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'Geschichte zerfällt in Bilder, nicht in Geschichte'

Ein Sammelband zur Ikonographie des RAF-Terrorismus

  • Norman Ächtler / Carsten Gansel (Hg.): Ikonographie des Terrors? Formen ästhetischer Erinnerung an den Terrorismus in der Bundesrepublik 1978-2008. Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2010. 427 S. 31 Abb. Gebunden. EUR (D) 49,00.
    ISBN: 978-3-8253-5709-2.
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Mehr als 30 Jahre nach dem ›Deutschen Herbst‹ und knapp 15 Jahre nach ihrer ›offiziellen‹ Selbstauflösung ist die Rote Armee Fraktion (RAF) noch immer kein erledigter Fall, sondern offenkundig in individual- wie kollektivpsychologischer Hinsicht nicht aufgearbeitet. Deutlich wurde diese fortdauernde Brisanz etwa an der äußerst emotional geführten Debatte um die RAF-Ausstellung der Berliner Kunst-Werke im Jahr 2005, und noch deutlicher wurde sie, als 2007 die anstehende Haftentlassung der ehemaligen Terroristin Brigitte Mohnhaupt und das Gnadengesuch von Christian Klar diskutiert wurden. Zu Wort meldeten sich Politiker und Ex-Terroristen, aber auch die Kinder der Opfer und Täter, die sich in Talkshows heftige Wortgefechte lieferten, während die Medien die lange zurückliegenden Ereignisse beleuchteten und die Arbeit am Mythos fortsetzten.

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Als nur folgerichtig mag daher erscheinen, dass das Thema RAF seine Anziehungskraft auch auf die Künste nicht verloren hat, im Gegenteil: So setzte sich der literarische RAF-Diskurs in den vergangenen Jahren auf produktive, vielfältige Weise fort, und Jahr für Jahr widmen sich Spielfilme, Opern, Theaterstücke, Popsongs, Ballettaufführungen und bildkünstlerische Werke der RAF. Auffällig ist dabei, dass keineswegs nur die Generation der Zeitgenossen, sprich: die sogenannten 68er an der Transformation von Geschichte in Geschichten beteiligt ist, sondern auch eine jüngere Generation, die die ›Bleierne Zeit‹ nur medial vermittelt kennengelernt hat.

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Und ›naturgemäß‹ haben sowohl die öffentlichen Diskussionen als auch die umfassende ästhetische Medialisierung und Visualisierung der politischen Zeitgeschichte mittlerweile zu einer intensiven wissenschaftlichen Auseinandersetzung geführt. Beispielhaft nennen lassen sich in diesem Zusammenhang die von Wolfgang Kraushaar herausgegebene Sammlung Die RAF und der linke Terrorismus (2006) 1 , die in zwei Bänden und auf über 1300 Seiten die Beiträge von u.a. Historikern, Soziologen, Juristen, Theologen und Kultur- und Medienwissenschaftlern versammelt, sowie die Sammelbände Mythos Terrorismus. Vom Deutschen Herbst zum 11. September von Matteo Galli und Heinz-Peter Preußer (2006) 2 und NachBilder der RAF (2008) 3 von Inge Stephan und Alexandra Tacke, die sich auf die ästhetischen Verarbeitungen des Terrorismus konzentrieren. An die letztgenannten Publikationen schließt nun der vorliegende Sammelband Ikonographie des Terrors? von Norman Ächtler und Carsten Gansel an, der auf eine Tagung zurückgeht, die im Jahr 2008 vom Zentrum für Medien und Interaktivität (ZMI) und dem Institut für Germanistik der Universität Gießen im Rahmen einer Filmreihe zum 30. Jahrestag des ›Deutschen Herbstes‹ ausgerichtet wurde.

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Die Sammlung präsentiert in sechzehn Aufsätzen, wie es ihr Untertitel formuliert, Formen ästhetischer Erinnerung an den Terrorismus in der Bundesrepublik 1978–2008, ergänzt um fünf Interviews mit Filmemachern und Autoren, die während der Veranstaltungen zu Gast waren – und wenn man so will, deutet sich bereits mit diesem Untertitel die zentrale Stärke des Bandes wie seine Schwäche an. Auf der einen Seite steckt er nämlich ein erfreulich weites Feld künstlerischer Repräsentationen des Terrorismus ab und greift dabei historisch weit aus, von unmittelbaren ästhetischen Reaktionen bis heute, und bietet auf diese Weise einige neue und für die weitere Diskussion fruchtbare Einsichten. Auf der anderen Seite ist diese in zweifacher Hinsicht weite Dimensionierung aber um den Preis mangelnder Kohärenz erkauft. Genauer: Die Beiträge folgen weder einer strengen chronologischen Ordnung noch sind sie nach ästhetischen Formen bzw. Teildiskursen sortiert und stehen daher tendenziell additiv nebeneinander (von einigen Redundanzen zu schweigen). Daher bleibt es weitgehend dem Leser überlassen, Zusammenhänge zwischen den einzelnen Artikeln herzustellen und nach Indizien dafür suchen, ob beispielsweise in Film und Literatur strukturhomologe Narrative oder ganz unterschiedliche Erzählmuster etabliert werden und welche Entwicklungslinien der ästhetischen Verarbeitungen des ›Deutschen Herbstes‹ sich über den Einzelfall hinaus rekonstrieren lassen.

