IASLonline

Phantomtränen statt Spiegelneuronen

Zur Kulturgeschichte der Empathie

  • Claudia Breger / Fritz Breithaupt (Hg.): Empathie und Erzählung. Freiburg: Rombach 2010. 321 S. Paperback. EUR (D) 46,00.
    ISBN: 978-3-7930-9620-7.
[1] 

Rückkehr des Empathie-Begriffs

[2] 

Sich beim Lesen eines narrativen Textes in eine Figur einzufühlen, ihre Freude, ihre Ängste oder ihren Schmerz zu verspüren – wer kennt das nicht? Dennoch galt ›Einfühlung‹ lange Zeit als rotes Tuch der Literaturwissenschaft. Vermeintlich verweist sie auf eine naive Rezeptionshaltung auf Seiten des Lesers oder gar einen fragwürdigen Rückgriff auf die Emotionen des Autors. Doch die interdisziplinäre Konjunktur der Emotionsforschung 1 seit Mitte der 1990er Jahre im Allgemeinen und die kognitionswissenschaftliche Entdeckung der Spiegelneuronen 2 im Besonderen hat die Empathie-Forschung unter neuen Vorzeichen anschlussfähig gemacht. 3 Beobachtet ein Mensch die emotional expressiven Bewegungen eines anderen, wird präflexiv ein neuronaler Spiegelmechanismus aktiviert, der reagiert, ›als ob‹ der Beobachter die Emotionen des Anderen selbst erleben würde. Damit erscheint die biologische Grundlage für die Fähigkeit zur Empathie gefunden.

[3] 

Die Herausgeber des Sammelbands Empathie und Erzählung 4 , Claudia Breger und Fritz Breithaupt, schlagen neben dem als ›cognitive‹, ›affective‹ oder ›neurobiological‹ bezeichneten gegenwärtigen ›turn‹ noch einen anderen Grund für die »Rückkehr des Empathie-Begriffs« (S. 9) auf die Bildfläche insbesondere der kulturwissenschaftlichen Forschung vor. Ihre These ist, dass »sich Leitbilder der Konzeptualisierung des Humanen verändert haben« (S. 9) – nämlich eine Rücknahme der zwei Jahrhunderte währenden Idee des Menschen als selbstgesteuertes Individuum stattgefunden hat. Nicht Individualität, Differenz und Alterität sind in der Post-Postmoderne die vorrangigen Paradigmen, sondern Theorien der Gemeinschaft und Intersubjektivität. Empathie-Theorien versprechen, so die Herausgeber, eine solche Kollektivfähigkeit der Individualität voranzustellen. Dieses Versprechen »ernstzunehmen, zugleich aber analytisch-kritisch in den Blick zu bekommen« (S. 11), ist Ziel des vorliegenden Bands.

[4] 

Gegenstand der Forschung

[5] 

Der Begriff ›Empathie‹ geht auf den Neologismus ›empathy‹ zurück, mit dem der amerikanische Psychologe Edward B. Titchener 1909 den deutschen Terminus ›Einfühlung‹ übersetzte. 5 Im Gegensatz zu dieser relativ kurzen Begriffsgeschichte ist das Phänomen der Einfühlung bis zu Aristoteles’ Mitleidskonzeption und zur antiken Rhetorik zurückzuverfolgen. Der Sammelband Empathie und Erzählung bezieht diese wirkmächtige Vorgeschichte der Empathie explizit ein. Damit steht eine »weit gefasste Palette an Formen des In-die-Haut-des-anderen-Schlüpfens« zur Diskussion, »angefangen von unwillkürlicher emotionaler Ansteckung bis zu ästhetischem Mitleid und aktiven Formen der Einfühlung; dabei werden sowohl emotionales Verstehen als auch intellektuelles Ausleuchten der Situation eines anderen als Formen von Empathie erfasst.« (S. 9) Indem die Beiträge der Geschichte, den verschiedenen Verwendungen und dem jeweiligen theoretischen Potential solcher mit dem heute vorherrschenden Terminus ›Empathie‹ verbundenen Begriffe wie ›Mitleid‹, ›Einfühlung‹ oder ›Identifikation‹ nachgehen, liefert der Sammelband wertvolle Bausteine zu einer kulturellen Geschichte der Empathie.

