IASLonline

Materiale Oberflächen:

Siegfried Kracauers Phänomenologie der Dingwelt in ihren multidisziplinären Kontexten

  • Frank Grunert / Dorothee Kimmich (Hg.): Denken durch die Dinge. Siegfried Kracauer im Kontext. München: Wilhelm Fink 2009. 229 S. Kartoniert. EUR (D) 29,90.
    ISBN: 978-3-7705-4621-3.
[1] 

Siegfried Kracauers Beobachtungen zur urbanen Oberflächenkultur der Zwanzigerjahre haben seit einigen Jahren in einer kulturwissenschaftlich orientierten Germanistik erhöhte Aufmerksamkeit erfahren. Zahlreiche Konferenzen und Sammelbände widmen sich seinem intellektuellen Œuvre, das sich an der Schnittstelle von literarischem Stadtbild, kultursoziologischer Gesellschaftsanalyse und (geschichts-)philosophischer Medientheorie bewegt und das sich der akademischen Zuordnung zu einer eindeutigen »Disziplin« verweigert. 1 Bei diesem wachsenden Interesse wird das eigene Profil eines Denkers kenntlich, der seine gesellschaftliche Gegenwart weniger in theoretischen Analysen bestimmt als in einem spezifischen Blick auf die materiale Erfahrungswelt der Kino-, Konsum- und Unterhaltungsindustrie zugänglich gemacht hat. In seinem Interesse an der visuellen Alltagskultur begegnen und überschneiden sich architekturtheoretische Reflexionen zum Bauhaus mit medienästhetischen Beobachtungen zur Kinokultur oder mit literarischen Flanerien durch die Revuen und Vergnügungsparks von Berlin und Paris.

[2] 

Methodologisch orientieren sich seine zeitanalytischen Essays (»Das Ornament der Masse«), Städtebilder (»Aus dem Fenster gesehen«) oder kultursoziologischen Expeditionen gleichermaßen an einem Ideal der »Konkretion«. Seine journalistischen Texte, ab 1924 regelmäßig im Feuilleton der linksliberalen Frankfurter Zeitung veröffentlicht, erhalten ihre Dynamik aus dem Misstrauen gegen abstrakte Kulturkritik und gegen die blinde Empirie neusachlicher Reportage. In dieser doppelten Frontstellung entwickelt sich Kracauers materiale Phänomenologie aus der reflektierten Erfahrung von alltäglichen Szenen und Figuren. Populäre Revuen, elektrische Werbefassaden auf dem Berliner Kurfürstendamm, Barszenen der Pariser Boulevards, melancholische Clowns oder triste Wohnsiedlungen, schillernde Kinopaläste oder anonyme U-Bahn-Unterführungen – sie alle bilden den Gegenstand seiner Aufmerksamkeit für das Sichtbare und das Unsichtbare. Sein Blick auf Oberflächen und Dingwelten entziffert das vermeintlich Banale und Nebensächliche als Indiz für die gesellschaftlichen Tendenzen moderner Massenkultur; deren geschichtlicher Standort wird kenntlich im reflektierten Zugang zum Alltäglichen, dessen verborgene Bedeutung das flanierende Denken durch eine Lektüre opaker Sinnspuren zu entziffern versucht. In dieser Verbindung aus Epochenanalyse und Objektbezug entsteht der zeitanalytische Gehalt von Kracauers besonderer Phänomenologie, die sein Freund und Antipode Theodor W. Adorno mit seinem Diktum vom »wunderlichen Realisten« nur unzureichend beschrieben hat. 2

[3] 

Auch wenn diese multidisziplinären Facetten in Kracauers Werk zunehmend akademische Aufmerksamkeit finden, ist ihre Verwurzelung in der zeitgenössischen Kulturwissenschaft bislang erst ansatzweise erhellt worden. Sie systematisch auszuleuchten, nimmt sich nun der von Frank Grunert und Dorothee Kimmich herausgegebene Sammelband Denken durch die Dinge vor.