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Bilder der Politik, Politik der Bilder

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In ihrer Einleitung benennen die Herausgeber immerhin den erinnerungstheoretischen Ausgangspunkt des Bandes und bieten von hier aus ein generationelles, zweiphasiges Ordnungsmodell an: Im Sinne ihres Titels gehen sie prinzipiell davon aus, dass individuelle wie kollektive Erinnerung im Allgemeinen und an die RAF im Besonderen maßgeblich von Bildern gesteuert wird – mit Walter Benjamin ließe sich pointieren: »Geschichte zerfällt in Bilder, nicht in Geschichte.« Die ›Bildergeschichte‹ des deutschen Terrors beginnt aus dieser Perspektive mit der strategischen Bilderpolitik der RAF selbst, die ihre nachfolgende Ikonisierung effektvoll vorgeprägt hat, und führt über die unablässige Reproduktion der (bewegten wie unbewegten) Bilder jener Zeit durch die Massenmedien zu kanonisierten Bildern von geradezu ikonischer Geltung. Plausibel erscheint von hier aus, dass der Band zwar durchaus der ikonographischen Arbeit der Zeitgenossen aus dem Umfeld der Studentenbewegung nachgeht, seinen Schwerpunkt aber auf eine nachgeborene Generation legt, die die RAF ausschließlich über medial tradierte Aufnahmen rezipieren konnte und ihre eigene Version der Geschichte gegen die diskursbestimmenden Zeitzeugen erinnerungspolitisch in Stellung bringt.

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Dieser biografisch begründete Paradigmenwechsel hat im Wesentlichen zwei Tendenzen hervorgebracht, denen die zunehmende Lösung aus dem zeitgeschichtlichen Diskurs gemeinsam ist: Zum einen ist hier die so viel besprochene wie unter dem eingängigen Label ›Prada-Meinhof‹ heftig kritisierte Spielart anzuführen, die das historische Bilder- bzw. Zeichenmaterial reflektiert, dekontextualisiert und nach einer popkulturellen Logik semantisch neu codiert. Ein solch metadiskursiver Umgang mit dem Zeichenmaterial ist beispielsweise charakteristisch für Leander Scholz’ Roman Rosenfest (2001) oder Christopher Roths Spielfilm Baader (2002).

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Zum anderen kann ein Teilstrang des ästhetischen RAF-Diskurses in einer bis zu Joseph Beuys oder Gerhard Richter zurückreichenden Tradition verortet werden, deren Vergangenheitsbezug sich mit Klaus Theweleit als »abstrakter Realismus« bezeichnen lässt. Vertreter dieser Traditionslinie kokettetieren im Zuge der Inszenierung als radikale künstlerische Avantgarde mit dem »Gestus des politisch Radikalen«, der dabei zum »abstrakten Gestus in der Kunst« nobilitiert wird. 4 Prototypisch durchgespielt wird eine solche Referenzialisierung der RAF als Folie für eine selbstinzenatorische künstlerische Provokation in popliterarischen Werken wie Tim Staffels Terrordrom (1999) und Joachim Bessings Wir-Maschine (2001), in denen sich eine ziellose ›Tristesse Royale‹ ironisch artikuliert, oder in ernst gemeinten politischen Filmen wie Die fetten Jahre sind vorbei (Regie: Hans Weingartner, 2004) und Romanen wie Teil der Lösung von Ulrich Peltzer (2007). Leider bleibt es hier bei dem allgemeinen Hinweis auf die ›aktuelle Terrorismus-Rezeption‹. Gerade mit Blick darauf, dass sich Peltzers Roman als Reaktion auf die Terror-Anschläge vom 11. September 2001 lesen lässt, die sein vorheriges Buch Bryant Park gleichsam erzähllogisch erschüttert hatten, wäre eine Antwort auf die Frage interessant gewesen, inwiefern die anhaltende Konkunktur des Themas ›Terrorrismus‹ mit Nine Eleven zusammenhängt. Auch in den Aufsätzen des Bandes klingt dieser Konnex gelegentlich an, ohne genauer analysiert zu werden.

