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Spielend erzählt

  • Hans-Joachim Backe: Strukturen und Funktionen des Erzählens im Computerspiel. Eine typologische Einführung. (Saarbrücker Beiträge zur vergleichenden Literatur- und Kulturwissenschaft 44) Würzburg: Königshausen & Neumann 2008. 448 S. Geheftet. EUR (D) 48,00.
    ISBN: 978-3-8260-3986-7.
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Seit einigen Jahren werden Computerspiele als Gegenstand für eine literaturwissenschaftlich orientierte Medienwissenschaft immer beliebter. Dem Ansehen von Computerspielen ist das sicherlich zuträglich, weil damit zum einen das pauschale Vorurteil, Computerspiele würden fett, faul und schlimmstenfalls gewalttätig machen und seien ohnehin nur dümmliche Freizeitvernichtung von zunehmend asozial werdenden Jugendlichen, gegen differenziertere Zugänge getauscht wird. Und zum anderen wird durch geisteswissenschaftliche Fragestellungen ein Kontrapunkt zu der die Forschungslandschaft über längere Zeit dominierenden sozialwissenschaftlichen (Medienwirkungs-)Forschung gesetzt.

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Doch auch der Literaturwissenschaft selbst nutzen diese Ausflüge in die Medienkulturwissenschaft, weil im Nachdenken über Formen, Strukturen und die spezifische Medialität eines auf den ersten Blick so gar nicht literarisch anmutenden Mediums ein hohes Reflexionspotenzial für die eigentliche ›Heimatdisziplin‹ steckt. Denn Computerspiele verfügen ja nicht nur über ein teilweise dem Buch oder Film vergleichbares erzählerisches Potenzial, sie sind zunächst natürlich vor allem Spiele. Aus der Tatsache, dass in narrativen Computerspielen überhaupt nur durch Spielen eine Erzählhandlung stattfinden kann, erwachsen auch neue Impulse zum Nachdenken über Prozesse des Erzählens ganz allgemein.

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Spielziel: Finde eine Konsenstypologie

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Die bisherigen Versuche, die theoretischen Probleme, die sich bei einer narratologischen Computerspielforschung ergeben, in den Griff zu bekommen, haben – so kann man als vorläufiges Resümee wohl festhalten – mehr Fragen aufgeworfen als Antworten gegeben.

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Umso besser, dass Hans-Joachim Backe im vorliegenden Band Strukturen und Funktionen des Erzählens im Computerspiel. Eine typologische Einführung nun für etwas mehr Klarheit sorgen möchte. Es wird, so verspricht der Klappentext,

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zum ersten Mal eine Systematik entwickelt, die es Studenten und Forschern aller Disziplinen, aber auch Insidern der Spielindustrie ermöglicht, ohne theoretische Vorkenntnisse die erzählerischen Möglichkeiten des Mediums zu analysieren. [...] Spiel wird generell als Simulation und damit als Kommunikationsmittel verstanden, wodurch sich viele Anknüpfungspunkte zwischen Spieltheorie und aktueller Erzählforschung ergeben. (Klappentext – Rückseite)
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Die Messlatte wird damit hoch gelegt: eine typologische Einführung – quasi für alle –, mit der in der Form des Kommunikationsmittels ganz viele Probleme auf einmal gelöst werden. Man darf gespannt sein.

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Als Ausgangsproblem erkennt der Verfasser: »Zunächst fehlt der Computerspielforschung eine gemeinsame theoretische Grundlage, da keine konsensfähige Spieltheorie existiert, auf der sie aufbauen könnte« (S. 14). Wenn nun auf insgesamt 413 recht kleinteilig untergliederten Seiten zentrale Aspekte der Spiel- und Erzähltheorie dargestellt werden, dann liegt die Vermutung nahe, dass dieser Konsens hier vor allem in der Zusammenschau bereits bestehender Theorien vermutet wird – eine grundlegende Neuerung ist nicht zu erwarten, vielmehr ein argumentativer Dreischritt, der bestehende Theorien des Spielens und Erzählens darstellt und zu einem Phänomen des ›Spielerzählens‹ zusammenfasst. Und tatsächlich deutet Backe bereits früh an, dass er sich von einer strikten Trennung in die Bereiche des meist als dynamisch verstandenen Spiels und des als statisch eingeschätzten Erzähltextes lösen und stattdessen einen Weg finden will, Spiele so zu beschreiben, dass Erzählanteile in die Spielbeschreibung integriert werden können (vgl. S. 26). Es soll im Ergebnis herausgefunden werden, »welche Kriterien das Zusammenwirken von Erzähl- und Spielelementen in Computerspielen derart beschreiben, dass aus ihnen die Gewinnung einer aussagekräftigen Typologie möglich ist« (S. 25). Wofür es eine solche Typologie braucht, das bleibt einstweilen unklar. Computerspiele zeichnen sich durch eine serielle Struktur vom Typ Problem-Lösung-nächstes Problem etc. aus. Wenn die auftretenden Probleme nun in einem erkennbaren Zusammenhang stehen, dann »qualifizieren sich Computerspiele damit als potenzielle Geschichten« (S. 20). Damit ist für die weitere Argumentationslinie gleichsam der Startpunkt gesetzt und das Ziel vorgegeben: Computerspieltypen unterscheiden sich graduell voneinander durch einen unterschiedlich hohen Anteil von Narrativität – nun braucht es freilich einen Kriterienkatalog, der die Abstufungen zumindest theoretisch fassbar und damit transparent macht. Dieser Katalog soll erarbeitet werden.