[4] 

Idee und Aufbau

[5] 

Denken durch die Dinge – der Titel des Sammelbandes ist Programm. Setzt er es sich doch zum Ziel, Kracauer als einen optischen Denker der Oberflächenkultur der Zwanzigerjahre und deren medialer Bild- und Dingwelten neu zu erschließen. Wie nähern sich Kracauers Texte methodisch überhaupt »den Dingen«? Wie bezieht sich die sinnliche Intensität seiner Flanerien auf ihren Erkenntnisanspruch? Und welche Funktion hat das konkrete »Material« für ein Denken, das einerseits konstatiert: »Die Wirklichkeit ist eine Konstruktion« 3 – und das andererseits gerade auf einer besonderen Erfahrungsdichte beharrt? Aus medientheoretischer, kultursoziologischer oder kunstgeschichtlicher Perspektive fragen die hier versammelten Beiträge nach Konstellationen, die Kracauer mit anderen Denkern einer visuellen Dingwelt der klassischen Moderne (ca. 1900–1933) verbinden. Der Untertitel »Siegfried Kracauer im Kontext« hebt dementsprechend hervor, dass neben methodischem Stil und theoretischen Konturen seines Verfahrens besonders dessen Stellung im Rahmen einer intellectual history des frühen 20. Jahrhunderts erkundet werden soll. Thematisieren die Beiträge Siegfried Kracauer als Trabanten der Frankfurter Schule, der in einer produktiven Austauschbeziehung zu Walter Benjamin, Ernst Bloch oder Theodor W. Adorno stand, so erschließen sie ihn zugleich als einen undogmatischen Denker, der vielfältige methodische und thematische Bezüge zur Kulturphilosophie Max Schelers, zur Kunstgeschichte Alois Riegls, zur Metaphorologie Hans Blumenbergs oder zur Ikonologie des Warburg-Kreises unterhielt. In dieser Entdeckung überraschender Affiliationen, die nicht bereits in einer ersten Lektüre von Kracauers Texten offen zutage treten, bestehen Einsatz und Leistung des vorliegenden Bandes.

[6] 

Nach einer knappen Einleitung der Herausgeber, die auf Kracauers ideologieskeptischen Realismus und seine Faszination für die Oberflächen der Alltagswelt hinweist, sind die Beiträge in drei thematische Felder aufgeteilt. Unter dem Titel »Methodische Optionen: Oberfläche, Konkretion, Wahrnehmung« widmen sich die Beiträge des ersten Teils methodischen Aspekten von Kracauers besonderem Realismus. Mit Blick auf die zentrale Bedeutung »konkreten« Denkens rekonstruieren sie sein Programm einer Oberflächenlektüre als topographischer Raumanalyse und untersuchen seine Texte auf ihre Ästhetik der Aufmerksamkeit. Der zweite Teil thematisiert »Die Objektivität der Dinge: Undurchdringlichkeit, Verfallenheit, Realismus«. Die in ihm vereinten Beiträge stellen Kracauers Dingbezug in dessen theoretische Kontexte bei Ernst Cassirer, Walter Benjamin oder Hans Blumenberg. Dabei weisen sie nach, wie sich in den Zwanzigerjahren im Rekurs auf Simmels Tragödienmodell der Kultur ein kulturphilosophischer Diskurs über die Widerständigkeit des Dings entwickelt – über die Autonomie des kulturellen Artefakts, das sich in seiner Eigendynamik gegen die Verfügung durch philosophische Abstraktionen sperrt. Unter dem Motto »Der Vorrang des Optischen: Bilder und Medien« thematisiert zuletzt der dritte Teil die Bedeutungshorizonte des metaphorischen Komplexes der »Oberfläche« sowie die zentrale Funktion von Bildlichkeit für Kracauers Denken. Im Rekurs auf vielfältige Einflussbereiche von Riegls Kunstgeschichte über den Warburg-Kreis bis hin zu Interferenzen mit Benjamins utopischem Mediendiskurs gehen die hier vereinten Aufsätze den medientheoretischen und kunstgeschichtlichen Bezügen in Kracauers Werk nach.