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Literarisierungen

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Nahezu die Hälfte der Beiträge vermessen das Feld des literarischen RAF-Diskurses, wobei einige auch vergleichende Seitenblicke auf das Feld des RAF-Films werfen. Den Auftakt zu dieser ›Sektion‹ bilden Überlegungen von Matthias Schöning zu Ernst Jüngers Roman Eumeswil, der im ›RAF-Jahr 1977‹ erschienen ist und sich daher über den Entstehungskontext als Zeitkommentar anbieten könnte. Schöning widersteht allerdings der Versuchung, Eumeswil zur diskursrelevanten Äußerung oder seinen Autor Jünger gar zum hellsichtigen politischen Kommentar aufzuwerten, sondern zeigt stattdessen, dass Jünger hier über seinen ahistorischen Roman eine metapolitische Haltung inszeniert, genauer: dass er seine »Strategie des Desengagaments« (S. 33) fortsetzt, indem er sie an einem Fall demonstriert, in den er nicht als Akteur verwickelt ist – nur ein Randaspekt des Diskurses also, aber werkbiographisch durchaus interessant.

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Enno Stahl hingegen nimmt mit u.a. Christian Geisslers kamallata (1987) F.C. Delius’ Trilogie Deutscher Herbst und Rainald Goetz’ Kontrolliert ein Textkorpus in den Blick, das sich auf so diskursrelevante wie -typische Weise an literarischen Repräsentationen der Zeitgeschichte versucht. Welche Narrative dabei aufgegriffen und wie sie modifiziert werden, bleibt hier allerdings weitgehend im Dunklen, da Stahl sich seinen Untersuchungsobjekten eher subjektiv wertend nähert. Über Delius komplexen polyphonen Roman Himmelfahrt eines Staatsfeindes (1992) beispielsweise wird das bündige Urteil gefällt: »Es ist dies jedoch ein relativ misslungenes Stück, das unentschieden zwischen Groteske und realistischem Dokumentarstil changiert.« (S. 85) Zudem überrascht die Behauptung Stahls, dass bislang kaum Forschungsliteratur zu der RAF-Literatur vorliegt – zu Kontrolliert beispielsweise, dessen Erzähler Stahl übrigens mit seinem Autor identifiziert, wird kein einziger Beleg angeführt. Exemplarisch für die durchaus reichhaltige Literatur zu diesem Roman sei auf Uwe Schüttes luzide Analyse in seiner Studie Die Poetik des Extremen. Ausschreitungen einer Sprache des Radikalen (2006) 5 verwiesen, der sich leicht zahlreiche weitere an die Seite stellen ließen.

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Einen blinden Fleck der Forschung leuchtet Sylvia Henze aus, indem sie anhand von Ulrich Woelks Roman Die letzte Vorstellung (2002), Ulrich Plenzdorfs Fernsehspiel Vater, Mutter, Mörderkind (1993/94) sowie Volker Schlöndorffs Film Die Stille nach dem Schuss (2002) der bislang verborgenen DDR-Perspektive auf das dominant bundesrepublikanische Thema RAF nachspürt. Vorgenommen werde hier, lässt sich ihre Untersuchung zuspitzen, eine »Neuperspektivierung der Ikonographie des RAF-Terrors« (S. 196), u.a. indem die Protagonisten nicht auf dem westdeutschen »Abenteuerspielplatz« (John von Düffel), sondern im spießigen Alltagsleben unter falscher Identität in der DDR vorgeführt werden.

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Eine Untergruppe innerhalb dieser Sektion zu vorrangig literarischen Repräsentationen des ›Deutschen Herbstes‹ bilden Auseinandersetzungen mit popliterarischen Texten, die einige Überschneidungen aufweisen. Während Cordia Baumann Leander Scholz’ Rosenfest, Erin Cosgroves Satire Die Baader-Meinhof-Affäre. Ein romantisches Manifest oder Christopher Roths Film Baader als romantisierende Adaptionen des Bonnie und Clyde-Mythos liest und dabei etwas kursorisch vorgeht, bringt Jan Henschen in einer Art Montageverfahren Rosenfest mit Zitaten aus der Medientheoriegeschichte in Verbindung, so etwa aus Enzensbergers Baukasten zu einer Theorie der Medien (1970). Dieses Verfahren bietet durchaus einige überraschende und einsichtige Korrespondenzen, insgesamt aber bleibt die genaue Beziehung zwischen dem zeitgenössischen Mediendiskurs und dem popliteratischen Vertextungsverfahren unklar. Einen argumentationslogischen Höhepunkt des Bandes bildet dagegen der Beitrag von Sandra Beck, der sowohl die Rezeption von Rosenfest als auch poetologische Äußerungen des Autors sowie den Roman selbst luzide analysiert und ihm gegen seine Kritiker einen Platz im erinnerungspolitischen Kampf zuweist: Nicht als beliebiges Zitat-Mosaik könne der Roman gelesen werden, nicht als popliterarisches anything goes, sondern vielmehr als »erinnerungskulturelle (Selbst-)Bemächtigung einer Generation der Nachgeborenen« (S. 284), mittels derer die Geschichtsmodelle der Elterngeneration delegitimiert werden sollen.