[6] 

Claudia Breger und Fritz Breithaupt konzipieren ihren Sammelband überzeugend jenseits vermeintlicher Fronten von ›cognitive‹ und ›linguistic turn‹, indem sie »die konkreten Modellbildungen der Kognitionswissenschaft mit fortgeführter Reflexion auf die rhetorische (oder sozio-symbolische) Konstitution von Wissen wie Emotion« (S. 12) zu verbinden streben. Sie gehen davon aus, dass empathische Prozesse maßgeblich durch kulturelle Vorgaben strukturiert werden (S. 12). Eine besondere Rolle spielen dabei Erzählungen. Grundlegend ist die These, »dass Empathie auf entscheidende Art und Weise durch narrative Prozesse erzeugt, konfiguriert und gelenkt wird« (S. 11). Erzählungen werden dabei zum einen in einem weiteren Sinne als kulturelle Deutungsmuster verstanden, die kulturhistorisch variierende Voraussetzungen für das Empfinden von Empathie vermitteln. Zum anderen werden Erzählungen im engeren Sinn als eine bestimmte Form mentaler Repräsentationen aufgefasst, in welchem Fall der Prozess der Empathie selbst narrativ strukturiert wäre. »So würde der Beobachter eines anderen dessen Situation dadurch miterleben, dass er sie narrativ verarbeitet, sich also die Situation des anderen als Geschichte erzählt.« (S. 13) Daran schließen die Herausgeber die Überlegung an, welche Formen von Erzählung aus welchen Gründen Empathie bewirken.

[7] 

Dass Literatur, Film und Theater einen besonders aussagekräftigen Gegenstand für die Erprobung solcher Fragestellungen darstellen, ist Ausgangspunkt des vorliegenden Bands. Wenn Erzählbarkeit ein Konstituens von Empathie ist und Verstehensprozesse einen Moment des ›als-ob‹, also mithin des Fingierens enthalten, dann lassen sich ästhetische Texte als ein »Ort der ›Empathieverdichtung‹« (S. 14) in den Blick nehmen. Nicht zuletzt fragt der vorliegende Band damit nach den jeweiligen formalen und rhetorischen Mitteln des Erzählens, nach Erzähl-Perspektiven und literarischen Genres, die Empathie erzeugen, lenken oder blockieren.

[8] 

Anlage des Bands

[9] 

Die Beiträge des Sammelbands sind chronologisch nach ihren Gegenständen angeordnet. Im Folgenden bilde ich die zentralen historischen und thematischen Schwerpunkte des Bandes ab. Dabei können im Rahmen dieses Rezensionsforums leider nicht alle Beiträge, die durchweg auf hohem theoretischem Niveau und mit historischer Prägnanz argumentieren, besprochen werden.

[10] 

Historische Modelle der Empathie (-Vermeidung)

[11] 

Den Band eröffnet der Beitrag von einem der ›Entdecker‹ der Spiegelneuronen, Vittorio Gallese. Zwar steht mit Galleses Artikel ein kognitionswissenschaftlicher Aufhänger am Anfang dieses Buches, der als Rechtfertigungsinstanz für die Aktualität, Anschlussfähigkeit und Relevanz der folgenden literaturwissenschaftlichen Beiträge erscheint. Doch wird dieser kurze Abstecher in die Welt der Spiegelneuronen kaum in das Netz kultur- und literaturwissenschaftlicher Bezüge eingebunden, das die folgenden Beiträge entwickeln. Tatsächlich erbringt der Band vielmehr die beachtliche Leistung, eine (Theorie-) Geschichte der Empathie zu entwerfen, als aktuelle Impulse aus den Kognitionswissenschaften explizit aufzugreifen.

[12] 

Zu Beginn des kulturwissenschaftlichen Teils des Sammelbands stehen zwei Artikel, die jeweils einen weiten historischen Bogen spannen und insofern einen informativen Einstieg in die Geschichte der Empathie bieten. Rüdiger Campe nimmt ausgehend von Theodor Lipps’ Modell der Einfühlung das Modell der Fürsprache in der antiken Rhetorik in den Blick. Die Rhetorik geht nicht, wie Lipps, von einem ›instinktiven‹ Akt der Einfühlung aus, sondern entwirft folgende Empathie-Technik: Indem sich der Redner die Affekte eines anderen (des Klienten) ›vor Augen stellt‹ (Hypotypose), gelingt die Selbstaffektion, die wiederum das zuschauende Publikum zu bewegen vermag. Während Lipps (ebenso wie die heutigen Kognitionswissenschaften) von einer zweipoligen Beziehung von Ego und Alter ausgeht, propagiert Campe das dreipolige Modell der rhetorischen Fürsprache in der Institution des Gerichtsverfahrens. Zwei antike Modelle arbeitet Campe hier heraus: Synegorie (Sprechen-Mit) bei Aristoteles und Advokatur (Sprechen-Für) bei Quintilian. Betont wird dabei der institutionelle Rahmen als Bedingung für das emotionale Agieren und Reagieren.