[7] 

Oberflächenanalyse und Hieroglyphen-Entzifferung

[8] 

Der Akzent des ersten Komplexes von Beiträgen liegt auf den methodischen Optionen, die Kracauers Schreibweise prägen. Den Beginn macht Dagmar Barnouws Aufsatz »Vielschichtige Oberflächen. Kracauer und die Modernität von Weimar«, der im vorliegenden Sammelband posthum erscheint. Barnouw liest Kracauer als einen Denker der Pluralität. Seine Aversion gegen feste Identitätsentwürfe religiöser oder politischer Prägung bringt sie in Verbindung zu Robert Musils »Mann ohne Eigenschaften« und Helmuth Plessners Theorem der »exzentrischen Positionalität«. Wie Barnouw überzeugend argumentiert, teilen die drei Denker bei aller ideologischen Heimatlosigkeit eine Haltung der vorsichtigen Offenheit gegenüber intellektuellen Stimmen und weltanschaulichen Orientierungsangeboten der zeitgenössischen Diskurslandschaft. Mit diesem Moment einer produktiven Fremdheit als Nicht-Identität greift Barnouw das Interesse der jüngeren Kracauer-Forschung an den Themen Exterritorialität und Migration auf. Liegt dieses Interesse mit Blick auf Kracauers persönliche und intellektuelle Situation nach der Emigration in die USA nahe, so versetzt Barnouw es in eine Konstellation bereits der Zwanzigerjahre. So überzeugend diese Einschätzung, so fragwürdig allerdings ihre Vorgehensweise. Denn Barnouw verzichtet durchgehend darauf, ihre pointierten Thesen in der Auseinandersetzung mit konkreten Texten zu entwickeln. Ihre verallgemeinernden Urteile über Kracauers Werk beruhen oft mehr auf abstrakten Behauptungen als auf Argumenten. Ohne Erläuterung vorgebracht, bleibt etwa die Annahme, Kracauer sei von der Aktualität medialer Massenkultur als »technokratischem Kollektiv« (S. 20) fasziniert, weitgehend unverständlich. Und was unter seinem »wachsendem Skeptizismus gegenüber posthistorischen oder postmodernistischen Glaubenssystemen« (S. 15) im Kontext der intellektuellen Gemengelage der Zwanzigerjahre zu verstehen sein könnte, bleibt ebenfalls das Geheimnis der Autorin.

[9] 

Den methodischen Optionen und stilistischen Besonderheiten von Kracauers phänomenbezogenem Realismus und dessen Desiderat der »Konkretion« widmen sich die Aufsätze von Dirk Oschmann (»Kracauers Ideal der Konkretion«) und Helmut Stalder (»Das anschmiegende Denken. Kracauers Erotik der Wirklichkeit«). Beide knüpfen an frühere Arbeiten an, mit denen die Verfasser sich in der Kracauer-Forschung der letzten Jahre einen Namen gemacht haben. 4 Oschmanns Beitrag legt überzeugend dar, in welcher Form das Ideal eines »Denkens durch die Dinge« bereits in den Diagnosen eines transzendentalen »Wirklichkeitsverlusts« aus Kracauers kulturkritischem Frühwerk – etwa dem berühmten Essay »Die Wartenden« – angelegt ist. Obwohl sich Kracauer im Kontext seiner journalistischen Tätigkeit sowie der Auseinandersetzung mit Marx spätestens um 1925 von kulturkritischen Globaldiagnosen der Moderne ab- und der konkreten Lebenswelt des Großstadtbewohners zuwendet, bleiben doch sein Desiderat eines Zugangs zur »vollen Wirklichkeit« und seine Skepsis gegen theoretische Abstraktionen erhalten. Themen und Stil seiner Reflexionen ändern sich indes erheblich: Statt »Deutscher Geist und deutsche Wirklichkeit«, so ein Titel aus dem Jahre 1922, sind die Essays und literarischen Miniaturen nun mit »Untergang der Regenschirme« oder »Berg- und Talbahn« überschrieben. An die Stelle metaphysischer Szenarien von Sinnlosigkeit und Identitätsverlust treten erfahrungsbezogene Bilder; in ihnen verbindet sich die Faszination des Flaneurs für urbane Räume der Sichtbarkeit mit einer konstruktiven Schreibpraxis, die ihre Gegenstände auf epochentypische Bedeutungen hin ausleuchtet und damit immer wieder jene Selbstevidenz der Alltagsphänomene bricht, die als eine nur scheinbare entziffert wird. Wie Oschmann anhand des kleinen Textes »Die Hosenträger« nachzeichnet, bleibt das Ideal der »Konkretion« und der »Erkenntnis im Material« keine bloße Leerformel, wird vielmehr zur literarischen Praxis. Es entstehen Texte, die am Besonderen grundlegende Signaturen der Moderne herausstellen, diesen diagnostischen Gestus aber auch ironisch brechen und somit mehrdeutig bleiben.