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Genreunanbhängige Typen

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Bei der Auseinandersetzung mit Computerspielen gibt es ein immer wieder beobachtbares Phänomen: Der Begriff ›Computerspiel‹ wird häufig gleichzeitig für das Spiel und für seine – im technischen Sinne – mediale Form verwendet. Das mag zunächst als kleinliche Beobachtung wirken, sie zeigt aber doch, in welch kleinen Schuhen die Computerspielforschung zumindest im Umfeld der Literaturwissenschaft teilweise noch läuft. Man wäre als Literaturwissenschaftler doch auch irritiert, wenn in einer Untersuchung über literarische Gattungen die – zweifelsfrei spannende – Frage nach der Konstitution des Gegenstandes Literatur pauschal mit der Frage nach der Beschaffenheit von Texten in Buchform vermischt würde.

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Hier nun wird der Terminus Computerspiel zunächst als möglichst neutraler Begriff für ein technisches Medium verwendet (vgl. S. 36), der nicht wie die Kategorien Video- oder Bildschirmspiel »das Medium auf die visuelle Komponente« (S. 35) reduzieren soll. Im weiteren Fortgang findet dann ein schleichender Übergang zur deduktiven Definition von Computerspiel als Spiel statt, in dem »ein Spieler die Möglichkeit zur Manipulation einer regelbasierten, virtuellen Welt hat, die auf seine Aktionen reagiert, hypertextuell organisiert sein und Interaktion mit (von Logarithmen oder Menschen gesteuerten) Charakteren ermöglichen kann« (S. 38). Schlussendlich folgt die Darstellung einer Genreklassifizierung nach Lischka/Meißner, die induktiv zwischen den »zwei Klassen Reaktions- und Strategiespielen« (S. 39) unterscheidet und in diesen Klassen insgesamt neun Genres identifiziert. Backe erkennt das Problem, dass bei diesem Vorgehen »das Auswahlkriterium nur vordergründig das narrative Potenzial des Genres« (S. 42) ist. Dem will er eine Klassifizierung entgegensetzen, die gleichermaßen konkret ist und die auf unvorbelastete Begriffe setzt (vgl. S. 43). In diesem Zusammenhang folgt nun ein Hinweis darauf, wofür es diese Klassifizierungen überhaupt braucht: Weil »die Bandbreite von Computerspielen so groß ist«, besteht die »Notwendigkeit einer Kategorisierung nicht nur aus wissenschaftlicher Perspektive, sondern auch für Handel und Konsument« (beide S. 43). Das leuchtet – was Handel und Konsument angeht – ein. Der Konsument möchte gerne wissen, ob er in einem Spiel als Fußballtrainer eine Mannschaft zusammenstellt und strategisch ausrichtet oder ob er selbst gegen den (virtuellen) Ball treten soll und die Geschicklichkeit bei der Steuerung die dominierende Herausforderung des Spiels ist. Wie aber ist es mit der Wissenschaft? Wofür braucht die Wissenschaft diese Klassifizierungen? Man würde sich spätestens an dieser Stelle wünschen, etwas mehr über Sinn und Anschlussfähigkeit dieses Vorhabens zu erfahren.

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In der folgenden Auseinandersetzung mit Aarseth’ Ansatz der Multimodalität (ein Spiel gehört zu mehreren Genres) kommt Backe zu dem Schluss, dass bisherige Genre-Kategorien für wissenschaftliche Beobachtungen generell eher nicht geeignet sind (vgl. S. 54 f). Vielmehr hält er die »Unterscheidung nach dem narrativen Potenzial von Computerspielen über Gattungsgrenzen hinweg« (S. 55) für sinnvoll.

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Nun folgt ein Abschnitt, der leider ganz typisch für dieses Buch ist: Mit historischem Schlenker über die »Einflussbereiche technischer Entwicklung« (S. 55 ff.) und »Hauptstränge der Computerspielhistorie« (S. 60 ff.) nimmt sich der Autor – nun etwa zehn Seiten später – vor: »Wie ich im Folgenden zeigen werde, lässt sich durch Aufgliederung multimodaler Computerspiele in Komponenten aufzeigen, welche Computerspiele überhaupt narratives Potenzial aufweisen, woraus sich eine genreunabhängige Eingrenzung des Untersuchungsfeldes ergibt« (S. 64). Zwischen der Formulierung auf Seite 55 und dieser hier liegen – wenn man die Ausarbeitung seines eigenen Ansatzes fokussiert – also etwa 10 Seiten Redundanz. Weniger Umwege und ein konzentrierteres Fortschreiten auf das Ziel der Untersuchung hin wäre – nicht nur an dieser Stelle des Buches – wünschenswert gewesen.