[13] 

Johannes Türk wendet sich der Geschichte der Empathie von einer anderen Seite zu: Nicht die Erzeugung eines empathischen Affekts stellt er in den Mittelpunkt, sondern im Gegenteil dessen Begrenzung und Beherrschung, die er als fundamentale politische Kulturtechnik herausstellt. Wie Türk am Beispiel von Thukydides’ Geschichte des Peloponnesischen Krieges 430 v. Chr. zeigt, kann Empathie zur Gefährdung der Gemeinschaft werden: Im kollektiven Ausnahmezustand einer Seuche ist Mitleid tödlich. So ist es Türk zufolge gerade die Begrenzung von Mitleid, die Gemeinschaft ermöglicht. Neben dem Recht stelle das Theater Kulturtechniken zur Verfügung, mit deren Hilfe Emotionen reguliert und kathartisch ›durch Reinigen abgeführt‹ werden. Dies zeigt Türk anhand einer den Affekt sublimierenden Mitleidskonzeption im 18. Jahrhundert bei Rousseau und Lessing. Abgeschlossen wird der Beitrag durch einen Blick auf das Verlangen nach ärztlicher Empathie-Vermeidung bei Freud und ironisch gebrochene Empathie-Bekundungen bei Musil im 19. Jahrhundert.

[14] 

Das »gemeinschaftliche Gefühl sympathisierender Geister« 6 : Empathie im Theater der vierten Wand

[15] 

Es folgen zwei Beiträge, die die identifikatorische Funktion der Empathie untersuchen, wie sie die Theatertheorie und Dramaturgie des 18. Jahrhunderts entwirft. Helmut J. Schneiders luzider Beitrag nimmt das Theater der sogenannten vierten Wand als (diskursiven) Ort der physischen Erfahrung und Einübung eines abstrakten Kollektivs in den Blick, dessen Vorbildcharakter für bedeutende Kollektivvorstellungen der Moderne (›die Nation‹ oder ›die Menschheit‹) hervorzuheben ist. In einem Akt sympathetischen Zuschauens und identifikatorischer Einfühlung in das Bühnengeschehen löst sich das Publikum einerseits von seiner individuellen Determination und verschmilzt andererseits durch das gemeinsame und gleichzeitige Mitleiden zu einem Kollektiv, wie Schneider anhand von Texten Lessings, Diderots, Schillers und Rousseaus anschaulich darlegt.

[16] 

Eyal Peretz ergänzt Schneiders historisch ausgerichtete Überlegungen um ein dekonstruktives close reading von Diderots und Rousseaus paradoxer Konzeption des Schauspielers. Von diesem wird erwartet, mehr als die eigene Identität zu zeigen, sich vielmehr mit einem Phantombild zu identifizieren, das die eigene Bedeutung überschreitet. Am Schauspieler wird der Akt der Identifikation als solcher sichtbar, ohne in der angenommene Identität aufgehen zu müssen, mit der sich das Publikum nunmehr identifiziert.

[17] 

Anagnorisis und Empathie

[18] 