[10] 

In diesem Zusammenhang weist auch Stalders Beitrag nach, wie Kracauers »Denkbilder« in ihrer Methodologie der »Oberflächenanalyse« zwischen Anschauung und Reflexion vermitteln. Denn die Faszination für urbane Bildwelten geht bei Kracauer mit einer konstruktiven Form des »Mosaiks« einher, das die Alltagswelt nicht eins zu eins abbilden, sondern reflexiv durchdringen will. Dabei zeichnet Stalder konzeptionelle Nähen zwischen Kracauers Oberflächendeutungen und dem sozialwissenschaftlichen Konstruktivismus der Siebziger- und Achzigerjahre nach. Wie er anhand der bekannten Miniaturen »Aus dem Fenster gesehen« und »Über Arbeitsnachweise« argumentiert, erscheint die »Oberfläche« in Kracauers Texten als ein Universum diffuser Zeichen, die Bedeutung anzeigen, doch eindeutige Lesbarkeit verweigern und folglich »entziffert« werden müssen. Daher die Metaphorik der »Hieroglyphe«, die in Kracauers Texten immer wieder aufgerufen wird. In Stalders Verständnis agiert der literarische Journalist als ein flanierender Traumdeuter, der das in Raumbildern sedimentierte gesellschaftliche Unbewusste erschließt und zugleich nach utopischen Spuren einer anderen Wirklichkeit sucht. Beide Tendenzen treffen sich in Stalders Optik unter dem – erkennbar von Benjaminischer Diktion beeinflussten – Konzept des »dialektischen Erwachens«.

[11] 

Rekapitulieren die Beiträge Stalders und Oschmanns methodologische Optionen Kracauers, die weitgehend bekannt sind, so setzt Dorothee Kimmichs »Begrenzen ohne zu definieren« einen neuen Akzent. Kracauers literarisch-essayistische Wahrnehmungsästhetik verortet sie im Kontext zeitgenössischer Wahrnehmungstheorien von Simmels »Die Großstädte und das Geistesleben« bis zu Benjamins »Über einige Motive bei Baudelaire«. Ein neuer Zugang gelingt ihr indem sie zeigt, dass in diesen Theorien »Zerstreuung« als Signatur moderner Lebenswelt nicht nur negativ auf einen Selbstverlust des Subjekts hinweist, sondern zugleich den produktiven Aspekt einer Wahrnehmungserweiterung durch radikale Selbstaufgabe und Entautomatisierung mit sich führt. Im Begriff der »Aufmerksamkeit« kommt eine Wahrnehmung zum Ausdruck, die in der Offenheit für diffuse Eindrücke zwischen Konzentration und Zerstreuung navigiert und so ungeahnte Schichten in den Oberflächen- und Bildwelten der Metropole zugänglich macht. Zwar wäre in diesem Kontext eine genauere Lektüre von Kracauers zentralem Essay »Kult der Zerstreuung« sinnvoll gewesen. Doch überzeugend ist allemal, wie Kimmichs Beitrag nicht nur einen Bezug von Kracauers Städtebildern zum Unfall-Kapitel in Musils Mann ohne Eigenschaften herstellt, sondern zugleich dezentrale Aufmerksamkeit als literarische Technik der Ver- und Entfremdung in seinem Roman Ginster nachweist. Indem der Beitrag vom theoretischen Konzept zu dessen literarischer Produktivität in konkreten Texten übergeht, vermeidet er eine Tendenz zum abstrakten Diskurs, die in anderen Beiträgen des vorliegenden Bandes – wie noch zu sehen – allzu offenkundig wird. Zuletzt weist Kimmich auf den utopischen Horizont einer »Rettung der Dinge« hin, der in der zerstreuten Korrespondenz des Subjekts mit der Dingwelt – in Kracauers Chaplin-Rezensionen wie in der Miniatur »Abschied von der Lindenpassage« – den verborgenen Fluchtpunkt einer Ästhetik der Aufmerksamkeit ausmacht.