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Weniger medienreflexiv als vielmehr politisch versteht dagegen Roman Halfmann Uwe Tellkamps Eisvogel, Peltzers Teil der Lösung und Bernhard Schlinks Das Wochenende als literarische Auseinandersetzungen mit einem Neo-Terrorismus im Zeichen der RAF. »Stellenweise erschreckend simpel« (S. 347) erscheinen dem Verfasser diese Literarisierungen, aber zumindest im Fall von Peltzers Post-9/11-Szenario wäre sowohl eine genauere Analyse und eine präzisere (werk-)biographische Kontextualisierung nötig gewesen, um ein solches Urteil fällen zu können – oder besser nicht.

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Schlinks Wochenende gerät auch in das Visier von Kirsten Prinz, die sich den Narrativen der RAF-Geschichte auf dem Weg der empirischen Rezeptionsästhetik nähert. Der erste Teil ihrer Überlegungen bietet die Ergebnisse einer Umfrage mit Kurzinterviews zur Frage nach der Erinnerung an die RAF. Grundsätzlich ließ sich dabei nicht feststellen, so Prinz, dass die persönliche Erinnerung der Befragten mit zunehmendem zeitlichen Abstand stärker auf mediale Vermittlungen zurückgreift, sondern nur, dass die »Art der Bezugnahme auf die Medien« sich von Generation zu Generation verändert (S. 313). Die privaten Erinnerungen flankiert Prinz mit einleuchtenden Lesarten von Schlinks Roman und Eichingers hollywoodesker Historie Baader Meinhof Komplex als ›Abschluss‹-Narrative – der Zusammenhang zwischen diesen medialen Narrativen und den individuellen Erinnerungen bleibt dabei allerdings unterbelichtet.

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Pawel Zimniak überzeugt demgegenüber mit einer in sich kohärenten strukturalistischen Rekonstruktion der Gewalt- und Machtphantasien in Thomas Melles Erzählung Raumforderung (2007), bettet seine analytischen Befunde aber nicht in den diskursgeschichtlichen Horizont ein. So wird nicht deutlich genug, in welcher Beziehung genau dieser Text zum aktuellen Terrorismus-Diskurs steht – und ohne eine solche Kontextualisierung steht der Beitrag recht unverbunden neben den anderen Analysen.

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Zwar mit einer nicht-fiktionalen Weise der Aufarbeitung von Zeitgeschichte beschäftigt sich Peter Braun, die aber durchaus unter das Signum ›Literarisierung‹ zu stellen ist: Braun ist es um Form und Funktion biographischer Darstellungen im RAF-Diskurs zu tun, wobei er sich auf die Ulrike Meinhof-Biographien von Mario Krebs, Alois Prinz und Jutta Ditfurth konzentriert. Sichtbar wird dabei, dass der Biograph jeweils die Rolle eines Autors von fiktionalen Texten adaptiert, indem er eine Erzählerfigur entwirft, über die die erinnerungspolitische Arbeit läuft: »Wie die Figuration der narrativen Instanz im Einzelnen auch gestaltet sein mag, es gilt, dass in dem Maße, in dem ein biographischer Erzähler in Erscheinung tritt, der Leser angesprochen und gegenüber der biographischen Erzählung in eine aktive, beobachtende und wertende Rolle gehoben wird.« (S. 178)

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In diese ›Sektion‹ einordnen lässt sich schließlich auch Daniel Randaus knappe Rekonstruktion der vordergründig faktualen Darstellung in Götz Alys Unser Kampf – ein irritierter Blick zurück (2008), da der Historiker seinen Rückblick zwar in das Gewand eines Sachbuchs kleidet, das Kernstück des Buches aber eine Analogie zwischen der bundesdeutschen Studentenbewegung der 1960er Jahre und den Alters- und Standesgenossen im Jahre 1933 ist, die vor allem unter Rückgriff auf literarische Darstellungsformen wie Analogien und (Krankheits-)Metaphern vollzogen wird. Auf diesem Wege skizziere Aly ein überzeitlich gültiges Bild des Deutschen als Patienten, der »auf merkwürdige Weise an sich selbst erkrankt ist«, und suggeriere eine »böse historische Kontinuität der Vergewaltigung des Mitmenschen als Gesinnung« als Symptom eines furor teutonicus (S. 368).