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Untere narrative Schwelle

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Um das Ziel einer stärkeren Differenzierung zu erreichen, sieht Backe die Notwendigkeit zu »einer grundsätzlichen Unterscheidung zwischen Oberflächen- und Tiefenstrukturen« des Computerspiels, die er im Verhältnis von »Spielmechanik und Szenario« (beide S. 64) erkennt. Erstere ist »in den meisten Fällen ein abstraktes, numerisches Konstrukt«, das dann durch Zweiteres, nämlich die »Illustration mit einer einleuchtenden Metapher« (S. 65) anschaulich wird. Dabei sind die beiden Ebenen nicht ursächlich, sondern willkürlich verbunden. Das führt zu einer prinzipiellen »Beliebigkeit der Kombination von Sujet und Spielprinzip« (S. 67). Analog verhält es sich mit den spielrelevanten und –irrelevanten Elementen (vgl. S. 68 ff.), was nachvollziehbar am Beispiel der Visualisierungsmodi veranschaulicht wird, die Backe teilweise aus der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Perspektive herleitet (vgl. S. 69 ff). Dabei zeigt sich, dass »die Wechsel zwischen verschiedenen Visualisierungen primär aus spielerischen und nur sekundär aus ästhetischen Gründen« (S. 73) stattfinden. Mit Blick auf die späteren Kapitel wird hier skizziert, dass nur durch die Beobachtung von »Trennung und Verschränkung von Spiel- und Erzählelementen« (S. 79) eine sinnvolle Beschreibungsebene geschaffen werden kann, die ohne die Fallstricke der Kategorisierung in Genres trotzdem eine Typologisierung zulässt.

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Wenn nun im Folgenden eine differenzierte Betrachtung von Multimedialität in den Dimensionen »Produkt, Komponente und Modus« vorgeschlagen wird, so greift das die Differenzierung in Spielmechanik und Szenario nochmals auf, um für Computerspiele grundsätzliche Ebenen zu benennen, auf denen überhaupt Untersuchungen stattfinden können. Das »Produkt« meint »die Gesamtheit eines Computerspiels – Verpackung, Handbuch, Datenträger und alle Softwarekomponenten«, die »Komponenten« meint die Differenzierung auf der Ebene des Spiels (»Einzelspieler- und Mehrspielerkomponenten« (alle S. 79) und die Modi differenzieren wiederum diese Komponenten. Insbesondere die Modi erweisen sich für die Frage nach Narrativität in Computerspielen als maßgeblich, denn in ihnen lassen sich Einzelelemente in besonderer Ausprägung und Systematik finden. Wenn sie nun »kausal verknüpft sind, [kann] von der möglichen Existenz einer Geschichte gesprochen werden« (S. 85).

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Als zentralen Ort für diese Verknüpfung macht Backe die sogenannten Einzelspielerkampagnen aus (vgl. S. 86 f.), deren strukturelle Konzeption sich als vergleichbar mit den Aristotelischen Kriterien (›Anfang, Mitte, Ende‹) für eine gut zusammengefügte Handlung zeigen. Hier wird nun auch eine Abgrenzung zwischen Computerspielen, die sinnvollerweise mit narratologischen Mitteln beobachtet werden können, und solchen Spielen, die auf rein lineare Progression (vgl. S. 88) abzielen, vorgeschlagen. Durch diese ›untere narrative Schwelle‹ vermeidet er – wie angekündigt – vorgängige Genredefinitionen, was ein deutlicher Fortschritt gegenüber der bisherigen Forschung ist.

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Und doch würde man sich gerade an dieser Stelle der Argumentation etwas mehr Mut zur theoretischen Radikalität wünschen. Denn Backe sieht sehr wohl, dass sich auch in Mehrspieleranordnungen (beispielsweise dem Massively Multiplayer Online Game (MMOG) World of Warcraft) »narratives Potenzial findet« (S. 90). Aber wegen deren »kommunitäre[r] Rezeptionssituation« (S. 91) und der problematischen Übertragung von narrativen Modellen auf solche Konfigurationen klammert er sie aus. Das ist insofern bedauerlich, als sich ja gerade mit der Untersuchung von solchen Grenzbereichen eine Chance auf eine Reflexion des für die anderen Spiele erarbeiteten Theorieinventars anbieten würde.

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Theoriemix

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Kapitel, die »Stand der Forschung« (S. 95) heißen, sind selten Highlights in Büchern – so auch hier. Sehr knapp skizziert Backe die bisherigen Forschungsentwicklungen. Interessanter wird es ab dem Unterkapitel »Strömungen der narrative gaming studies« (S. 100 ff.) – und zwar aus zwei Gründen: Erstens gibt es (zumindest bisher) keinen etablierten Begriff der narrative gaming studies, vielmehr scheint der Verfasser hier einen Sammelbegriff einführen zu wollen. Die Vermutung liegt nahe, dass er seine eigene Untersuchung zum Zentrum dieser ›studies‹ machen will, denn er spricht gerade auch im Hinblick auf die eigene Untersuchung von einer sehr kleinen Gruppe wissenschaftlicher Beschäftigungen mit Computerspielen, die »das Computerspiel als eigenständiges Medium mit seinen individuellen Funktionsweisen zu beschreiben« (S. 97) versucht. Der zweite Grund ist: Backe verortet hier sein eigenes Konzept in der Debatte zwischen den Forschern, die Computerspiele vor allem als Spiele aus Sicht der ›Game Studies‹ betrachtet wissen wollen, und denjenigen, die – in der Regel aus literaturwissenschaftlichem Umfeld stammend – zumindest einen bestimmten Bereich der Computerspiele als im Kern narrative Phänomene behandeln. 1 Er selbst will ausgehend von einer »medienübergreifenden Narratologie« (S. 105) eine vermittelnde Position zwischen beiden Ansätzen einnehmen. Und gerade dieser – auf den ersten Blick vergleichsweise harmlos anmutende – Akt der theoretischen Positionierung bestätigt die Vermutung, die einen bei der Lektüre von Beginn an begleitet: Diese Untersuchung erweist sich im Kern vor allem als ein weitgehend unkritischer Theoriemix, der ludologische und narratologische Positionen zusammenführen will. Der letzte größere Entwurf, der dies versucht hat, kam von Melanie Kocher – eine Untersuchung, in der mithilfe eines ›ludoliterarischen Typenkreises‹ eine Synthese versucht wurde. 2 Bei Backe – das darf man vorwegnehmen – ist es nun kein Kreis, sondern ein Strukturmodell mit Sub-, Mikro- und Makrostruktur. Damit erweist sich das Buch mehr als um Konsens bemühte und brave Qualifikationsschrift denn als eigenständiger Theorieimpuls. Das ist vor allem deshalb schade, weil die theoretische Sprengkraft, die sich in einigen Aspekten immer wieder andeutet, dadurch weitgehend verpufft. Also nicht nur von der Zahl der Umwege, sondern auch von der Argumentationsführung her gedacht wäre ein deutlich stärkerer Fokus auf die eigene Forschungsleistung für den Leser befriedigender gewesen.