[12] 

Widerständige Dinge – Realismus als »Rettung«

[13] 

Der Impuls einer »Rettung der Dinge« steht ebenfalls im Zentrum des zweiten Komplexes von Aufsätzen, die einen Kontext von Ding-Theorien in der klassischen Moderne herausstellen. Mit Blick auf die Verwurzelung Kracauers in einer Phänomenologie der Lebenswelt war bereits in den vorangehenden Beiträgen gelegentlich von Simmels Einflüssen die Rede. Zum zentralen Bezugspunkt eines kulturphilosophischen Diskurses über widerständige Gegenstände avanciert der Kulturphilosoph in Joachim Jacobs Beitrag »Undurchdringlichkeit«. Bei Simmel ist das Ding ein ambivalenter Gegenstand – es fasziniert als ästhetisches Objekt und verstört zugleich als Materialisation verselbständigter Kulturformen das Subjekt. Vor diesem Hintergrund zeichnet Jacob nach, wie die Widerständigkeit des Dings nach 1900 zum produktiven Konzept avanciert: Als Inbegriff der »Unerlöstheit« inspiriert es Rilkes Dingästhetik und Blochs Spuren, aber auch Schelers anthropologische Erkenntnistheorie. In diesem Zusammenhang liest Jacob die Ästhetik der flüchtigen Gegenstände in Kracauers »Abschied von der Lindenpassage« als eine »Anerkennung von ›Undurchdringlichkeit‹« (S. 113), die dann auch seine späte Theorie des Films im Motiv der »Errettung« beeinflusst. Dies ist überzeugend, ließe sich aber noch radikalisieren: Die Signatur der Fremdheit steht bei Kracauer im Horizont jener Begegnung von Mensch und Ding, die seine literarischen Texte (aber auch seine Chaplin-Rezensionen) im Modus der Entstellung und doch zugleich als utopischen Index aufrufen. In diesem Sinne bildet die »Verfallenheit ans Objekt«, so der Titel von Gérard Raulets daran anschließendem Aufsatz, eine verborgene Kontaktstelle des Messianischen in Kracauers Schriften.

[14] 

Einem solchen messianischen Horizont einer »Rettung der Dinge« widmet sich explizit Stephanie Waldows Beitrag »›Realistisch sein, ohne zu verdinglichen‹«. Sie liest Kracauers allegorische Städtebilder (etwa »Erinnerung an eine Pariser Straße«) im Horizont von Benjamins Sprach-, Medien- und Geschichtstheorie des »dialektischen Bildes«. Diese wird wiederum als Form des Eingedenkens in eine vom Vergessen bedrohte Dingwelt mit Benjamins früher Sprachphilosophie der »reinen Sprache« in Verbindung gebracht. Zugleich erweitert Waldow das Konzept einer allegorischen Erkenntnis auf Ernst Cassirers Symbolphilosophie, bei der das »mythische Denken« deutliche Parallelen zu Benjamins »Namenssprache« aufweise, sowie auf Hans Blumenbergs »absolute Metapher«, die für ein ästhetisches Residuum der verlorenen reinen Sprache in der modernen Kunst als einer »Arbeit am Mythos« stehe.

[15] 