Gleich drei Beiträge greifen ein Plot-Arrangement auf, das in einem besonderen Maße Empathie auszulösen verspricht – die Wiedererkennung verlorener Personen. Fritz Breithaupt weist in seinem grundlegenden Beitrag auf eine strukturelle Ähnlichkeit von Empathie- und Anagnorisis-Mechanismen hin. Breithaupt geht von einem dreipoligen Empathie-Modell aus: Eine Person beobachtet einen Konflikt zwischen zwei anderen und ergreift dabei Partei. Die Empathie hat in dieser Konstellation den Zweck, nachträglich diese erste Parteiergreifung zu legitimieren und konsolidieren. In Szenen der Wiedererkennung geschieht nun Ähnliches, allerdings wird, da kein Konflikt vorliegt, die Partei- und Perspektivenergreifung des Zuschauers nicht prädeterminiert: Der Zuschauer sieht daher, so Breithaupts These, das Wiedererkennen in den Augen des Wiedererkennenden, der sich wiedererkannt sieht – und steigt in ein Oszillieren zwischen den Parteien ein. »Anagnorisis ist vielleicht deshalb so ›rührend‹ und ›intensiv‹, weil sie einen nicht loslässt, sondern sich strukturell in dem Hin und Her auflädt.« (S. 194) Anhand zweier literarischer Beispiele, Goethes Iphigenie auf Tauris und Stifters Waldgänger, zeigt Breithaupt abschließend moderne Entwicklungen der Anagnorisis auf, deren Darstellung durch die neue Form einer sich als singulär und autonom begreifenden Individualität seit dem 18. Jahrhundert erschwert wird. »Dort, wo die ›alte‹ Wiedererkennung die Lebenswege der Charaktere radikal verändert, führt die Wiedererkennung in der Moderne zunächst einmal zu einer Selbstreflexion des Protagonisten, der sich auf sich verwiesen sieht.« (S. 196)

[19] 

Auch Eva Geulen greift die Anagnorisis als Erzählung einer Wiedererkennung nicht eines Anderen, sondern des eigenen Lebens auf. Vor dem Hintergrund von Raabes Altershausen sieht sie das identifikatorische Moment der Wiedererkennung im ›Selbstrückblick‹ auf das Leben allerdings gerade in der Erkenntnis versäumter, verpasster und verkannter Lebensmomente. Die Rührung, die mit der Anagnorisis einhergeht, entsteht unter anderem durch eine Erkenntnis, die zu spät und damit vergeblich einsetzt. Das Besondere an Altershausen sei jedoch, dass dieses Erzählschema nicht nur aufgerufen und durch seine emotionale Überbietung offengelegt, sondern zugleich durch seine Erzählform unterlaufen werde, die kurz vor Anbruch der Moderne die Auflösung des Erzählersubjekts betreibt. Mit der Moderne werde jedoch nicht das Ende der Anagnorisis eingeläutet, vielmehr erzähle die Moderne selbst eine Wiedererkennungsgeschichte: »Die Moderne erkennt sich in dem wieder, was sie nicht (mehr) ist oder sein kann.« (S. 229)

[20] 

Johannes von Moltke zeigt schließlich, dass der Anagnorisis auch in der Gegenwart noch die Fähigkeit zu rühren zueigen ist. In Sönke Wortmanns Film Das Wunder von Bern (2003) spürt er der Art und Weise nach, wie die für das Melodrama konstitutive Rührung ästhetisch erzeugt wird. Dazu unterscheidet er im Anschluss an Murray Smith zwischen Sympathie (feeling for) und Empathie (feeling with). Die Anagnorisis ruft gerade dann Mitgefühl (Sympathie) hervor, wenn sie zu spät kommt – wie anhand einer Kriegsheimkehrerszene gezeigt wird. Eben dieses Motiv des ›zu spät‹ bezeichnet Moltke als ein prinzipielles Formmerkmal des Melodrams, das nicht zuletzt die Gefühlsdramaturgie in Das Wunder von Bern organisiert.

[21] 

Empathie und Perspektivierung

[22] 

Zuletzt sollen noch zwei Beiträge hervorgehoben werden, die dem Titel des Bands Empathie und Erzählung insofern Genüge leisten, als sie narrative Strategien der Perspektivierung zur Erzeugung und Lenkung von Empathie in literarischen Texten in den Mittelpunkt stellen. Dies geschieht aus einem jeweils anderen Blickwinkel: Während Monika Fludernik Strategien literarischer Texte untersucht, fragt Suzanne Keen nach denen der Autor/innen. Fludernik wendet sich einem besonderen Raum empathischer Gefühle zu: dem Gefängnis. Anhand zweier englischer Romane an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert zeigt sie, wie nicht nur durch die drastische Schilderung der Leiden von Gefängnisinsassen eine primäre Einfühlung mit dem Opfer hervorgerufen wird, sondern die Leser-Empathie durch die Anwesenheit eines intradiegetischen Betrachters noch verstärkt wird, der seine visuellen Eindrücke mit expliziten Bekundungen des Mitleids verknüpft. Neben dieser Bereitstellung einer Figur, »deren Gefühle und Erlebnisse dem Leser als Identifikationsangebote zur Verfügung stehen« (S. 168), arbeitet Fludernik drittens die Strategie »metanarrativer« (ebd.) Plädoyers heraus, die den Strom des Mitleids in eine aktive sozialpolitische Handlung des Lesers kanalisieren soll. Damit verweist Fludernik nicht zuletzt auf die politische Funktionalisierung narrativer Empathie-Erzeugung und -Lenkung.