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Kompromissbereiter Narratologe

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Auf dem weiteren Weg wird nun – zunächst ex negativo – das Fundament dafür geschaffen, Computerspiele überhaupt als narrative Phänomene zu fassen. Backe macht insbesondere vier Einwände aus, die den Narratologen unter den Computerspielforschern entgegengehalten werden. Der erste spricht Computerspielen grundsätzlich ab, dass sie erzählen (vgl. S. 118 f.). Das kann leicht widerlegt werden, indem gezeigt wird, dass diese Position vor allem »im theoretischen Verständnis von Narrativität begründet liegt« (S. 119). Backe sieht die Notwendigkeit für »eine kategorische Trennung zwischen dem vor allem literarischen Erzählen und dem Erleben von Geschichten im Computerspiel« und ahnt einen Ausweg durch »die Entwicklung einer Simulations-Narratologie« (beide S. 121). Der zweite Einwand ist zumindest etwas weniger allgemein: Narrativität wird als notwendiger Bestandteil von Computerspielen ausgeschlossen, weil natürlich nicht allen Computerspielen Erzählbestandteile nachgewiesen werden können (vgl. S. 121 ff.) Backe leitet hieraus das Desiderat zur Entwicklung einer ganzheitlichen Systematik ab, die narrative und nicht-narrative Komponenten umfasst. Den polemischen »Einwand 3: Die Erzählungen sind minderwertig« (S. 122) beantwortet Backe mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit zur differenzierteren Betrachtung und die »Verschiedenartigkeit der narrativen Konventionen« (Ebd.). Dem vierten Einwand »Die Erzählungen sind irrelevant« (S. 123) begegnet er zu einem späteren Zeitpunkt mit einer Beispielanalyse in Kapitel 5, stellt aber bereits jetzt fest, dass für eine irrelevante Erzählung immerhin zuerst eine Erzählung erkannt werden müsse. Von diesen Antworten Backes auf anti-narratologische Positionen lässt sich besonders gut seine Herangehensweise an die Verbindung von Narratologie und Ludologie erkennen: Er wählt die Perspektive eines kompromissbereiten Narratologen.

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Grenzen des narratologischen Zugriffs

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Die Grenzen eines narratologischen Zugriffs auf Computerspiele skizziert Backe in seinen Überlegungen zur Medialität des Computerspiels (vgl. S. 125 ff). So erachtet er zwar so »vorgelagerte Problemfelder wie das Kommunikationspotenzial von Spielen oder [die] Doppelrolle des Nutzers als Spieler und Rezipient« (S. 134) als interessant, warnt aber vor dem Irrweg, »das Computerspiel als Text zu bezeichnen«, denn der »Text [ist] ein Informationsträger, während Spiel in erster Linie selbstzweckhaftes Handeln ist« (beide S. 142). Zwar erkennt und benennt er Fälle der »Verknüpfung von textuellen und spielerischen Elementen« (S. 143) und bringt dafür auch sechs strukturelle und einige konkrete Beispiele – dies bezieht sich aber nur auf explizite erzählerische Einschübe im Spiel. Grundsätzlich gilt: »Einen ›Text der Geschichte‹ im Sinn eines vom Autor fest gefügten Plots, Ausdrucks, Stils etc. kann es für die Totalität des Computerspiels […] nicht geben. Eine auf Computerspiele übertragbare Erzähltheorie muss also auf anderen Ebenen operieren« (S. 154). Und so hebt das nächste Kapitel folgerichtig auf eine »die Mediengrenzen überschreitende Theorie des Erzählens« (S. 167) ab.

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Auf Umwegen zur Erzähltheorie

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Die Erzähltheorie von Marie-Laure Ryan dient Backe als erster wichtiger Baustein für seine Theorieentwicklung, denn Ryans minimalistische Definition eines narrativen Textes fokussiert sich schlichtweg auf »die erzählte Geschichte« (S. 168), die in verschiedenen medialen Formen unter jeweils verschiedenen Bedingungen erzählt werden kann – für medienkombinatorische Phänomene wie Computerspiele scheint dies ein sinnvoller Abstraktionsgrad zu sein.