Im Hintergrund dieser überraschenden und bislang unbekannten Bezüge steht offenkundig Waldows Dissertation über den Mythos der reinen Sprache, in der sie die allegorische Intertextualität der ästhetischen Moderne mit Blick auf Benjamin, Blumenberg und Cassirer als Suche nach der Darstellung einer Einheit von Sprache und Welt bei gleichzeitigem Bewusstsein um deren Unerreichbarkeit liest. 5 Doch so faszinierend diese Konzeption sein mag – funktioniert sie auch bei Kracauers Texten? Wohl kaum. Denn anstatt sie am Leitfaden von allegorischen Texten wie »Der verbotene Blick« auf den Prüfstand zu stellen, überträgt Waldow ihre Konfiguration Benjamin-Cassirer-Blumenberg in eher unkritischer Form auf Kracauer – einen Autor, der in ihrer (zweifellos beeindruckenden) Monographie zum selben Thema an keiner Stelle erwähnt worden ist. Dass dessen Texte eine Fragmentstruktur aufwiesen, dass sie dabei von Benjamin beeinflusst worden seien und dass dies bereits von zahlreichen Forschungsbeiträgen gezeigt worden sei – dies bleibt eine Behauptung ohne konkreten Nachweis. Dass Kracauer sich dagegen in seiner Rezension von Benjamins Trauerspielbuch sehr kritisch gegen dessen Versäumnis einer »Rettung der lebendigen Welt« 6 gewendet hat – dies bleibt unerwähnt, wenn er allzu schnell in die Riege der Denker einer »reinen Sprache« eingereiht wird:

[16] 
So werden Kracauers allegorisch hergestellte (sic!) Texte zu ›symbolischen Formen‹, die durch den Zusammenschluss von sinnlicher Wahrnehmung und sinnhafter Struktur an die Materialität der Dinge erinnern, indem sie sie als eine ›absolute Metapher‹ präsentierten (sic!). (S. 150)
[17] 

Abstrakt bleibt an diesem Resümee nicht nur die Subsumption Kracauers unter Blumenberg. Abstrakt bleibt auch das In-Eins-Setzen zahlreicher Benjamin-Texte von der frühen Sprachphilosophie über den Essay »Der Sürrealismus« und das Passagen-Werk bis hin zu den späten geschichtsphilosophischen Thesen, die wiederum mit unzähligen Texten Cassirers und Blumenbergs überblendet werden.

[18] 

Optische Bildwelten – medientheoretische und kunstgeschichtliche Horizonte

[19] 

Umkreiste der zweite Abschnitt des Bandes die Konturen von Kracauers Denken der Dinge, so widmen sich die Beiträge des dritten Abschnitts der spezifischen Rolle von Bildlichkeit in seiner Medientheorie und fragen nach deren intertextuellen Bezügen. Auf den Horizont einer »Rettung« bezieht sich auch der einleitende Beitrag des Medientheoretikers Günter Butzer mit dem Titel »MedienRevolution«. Er untersucht den utopischen Diskurs in den Medientheorien Kracauers und Benjamins und verfolgt die Leitthese, dass

[20] 
beide Autoren auf je unterschiedliche Weise die neuen Medien in eine Geschichtskonzeption einbinden, die auf die revolutionäre Überwindung von Geschichte ausgerichtet ist, und dabei die mediale und die soziale Revolution so ineinander blenden, dass beide nahezu identisch erscheinen. (S. 154)
[21] 

Überzeugend argumentiert Butzer zunächst, dass Benjamins Geschichtstheorie des dialektischen Bildes» sowie sein Materialismus der »profanen Erleuchtung« in ihren zentralen Metaphern medial verfasst seien und sich in deren messianischem Horizont »Belichtung« und »Erleuchtung« metaphorisch überschnitten. Als »kollektiver Medienkörper« (S. 154) seien Menschen, Dinge und technische Artefakte für Benjamin im Leib- und Bildraum der Moderne kybernetisch verschaltet; der utopische Horizont seines Denkens liege in einer »explosiven« (und damit medientechnisch codierten!) Sprengung des historischen Kontinuums, einer revolutionären Verschiebung, die für Benjamin nur durch die Dingwelt und als deren Rettung denkbar sei. Indem Butzer auf diesen eschatologischen Horizont in Benjamins Medientheorie hinweist, verbindet er diese zugleich mit dem Desiderat einer »Erlösung der äußeren Wirklichkeit«, um die Kracauers späte Theorie des Films bereits in ihrem Untertitel kreist. 7 Dabei bezieht er die Funktion der Medien bei Benjamin darauf, Dinge und Körper in ihrer Materialität herauszustellen; im äußersten Horizont medialer Bildwelten stehe die Kreaturwerdung des Menschen als deren utopischer Index. Dieser Horizont bleibe in Kracauers Medientheorie der Zwanzigerjahre – etwa in »Die Photographie« – noch ausgespart und werde erst in der späten Filmtheorie offenkundig, wenn auch als »Illusion einer medialen Rettung« (S. 168) angesichts politischer Desillusionierung.