[23] 

Auch Suzanne Keen wendet sich dem realen Leser zu, allerdings interessiert sie als Vertreterin der rhetorischen Narratologie ganz konkret, wie ein Autor bei einer bestimmten Leserschaft ein bestimmtes Gefühl erzielen kann. Dazu setzt sie den Begriff der ›strategischen Autorenempathie‹ ein. Ausgangspunkt von Keens Überlegungen ist der Umstand, dass Leserempathie aufgrund von Differenzen in Rasse, Klasse, Sexualität und Ethnie schwer vorhersagbar ist. Um die Frage zu beantworten, wie strategische Empathie Leser in nahen, entfernten oder entlegenen Zielgruppen erreicht, entwickelt Keen ein narratologisches Modell, das die Vermittlung von Empathie in Autor-Leser-Transaktionen abbilden soll. ›Begrenzte strategische Einfühlung‹ führt zum Mitfühlen mit vertrauten Anderen innerhalb einer homogenen Leserschaft, während Außenseiter sich dem empathischen Kreis kaum anschließen. ›Diplomatisch strategische Empathie‹ kann – oftmals in politischer Absicht – Leser ansprechen, mit sonst fremden fiktionalen Anderen mitzufühlen. ›Weitgestreute strategische Empathie‹ versucht alle Leser/innen emotional anzusprechen, indem sie gezielt mit nahezu universellen menschlichen Erfahrungen operiert.

[24] 

Querverbindungen

[25] 

Trotz oder gerade aufgrund der Heterogenität der Beiträge in Bezug auf Empathie-Begriff, Theoriehintergrund und literaturgeschichtlichen Fokus lassen sich immer wieder spannungsreiche Querverbindungen ausmachen, die neue Blickachsen eröffnen. Drei solcher weiterführender Fragen will ich im Folgenden aufwerfen.

[26] 

Wie muss erzählt werden, damit Empathie möglich ist? – Ironie

[27] 

In mehreren Beiträgen wird das komplizierte Wechselverhältnis zwischen Ironie, Identifikation und Empathie kontrovers diskutiert: Albrecht Koschorke erklärt überzeugend anhand des Bildungsromans, wie ein nachträgliches, ironisches Erzählen der kindlichen Schwächen des heranwachsenden Helden wie eine »Empathie-Sperre« funktioniert und auf diese Weise »kunstvoll gebrochene Identifikationsverhältnisse« herstellt (S. 184), die den Leser zur Distanznahme gegenüber dem Helden und zu einer Identifizierung mit der paternalen Sichtweise des Erzählers zwingen. Auch Monika Fludernik argumentiert, ironische Darstellungsweisen schafften Distanz und verhinderten grundsätzlich Empathie (vgl. S. 153 ff.), wohingegen sich Ironie und Empathie Suzanne Keen zufolge durchaus gegenseitig steigern können, wenn die Ironie zuvor eine der leidenden Figur ›unähnliche‹ Leserschaft ›knackt‹ (vgl. S. 271 f.).

[28] 

Wie funktioniert Empathie? – Sichtbarkeit

[29] 

Eine weitere Querverbindung wäre die visuelle Wahrnehmung als Grundlage der Empathie: Jemand sieht die Gefühle eines anderen oder führt sie sich imaginär vor Augen, wie dies die rhetorische Figur der Hypotypose (vgl. Campe) exakt beschreibt. In literarischen Texten wird diese Sichtbarkeit von Emotionen oftmals durch einen Augenzeugen im Text bewirkt, der seine optischen Eindrücke minutiös beschreibt (vgl. Fludernik). Und in Anagnorisis-Szenen ist es die Beobachtung der Beobachtung (des Wiedererkennens), die besonders starke Empathie auszulösen imstande ist (vgl. Breithaupt). Damit ließe sich der Fokus darauf richten, wie in unterschiedlichen Medien diese Sichtbarkeit hergestellt wird und außerdem fragen, inwiefern nur visuelle oder auch akustische und haptische Eindrücke Empathie vermitteln können.