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Doch leider wird auch hier wieder die Theorieentwicklung durch zahlreiche Umwege zu einer recht mühsamen Reise für den Leser. Für Backe ist »bei der Adaption von Theorien über Mediengrenzen hinweg die Hinterfragung aller Prämissen entscheidend« (S. 172). Das ist zwar grundsätzlich nachvollziehbar, doch ist die nun folgende Zusammenstellung der zu hinterfragenden Prämissen auch auf den zweiten Blick arbiträr und methodisch nicht immer unproblematisch – zwei Beispiele: Auf gut zwei Seiten werden ex- und intrinsische Motivationen angerissen, warum in Computerspielen überhaupt erzählt wird (vgl. S. 172) – befriedigend sind die Antworten schon aufgrund ihrer Kürze nicht. Nun mag man anmerken, dass diese Frage auch gar nicht im Kern des Erkenntnisinteresses der Arbeit liegt – aber dann muss man eben fragen, warum es diesen Umweg überhaupt braucht. Oder – Beispiel zwei – zur Methode: Der Verfasser will einen »Überblick der wichtigsten Konventionen des Erzählens im Computerspiel und ihrer Vorbilder« liefern, »um auf diese Art ein Profil herauszuarbeiten, das eine adäquate Erzähltheorie erfüllen müsste« (beide S. 174). Es ist methodisch nicht unproblematisch, dass nun aus einer höchst subjektiven und auch quantitativ wohl kaum zureichenden Auswahl von Spielen Konventionen destilliert werden sollen. Und es ist auch nicht ganz plausibel, warum es überhaupt ein solches Konventionscorpus braucht, um das sich die noch zu entwickelnde Theorie dann passgenau legen lässt. Denn kaum etwas ist theorieabhängiger als das Herausarbeiten von Konventionen.

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Die Ergebnisse sind dann auch wenig überraschend, denn es wird festgestellt, dass sich »die Tendenz zur Überhöhung des Protagonisten sowie die Konstruktion elaborierter Spannungskurven« in Computerspielen als vergleichbar zu den »popkulturellen Erzählformen im Unterhaltungsfilm und der Trivialliteratur« (beide S. 179) erweisen. Das alles gilt freilich vor allem für das Genre des Adventure-Spiels (vgl. S. 175), und beim Leser regt sich langsam der Verdacht, dass die Idee einer genreunabhängigen Untersuchung (siehe oben und vgl. z.B. S. 64) leider nicht konsequent durchgehalten werden kann, denn bestimmte Aspekte funktionieren nur unter der Annahme eines bestimmten Typs von Spiel. Oder anders formuliert: Ohne Genrebegriff ist die Abschaffung des Genrebegriffs scheinbar kaum möglich. Die dann noch dargestellten Parallelen eines bestimmten Typs Computerspiel zu den narrativen Vorbildern »Hollywood-Spielfilm« (S. 179), »Trivialliteratur« (S. 181) und zum serialisierten Erzählen (vgl. S. 186 ff.) sind nachvollziehbar dargestellt.

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Weltkonstruktion, Kognition, Tiefenstruktur

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Nach diesen diversen Umwegen nähert sich der Verfasser wieder dem Vorhaben der Theoriebildung; ein Zwischenfazit dient dafür als Ausgangspunkt: Die Theorien, von denen er sich konstruktive Lösungen verspricht, sollen »weniger auf Oberflächenstruktur, Ästhetik und Interpretation als auf Weltkonstruktion, Kognition und Tiefenstruktur ausgerichtet« (S. 193) sein. So folgt nun eine intensive Auseinandersetzung mit Genette, Stierle und Schutte im Hinblick auf »Textkonstitutionsrelationen« (S. 196 ff.) und mit Fludernick und Riffaterre zu Fragen der »Fiktionalität und Experientialität« (S. 203). Schließlich folgen noch Überlegungen zu den erzählanalytischen Mitteln von Roland Barthes (vgl. S. 208 ff.) – und es ist vor allen Barthes’ Bemühen um die »kleinsten Einheiten der Geschichte« (S. 210) und deren Zusammenspiel und Abhängigkeiten, an die Backe für sein späteres Strukturmodell des Computerspiels anschließt. »Der Spieler nimmt [...] innerhalb der Vielfalt der Spielwelt Mikrosequenzen von überschaubarem Umfang und Bedeutung wahr, die sich zu größeren Einheiten (Sequenzen) zusammenfügen« (S. 213), wobei die Mikrosequenzen einem Ursache-Wirkungs-Modell entsprechend aus der »Alternativen eröffnende[n] Kardinalstelle einerseits und deren Effekt andererseits« (S. 215) bestehen.

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Dies muss der Leser nun einige Zeit im Hinterkopf behalten, denn es folgt zunächst ein weiterer Baustein für das Theoriefundament von David Herman, der den »Prozess des Verstehens einer Erzählung [...] als das (Re-)Konstruieren einer Storyworld aufgrund von Textsignalen und den Schlüssen, die diese ermöglichen« (S. 218, Hervorhebung im Original), beschreibt. Ein Prozess, der sich auf »kleine zeitliche Einheiten« (=narratives Mikrodesign) und »übergreifende Elemente wie zeitliche und räumliche Ordnung« etc. (=narratives Makrodesign; beide Zitate S. 218) bezieht. Für Backe ist dieser Ansatz insbesondere deshalb nützlich, weil ein »rezipientenorientiertes Verständnis von Erzählung [...] die Gegensätze von Spiel und Geschichte [...] vor einem gemeinsamen Horizont« (S. 231) betrachtbar macht.