[22] 

Diese Verbindung von Medialität, sozialer Revolution und Kreatürlichkeit in Benjamins utopischer Medientheorie stellt vielfältige Bezugspunkte zu Kracauers Fotografie- und Filmtheorie her, von denen bei Butzer allerdings nur wenige explizit thematisch werden. Dies ist wegen der Komplexität des Themas unvermeidlich; fragwürdig bleibt, dass wesentliche Aspekte überhaupt nicht erwähnt werden. Bereits in den Passagen zu Benjamin wird der »Kunstwerk«-Aufsatz, der doch für dessen politischen Horizont eines Medienkollektivs zentral ist, nur am Rande erwähnt. Im Übergang zu Kracauer konzentriert sich der Aufsatz dann beinahe ausschließlich auf die späte Theorie des Films, obwohl doch die Essays und Filmrezensionen der Zwanzigerjahre gerade mit Blick auf Benjamin sehr ergiebig wären: »Die Photographie« skizziert einen geschichtsphilosophischen Horizont der Filmmontage, »Kult der Zerstreuung« entwirft eine Politik des medialen Zerstreuungskollektivs, die Rezensionen zum russischen Revolutionsfilm verbinden den Ausblick auf eine politische Revolution mit der Erkenntnis verborgener Dingwelt, und die Chaplin-Besprechungen sehen das utopische Potenzial des Mediums gerade in der Entdeckung einer entstellten Kreatur, die zur Spur erlöster Menschlichkeit überhöht wird. Durch eine genauere Lektüre dieser Texte, in der Kracauer noch deutlicher als eigenständiger Denker zu profilieren gewesen wäre, hätte Butzers Leitthese noch deutlicher belegt, aber auch problematisiert werden können.

[23] 

Aus einer anderen Perspektive diskutiert Markus Schroers kultursoziologischer Beitrag das Thema der Sichtbarkeit. Er liest Kracauers Expeditionen in den Alltag der Angestellten als visuelle Ethnographie des Eigenen und begreift ihn so als Pionier einer qualitativen Sozialforschung, die auch für die Gegenwartssoziologie ein wichtiges Korrektiv zu empiriefernen Abstraktionen à la Luhmann bilden könnte.

[24] 

Während Schroers Beitrag weitgehend Bekanntes zum materialbezogenen Mosaik- und Montageverfahren in Die Angestellten referiert, setzen die abschließenden Beiträge von Claus Volkenandt und Detlev Schöttker neue Akzente für die Kracauer-Forschung, indem sie diese kunst- und kulturgeschichtlich auf noch weitgehend unbestellte Felder hin öffnen. Volkenandt liest Kracauers Essay »Das Ornament der Masse«, der die Rationalisierung von Bewegung in den populären Revuen der »Tillergirls« als Indiz für den geschichtlichen Standort der Moderne aufwertet, vor dem Horizont von Alois Riegls Theorie des holländischen Gruppenporträts. Obwohl beide Texte ästhetische Phänomene aus verschiedenen Jahrhunderten und mit völlig unterschiedlichen Intentionen interpretieren, weisen sie nach Volkenandt eine gemeinsame Konstellation von Geschichtsphilosophie, Ästhetik und Soziologie auf. Indem er »Das Ornament der Masse« auf die Kunstgeschichte um 1900 zurückbezieht, stellt der Beitrag die berechtigte Frage nach der Verwurzelung von Kracauers ästhetischen Phänomen-Lektüren in kunstgeschichtlichen Traditionen.

