeutet, die Dylan auf den bislang über 1400 Konzerten seiner Never ending tour vorgetragen hat (S. 469–480). 115 Tage und Nächte Hörarbeit nonstop hat Johannes Johns für einen einfachen Durchlauf des Materials errechnet – eine Aufgabe, die »selbst hartgesottene Enthusiasten über den Rand ihrer Leistungsfähigkeit befördert[ ]« (S. 480).

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Bob Dylan ist nie juristisch gegen die Verbreitung der Bootlegs vorgegangen, obwohl das Urheberrecht ganz auf seiner Seite ist. In zahlreichen anderen Fällen stellt sich die Rechtslage viel komplizierter dar. Die Streitigkeiten um die Nachlässe Heinrich Bölls oder Ingeborg Bachmanns sind prominente Beispiele dafür, welche Bedeutung das Urheberrecht für die editorische Arbeit haben kann. Im letzten Beitrag des Bandes widmet sich deshalb Winfried Woesler dem Urheber-, Eigentums- und Nutzungsrecht, dessen Anwendung in Zeiten des ›Copy and Paste‹ immer diffiziler wird (S. 481–489).

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Die Editionswissenschaft zeigt sich in den 35 sorgfältig lektorierten Beiträgen des Tagungsbandes als lebendige, vielseitige Disziplin mit spannenden Projekten und großer Offenheit für neue Entwicklungen. Jenseits der hier vorgestellten Aufsätze gibt es in dem Band etliche weitere höchst interessante Beiträge zu entdecken, wie etwa »Clean Cuts« von Kerstin Reimann, in dem man mit den mannigfaltigen Schnitt- und Klebekanten im Werk Ödön von Horvaths bekannt gemacht wird, oder die musikwissenschaftlichen Anmerkungen Matthias Strucks zum Werk von Johannes Brahms. Schade ist indes, dass fremdsprachige Überlieferungen und solche von Frauen entschieden unterrepräsentiert sind, Außereuropäisches kommt überhaupt nicht vor. Vielleicht wäre dies ja eine interessante Aufgabe für eine der nächsten Tagungen, deren Beiträge idealerweise in einer Hybridedition – bestehend aus einem Buch mit den Aufsätzen und einer CD-Rom mit den dazugehörigen Abbildungen − erscheinen könnten.

 
 

Anmerkungen

Das Programm zur Tagung steht online als PDF zur Verfügung. Martin Schubert: 12. internationale Tagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition: Programm (27.3.2006).URL: http://dtm.bbaw.de/materialitaet2008.html (2.8.2010)   zurück
editio. Internationales Jahrbuch für Editionswissenschaft 22 (2008). Das Inhaltsverzeichnis von editio 22 kann hier eingesehen werden: URL: http://www.reference-global.com/doi/book/10.1515/9783484605046   zurück
Vgl. Walther von der Vogelweide. Leich, Lieder Sangsprüche. Hg. von Christoph Cormeau. Berlin: de Gruyter 1996.   zurück