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Grundlagen und Erweiterung der Spieltheorie

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Der zweite große Bereich neben der Erzähltheorie ist die Spieltheorie. Und wieder lässt der Autor den Leser am gesamten Rechercheprozess seiner Arbeit teilhaben:

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Deshalb ist es unerlässlich, die verschiedenen Spieltheorien einander gegenüberzustellen und darauf hin zu überprüfen, mit welchem Instrumentarium sich das Computerspiel als Spiel beschreiben lässt, ohne diejenigen Faktoren außer Acht zu lassen, die es von anderen Spielen grundlegend unterscheiden – vor allem seine Möglichkeit zur Einbindung narrativer Elemente. (S. 237)
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Vergleicht man den deskriptiven Aufwand und das Ergebnis für das Theoriedesign, dann wäre dieser Abschnitt verzichtbar – doch scheinbar soll alles, was als Grundlagenrecherche für diese Arbeit geleistet wurde, in der Veröffentlichung auch ein Kapitel ergeben. Und so folgen 40 Seiten zur Spieltheorie, die wohl am besten als weiterer Forschungsüberblick verbucht werden. Da Backe Computerspiele im Zuge seiner Überlegungen grundsätzlich als Spiele par excellence erkennt und er im nächsten Kapitel zur »Computerspieltheorie« (S. 281) insbesondere an die Systematik von Caillois anschließt, hätte auch diese Hin- und Einleitung wohl ohne größeren Schaden deutlich gestrafft werden können. In diesem Anschluss an Caillois werden nun insbesondere drei Aspekte in den Fokus gerückt, die aus den allgemeinen Überlegungen zur Spieltheorie eine Spieltheorie für Computerspiele machen, nämlich »die Entstehung und Aufrechterhaltung von abgeschlossenen ›Welten‹ im Spiel, der prinzipielle Simulationscharakter von Spiel sowie die Rolle der Spieler in diesen simulierten Welten« (Ebd.) – am bedeutsamsten für den Fortgang des Textes scheint die These zur Simulation zu sein. Die Caillois’schen Theorie wird erweitert durch die Differenzierung in diejenigen Regeln, die »die erlaubten und damit möglichen Handlungsweisen innerhalb des Spiels beschreiben«, und die, »die einen Gewinner definieren« (Ebd.). Diese Unterscheidung ist absolut sinnvoll, denn sie entzerrt zwei Bereiche, deren Vermischung gerade bei Computerspielen zu erheblichen Problemen führe würde.

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Von Zeichen und Simulationen

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Backe betrachtet Spiel als die »Eingrenzung der uferlosen Realität auf wenige Parameter« (S. 281) – das bezieht sich wohl auf die Regeln der Handlungsweisen. Er formuliert die These: »Spiele sind Simulationssituationen mit festgelegten Zielen« (die ›Gewinnregeln‹), wobei Simulationen für ihn »abgeschlossene Räume [sind], innerhalb derer Experimente durchgeführt werden können, die Rückschlüsse auf Realität erlauben« (beide S. 282). Dies sind nun zwei pauschale Festlegungen, die nicht unproblematisch sind. Denn hier wird nun ein erkenntnistheoretisches Problem verhandelt, das sich bei genauerem Hinsehen als ein semiotisches Problem zu erkennen gibt: In welchem Verhältnis stehen Realität und Spiel zueinander? Es wird mit Gonzalo Frasca zwischen repräsentierenden und simulierenden Medien unterschieden (vgl. S. 292 f.); ein Ansatz, der völlig außer Acht lässt, dass Simulation eigentlich nur ein konsensual verwendeter – gleichsam ein unscharfer – Begriff für einen spezifischen Repräsentationsmodus ist. Die Kernaussage von Backe scheint folgende zu sein: Es lassen sich »Simulatoren als virtuelle Umgebungen beschreiben, die durch Manipulation eines Benutzers Zeichen hervorbringen«, die »über die Sphäre der Simulation hinaus auf die Realität« (S. 293) verweisen. Deshalb sieht er in ihnen »eine eigenständige Kommunikationsform« (Ebd.).

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Diese Schlussfolgerung ist eigenartig, denn wenn der Output eines Simulators (»bringt Zeichen hervor«) als Zeichenfluss gefasst wird, dann muss auch der Input als Zeichenfluss gewertet werden – und dieser Annahme könnte man auch problemlos zustimmen. Und wenn man diesen Zeichenprozess dann »Kommunikationsform« nennen mag, so ist auch das unproblematisch – nur, wie ist der Verweis »über die Sphäre der Simulation hinaus auf die Realität« zu verstehen? Aus einer pansemiotischen Sicht ist jeder Austauschprozess als ein zeichenhafter Prozess zu fassen, Autofahren genauso wie das Bedienen eines Backofens oder eben auch jede andere beliebige Steuereinrichtung – auch die von Brettspielen, Computerspielen, Simulatoren etc. Nur ist damit absolut kein Spezifikum von Simulatoren oder Spielen erfasst worden.

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Wenn nun im nächsten Schritt vorgeschlagen wird, »alle Spiele als Simulationen zu verstehen, die sich primär im Grad der Simulationskomplexität (der Anzahl der berücksichtigten Parameter) und der repräsentativen Konkretisation (der mimetischen Ausgestaltung des Spielmaterial [sic])« (S. 314) unterscheiden, dann wird deutlich, dass hier eigentlich nur die Frage nach dem Anteil ikonischer Zeichen gestellt wird. Dafür wäre weder der ohnehin überstrapazierte Kommunikationsbegriff, noch der Begriff der Simulation notwendig gewesen, der in medientheoretischen Kontexten wohl meist eine andere Erwartungshaltung des Lesers weckt – zumindest, wenn er Baudrillard gelesen hat. Und wenn man nach gut 350 Seiten des Textes später endlich zum eigenen Modell Backes vorgedrungen ist, dann stellt sich auch hier wieder die Frage, wofür mit solchem Aufwand die »Simulation« oder die »Kommunikation« überhaupt eingeführt wurde, denn hier wird deutlich, dass beides zwar als Fundament für ein Modell dient – dass das Fundament aber hier tiefer in den Boden als das Haus in die Höhe ragt, das darauf gebaut wird. Dass zwischenzeitlich auch noch das Verhältnis Spieler-Avatar (am ehesten als Rollenspiel (vgl. S. 351) zu fassen) in den Blick genommen wird, bestärkt den Eindruck, dass in diesem Buch möglichst viele Aspekte des Themas Computerspiel angerissen werden sollen.