[25] 

Aus verändertem Blickwinkel prägt diese Frage auch den abschließenden Beitrag von Detlev Schöttker über Kracauers Bezug zum Warburg-Kreis. Präzise analysiert Schöttker evidente und mögliche Kontaktstellen. Über biographische Lektürespuren hinaus thematisiert er theoretische Nähen zwischen Kracauers Überlegungen zur sozialen Funktion des Massenornaments und der kultur- und mentalitätsgeschichtlichen Ikonologie des Warburg-Kreises. Auch wenn Warburgs psychohistorisches Interesse auf die Vergangenheit, Kracauers Raumbilder wie seine sozialpsychologische Filmstudie From Caligari to Hitler dagegen auf die Gegenwartsgesellschaft gerichtet seien, träfen sie sich doch im gemeinsamen Interesse an der sozialen Funktion und der kollektiven Semantik von Bildern.

[26] 

Fazit

[27] 

Indem der Sammelband Denken durch die Dinge Kracauers Phänomenologie des Sichtbaren und des Unsichtbaren in intellektuelle Konstellationen mit anderen Denkern der klassischen Moderne bringt, erweitert er die Kracauer-Forschung um neue und spannende Horizonte, deren kulturwissenschaftliche Dimensionen bislang noch nicht ausreichend untersucht worden sind. Die Beiträge von Jacob, Kimmich oder Schöttker zeigen eine solche Öffnung auf geradezu exemplarische, durchgehend überzeugende Weise. Doch das Interesse an Kontexten bringt zugleich die Gefahr mit sich, Kracauers eigene Arbeiten in ihrer stilistischen Besonderheit und ihrer intellektuellen Eigenständigkeit zu übergehen. Aus literaturwissenschaftlicher Sicht stellt dies ein Manko dar, zu dem einige Beiträge des vorliegenden Bandes mehr oder weniger deutlich neigen. Denn allzu häufig werden theoretische Konstellationen eher abstrakt behauptet als textnah gezeigt, geraten in der Faszination für theoretische und motivische Bezüge etwa zu Benjamin die entscheidenden Differenzen aus dem Blick. Gerade für eine Forschung, die immer wieder Kracauers »Ideal der Konkretion« hervorhebt, ist diese Tendenz problematisch. In diesem Sinne wäre künftigen Arbeiten gleichsam ein Denken durch die Texte anzuempfehlen – die Lust an einer kulturwissenschaftlichen Kontext- und Theoriebildung, die doch ihre Sensibilität für die Materialität der Texte nicht verliert. Dabei könnte es auch sinnvoll sein, sich wieder mehr mit eher unbekannten Essays und Städtebildern zu beschäftigen, die – anders als etwa »Das Ornament der Masse« oder »Erinnerung an eine Pariser Straße« – noch nicht als poetologische Zentraltexte kanonisiert worden sind.

 
 

Anmerkungen

Vgl. etwa Christine Holste (Hg.): Kracauers Blick. Anstöße zu einer Ethnographie des Städtischen. Hamburg: Philo 2006 sowie die Konferenz Looking after Siegfried Kracauer, die 2008 am Dartmouth College (Haover/USA) stattfand, (http://www.dartmouth.edu/~lhc/events/2008/kracauer.html).   zurück
Vgl. Theodor W. Adorno: Der wunderliche Realist. In: Noten zur Literatur. Gesammelte Schriften. Band 11. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974, S. 388–408.   zurück
Siegfried Kracauer: Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland. In: Werke 1. Hg. v. Inka Mülder-Bach. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 222.   zurück
Vgl. Dirk Oschmann: Kracauers Herausforderung der Phänomenologie. Vom Essay zur »Arbeit im Material«. In: Wolfgang Braungart / Kai Kauffmann (Hg.): Essayismus um 1900. Heidelberg: Winter 2006, S. 193–211; Helmut Stalder: Siegfried Kracauer. Das journalistische Werk in der »Frankfurter Zeitung« 1921–1933. Würzburg: Königshausen&Neumann 2003.   zurück
Stephanie Waldow: Der Mythos der reinen Sprache. Walter Benjamin, Ernst Cassirer, Hans Blumenberg. München: Fink 2006.   zurück
Siegfried Kracauer: Zu den Schriften Walter Benjamins. In: Aufsätze 1927–1931. Schriften Band 5.2. Hg. v. Inka Mülder-Bach. Frankfurt a.M. 1990, S. 119–124, hier S. 123.   zurück
Siegfried Kracauer: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit. Werke 3. Hg. v. Inka Mülder-Bach. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005.   zurück