[30] 

Wer kann mit wem mitleiden? – Ähnlichkeit

[31] 

Eine dritte Querverbindung ließe sich in Bezug auf Fragen der Ähnlichkeit und Nähe ziehen, wie sie schon in Aristoteles’ Mitleidskonzeption anklingen: »Menschen aber, denen gegenüber man Mitleid empfindet, sind die uns bekannten, wenn sie nicht allzu nah mit uns verwandt sind« 7 . Ist die Nähe zwischen Leidendem und Beobachter zu groß, verspürt der Beobachter nicht Mitleid – also ein ähnliches Leid –, sondern eigenes Leid. Sind sich Leidender und Beobachter ›unbekannt‹, fern und unähnlich, entsteht keine Empathie (vgl. Türk, S. 90 f.). Systematisch aufgegriffen wird die Frage unter anderem von Suzanne Keen, die sich der literarischen Produktion von Ähnlichkeit im Falle postkolonialer Autoren zuwendet, die eine ihren subalternen Figuren unähnliche breite (und weiße) Leserschaft erreichen wollen. Daran sind Überlegung anzuschließen, inwiefern ›Ähnlichkeit‹ als Voraussetzung von Empathie zu gelten hat und mit welchen narrativen Strategien sie produziert werden kann.

[32] 

Fazit

[33] 

Die Stärke des Bands »Empathie und Erzählung« liegt darin, eine Reihe von theoretisch fundierten, historisch präzisen und souverän formulierten Aufsätzen verfügbar zu machen, die die immense Bandbreite und das Erkenntnispotential literaturwissenschaftlicher Empathie-Forschung aufzeigen. Beeindruckend wird die rhetorische, poetologische und ästhetische ›Vorgeschichte‹ der ›Entdeckung‹ der biologischen Grundlage von Empathie aufgerollt, wobei die Zusammenschau der schlaglichtartigen Beiträge die historischen Zusammenhänge kultureller Empathie-Techniken hervortreten lässt. Nicht zuletzt sind es die konkreten Strategien von Literatur, Theater und Film, die Empathie zu erzeugen oder zu begrenzen vermögen, denen der Band nachgeht. Literatur ohne eine Form der Empathie und Empathie ohne Erzählen ist gar nicht zu denken – wie dieser Sammelband eindrucksvoll belegt.

 
 

Anmerkungen

Vgl. die informative Rezension von Thomas Anz: Kulturtechniken der Emotionalisierung. Beobachtungen, Reflexionen und Vorschläge zur literaturwissenschaftlichen Gefühlsforschung. In: Karl Eibl / Katja Mellmann / Rüdiger Zymer (Hg.): Im Rücken der Kulturen. Paderborn 2007, S. 207–239.   zurück
Vgl. zusammenfassend: Giacomo Rizzolatti / Corrado Sinigaglia: Empathie und Spiegelneurone. Die biologische Basis des Mitgefühls. Frankfurt/M. 2008.   zurück
Als Beispiele der jüngeren literatur- und kulturwissenschaftlichen Empathie-Forschung seien hier nur genannt: Suzanne Keen: Empathy and the Novel. Oxford 2007. DVjs 82 (2008) 3 – mit dem Schwerpunkt »Empathie und Erzählung«, eingeleitet von Fritz Breithaupt und Claudia Breger. Fritz Breithaupt: Kulturen der Empathie. Frankfurt/M. 2009. Zudem sei das laufende Projekt »Rhetorik der Empathie« von Dietmar Till im Rahmen des Clusters Languages of Emotion an der Freien Universität Berlin erwähnt. Zur Einführung vgl. Martin Fontius: Einfühlung / Empathie / Identifikation. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in Sieben Bänden. Hg. von Karlheinz Barck u.a. Bd. 2. Stuttgart, Weimar 2001, S. 121–142.   zurück
Der Sammelband enthält eine erweiterte Auswahl an Beiträgen der Konferenz ›Narrative Identification‹, die im September 2007 in Bloomington, Indiana, stattgefunden hat. Aus dieser Tagung ist bereits 2008 ein Schwerpunktband mit dem Titel »Empathie und Erzählung« in der DVjs (vgl. Fußnote 3) hervorgegangen.   zurück
Edward B. Titchener: Lectures on the Experimental Psychology of the Thought Processes. New York 1909.   zurück
Gotthold Ephraim Lessing: Ernst und Falk. Gespräche für Freimäurer. In: G.E.L.: Werke. Bd. 8. München 1979, S. 481.   zurück
Aristoteles: Poetik, übers. von Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1994, S. 19.   zurück