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Strukturalistische Zielgerade

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Die letzten gut 60 Seiten des Buches sind seine stärksten, denn hier wird nach allen Längen der vorigen Kapitel das »Strukturmodell des Computerspiels« (S. 353) entworfen – ein Modell, das sich um ein kombiniertes narratologisch-ludologisches Verfahren bemüht. Ganz unabhängig von einzelnen Kritikpunkten daran gebührt diesem Versuch alle Ehre, denn es eröffnet zum einen die Möglichkeit, mit einem unverbrauchten Modell analytisch auf Computerspiele zuzugreifen und zum anderen kann es als Ausgangspunkt für weitere Theorieentwicklungen in dieser Richtung dienen.

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Die Differenzierung in Regeln, die handlungsleitend und gewinnerbestimmend sind (siehe oben), dient als Grundlage für eine Dreiebenenstruktur: die Substruktur »bildet den Rahmen für die Handlungen, die nur durch Weltregeln bestimmt und reglementiert« sind, die Mikrostruktur meint die Ebene der »Zielvorgaben, taktisch-strategische[n] Überlegungen und Gewinnstreben« und die Makrostruktur verbindet beide durch »Partien, LEVELS, QUESTS« (S. 354). In letztgenannter Zusammenführung sieht Backe ein »Spiel zweiter Ordnung« (S. 354, Abb. 57) und darin die Möglichkeit für Erzählen. Er liefert damit einen Antwortvorschlag auf die Frage,

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wie ein Computerspiel eine Geschichte erzählen kann, wenn doch jeder Spieldurchlauf immer unterschiedlich ist. Die Antwort ist, dass jedes Spiel auf der Substrukturebene annähernd unendliche Möglichkeiten bietet. Auch die Mikrostrukturebene kann sehr viele unterschiedliche Strategien zulassen. Auf der Makrostrukturebene existieren jedoch immer nur einige wenige Möglichkeiten, d. h. eine endliche Menge diskreter, in sich konsistenter Handlungsabläufe. (S. 355)
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Diese Idee ist insbesondere deshalb spannend, weil sie Erzählen im narrativ organisierten Spiel mit »Turnier- oder Ligaorganisation« (S. 355) in nicht narrativ organisierten Spielen vergleicht. Erzählen wird damit zum potenziell strukturgebenden Moment für alle Spiele – selbst wenn im Begleitheft zu einem First-Person-Shooter nur ein knapper Absatz zum Hintergrund des Spiels als motivatorische Basis zu finden ist – etwa: ›Aliens greifen die Welt an, Sie müssen die Welt verteidigen‹ – selbst dann also ist diese ›Geschichte‹ für das Spiel essenziell, denn sie schafft Kohärenz – ist sinnstiftend: »Die Konventionen des Erzählens sind ebenso universell wie die sozialen Konzepte Sieg und Niederlage, und der breite Erfolg narrativer Computerspiele zeigt, dass sie offenbar ebenso intuitiv als Ordnungsprinzip für Spielstrukturen verstanden werden« (S. 366). Damit wird ein Fundament für eine graduelle Abstufung zwischen narrativ organisierten und »ludisch[] und agônal[]«(S. 365), also nicht-narrativ organisierten Spielen geschaffen – eine wertvolle Erkenntnis für alle narratologisch interessierten Computerspielforscher. Für den zweiten Spieltyp stellt er fest: »Sie bestehen damit aus nichts anderem als Zielvorgaben und Regeln, die Reihenfolge und Bewertung von Elementen eines zusammengesetzten Spiels vorsehen« (S. 365 f.).

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Der erste Spieltyp bestimmt nun den Rest des Buches. Und nun kommen auch die vor vielen Seiten abgespeicherten Strukturmodelle von Roland Barthes wieder zum Tragen, denn anhand derer erkennt Backe »narrative Makrostrukturelemente« (S. 366, Abb. 63), die als Schaltstelle beziehungsweise Weiche zwischen den spielerischen Elementen fungieren. Dieses Modell wird noch angereichert, indem er zusätzliche Effektstrukturen einführt, »die als optionale Elemente nicht unmittelbar den Fortgang der Handlung (die Makrostruktur) beeinflussen, sondern zu einem späteren Zeitpunkt eine Folge haben« (S. 371). So bekommen Spielentscheidungen Einfluss auf den Fortgang der Erzählung.

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Mission accomplished: Typologie entwickelt

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Im letzten Kapitel des Buches wird nun das Versprechen des Titels eingelöst: Kriterien für die Typologisierung von Computerspielen werden gefunden und Typen vorgestellt (vgl. S. 377 ff.). Als maßgebliches Kriterium, das »einen hohen qualitativen Aussagewert hat, sowohl die unterschiedlichen Strukturebenen als auch den Spieler erfasst und sich dabei in wenige Gruppen einteilen lässt, scheint die Art der Einflussnahme zu sein« (S. 378). Backe differenziert erstens den Typ der Entscheidung, »die Veränderung der Makrostruktur durch die bewusste Wahl zwischen Alternativen« (S. 380) bedeutet, zweitens die Leistung, »die Veränderung der Makrostruktur durch das Erreichen oder Verfehlen bestimmter optionaler Ziele innerhalb der Mikrostruktur« (S. 381) bewirkt und drittens den Avatar, womit »die Veränderung der Makrostruktur durch Wahl oder Gestaltung des oder der gespielten Charaktere« (S. 382) gemeint ist. Weil jedes Kriterium wiederum in statischer oder dynamischer Form vorhanden sein kann, ergibt sich schlussendlich aus diesen Typen eine Kriterienmatrix mit 24 Optionen (vgl. S. 383, dort insbesondere Abb. 68). Leider gibt sich die Arbeit selbst nur wenig Raum um den Erkenntnisgewinn, der aus dieser Typologie folgen kann, darzustellen. Es folgen nur acht recht knappe Anwendungsbeispiele (vgl. S. 384 ff.), die aber allesamt plausibel sind.

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›Mission accomplished‹ würde es an dieser Stelle am Ende eines Computerspiels wohl heißen, denn die versprochene Typologie ist entwickelt worden. Der Leser allerdings bleibt etwas ratlos zurück. Was für Konsequenzen ergeben sich nun für die vorher formulierten ›Zielgruppen‹, die Studenten, Spielemacher und Wissenschaftler aus dieser neuen Sicht auf die Dinge? Sicherlich ist diese Typologie im Vorteil gegenüber den sehr viel schlichteren und – weil historisch gewachsenen – auch unsystematischeren Genreeinteilungen, die vielerorts vorgenommen werden. Aber man würde sich doch zumindest noch einige Hinweise darauf wünschen, was nun genau der Vorteil wäre, wenn Computerspielanalysen, die im Anschluss an Backes Typologie arbeiten, zukünftig mit der Erkenntnis beginnen würden, dass ein Spiel beispielsweise dem »Typ 6 (Entscheidung dynamisch, Leistung statisch, Avatar dynamisch)« (S. 395) zuzuordnen ist. Sollen Spiele darüber besser vergleichbar werden?

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Der Leser bleibt, nachdem er sich durch einen sehr umfangreichen Theorieunterbau gearbeitet hat, mit der Vermutung zurück, dass es gar nicht nur um eine theoretische Revision des Genrebegriffs geht – aber worum sonst genau, das erschließt sich (zumindest dem Rezensenten) nicht restlos. Die Feststellung des Verfassers, »[e]rzählende Computerspiele stellen sich aus dieser Perspektive also keineswegs als der Irrweg oder die fragwürdige Hybridform dar, als die sie die Forschung bisweilen wahrnimmt« sondern sie werden durch »die Einbeziehung des ›Rezeptionsspiels‹ zu den vollständigsten und vielseitigsten aller Spiele« (beide S. 408), mag man als literaturwissenschaftlich geprägter Computerspielbeobachter zwar gerne unterschreiben – gleichwohl würde man sich wünschen, dass nun noch etwas daran anschließendes folgt. Es folgt aber nur mehr die »Schlussbetrachtung« (S. 409), die vor allem Desiderate für kommende Forschungsvorhaben formuliert, die im Anschluss an die vorliegende Publikation wünschenswert wären.

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Fazit

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Strukturen und Funktionen des Erzählens im Computerspiel. Eine typologische Einführung. von Hans-Joachim Backe ist ein Buch, das den Leser über lange Strecken durch breit ausgetretene Recherchepfade führt. Der Leser darf dem Verfasser durch viele – oft zu viele Aspekte – der bisherigen Computerspielforschung bis ins Ziel folgen. Dass das Buch dennoch nicht gescheitert ist, liegt an Backes eigenem Ansatz, der nachvollziehbar und klug angelegt ist und der für weitere Überlegungen einige Anschlussmöglichkeiten bietet. Man hätte sich diesen eigenen Teil nur sehr viel umfänglicher gewünscht.

 
 

Anmerkungen

Vergleiche zur Debatte zwischen Ludologen und Narratologen beispielsweise: Gonzalo Frasca: Ludologists love stories, too: Notes from a debate that never took place. Paper read at Level Up Conference Proceedings. 2003; Jesper Juul: The Ludologist. URL: http://www.jesperjuul.net/ludologist/ (13.3.2011); Jesper Juul: Games Telling stories? -A brief note on games and narratives. 2001; Julian Kücklich: Playability: Prolegomena zu einer Computerspielphilologie. 2008; M. Mateas: Build It to Understand It: Ludology Meets Narratology in Game Design Space. Paper read at Changing Views: Worlds in Play: Proceedings of the 2005 Digital Games Research Association Conference., 2005; B. Nanamaker: Emergent gameplay the limits of ludology and narratology in analyzing video game narrative. 2005; C. Pearce: Theory Wars: An Argument Against Arguments in the so-called Ludology/Narratology Debate. Paper read at Changing Views: Worlds in Play: Proceedings of the 2005 Digital Games Research Association Conferenceat Vancouver, 2005.   zurück
Melanie Kocher: Folge dem Pixelkaninchen! Ästhetik und Narrativität digitaler Spiele: Narrativität und Ästhetik digitaler Spiele. Zürich: Chronos, 2007.   zurück