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Visualisierungen

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Unter der Oberbezeichung ›Visualisierungen‹ lassen sich die Beiträge von Norman Ächtler, Christian Hissnauer und Jürgen Stöhr versammeln. Norman Ächtler durchmustert mit Gewinn noch einmal den Autorenfilm Deutschland im Herbst (1978) hinsichtlich seiner medien- und bildkritischen Dimensionen. Unter umsichtigem Rekurs auf Alexander Kluges Konzept von »Gegenöffentlichkeit« und »Gegenproduktion« weiß Ächtler die legendäre Koproduktion von Vertretern des Neuen Deutschen Kinos wie u.a. Rainer Werner Fassbinder, Volker Schlöndorff, Alexander Kluge und Edgar Reitz als – einzigartige – Realisation einer linken künstlerischen Gegenöffentlichkeit und »Artikulation eines linken Gegengedächtnisses« (S. 76) zu erläutern. Auf die bildmediale, totalisierende Dominanz der Massenpresse reagieren die Regisseure gewissermaßen mit einer programmatischen Bilderlosigkeit, da sie auf die populäre Ikonographie des Terrors verzichten, die Ereignisse des ›Deutschen Herbstes‹ vielmehr als Leerstelle präsentieren und dementsprechend kein »gültiges Deutungsangebot« liefern, sondern eine »ergebnisoffene Hinterfragung des Zeitgeschehens« (S. 64).

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Historisch breiter angelegt und auf eine bislang vernachlässigte Seite des Diskurses gerichtet ist dann Christian Hissnauers Aufsatz, indem er den Opferdiskurs im bundesdeutschen Fernsehen von 1978–2008 anhand des Geschichtszeichens ›Mogadischu‹ rekapituliert und dabei demonstriert, wie untrennbar die Rechtfertigung bzw. Verurteilung von Gewalt mit der Frage zusammenhängt, wer das erste ›Opfer‹ auf seiner Seite weiß. Auf den Punkt gebracht: »Im Opferdiskurs geht es also immer auch um eine Selbstlegitimierung und eine Delegitimierung des Anderen. Dabei versuchen beide Seiten, ihre Opferdefinition diskursiv durchzusetzen und mehrheitsfähig zu machen.« (S. 106).

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Mit Jürgen Stöhrs etwas kryptisch lediglich »Herr Richter«! betiteltem Aufsatz stellt der Band den filmhistorischen Skizzen eine andere Form der Visualisierung an die Seite: Stöhr unterzieht Gerhard Richters RAF-Bilderzyklus 18. Oktober 1977 einer poststrukturalistisch inspirierten Re-›Lektüre‹ und versteht dessen Bilder dabei im Sinne Paul de Mans als selbstbezügliche Einsprüche gegen jegliche ideologische Vereinnahmungen bzw. als Form einer Ästhetik des Widerstands gegen einsinnige historische Referenzialisierungen. »Es wäre also wahrscheinlich genauso naiv«, bennennt Stöhr diese ideologiekritische Ambiguität, »im ›18. Oktober 1977‹ niemanden wiederzuerkennen, wie jemanden wiederzuerkennen.« (S. 134)

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Stimme, Stille und Sprache

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Auch der Titel des Aufsatzes von Svea Bräunert, »Soundscape Stammheim«, gibt zunächst Rätsel auf – hinter ihm verbergen sich aber die vielleicht originellsten Ergebnisse des Bandes. Der vom Komponisten und Medientheoretiker Myrray Schafer entwickelte Begriff ›Soundscape‹, der die Verbindung von Klang und Raum konzeptualisiert, bietet Bräunert die Grundlage für eine Darstellung der RAF als auch »in akustischer Hinsicht (...) herausragendes Phänomen der westdeutschen Nachkriegsgeschichte« (S. 199). Entlang der Leitdifferenz Stimme vs. Stille/Schweigen arbeitet sie an u.a. Austs Fernsehdokumentation von 2007, Hauffs Spielfilm Stammheim von 1985 oder der Rauminstallation camera silens (1994) von Rob Moonen und Olaf Arndt eindrucksvoll heraus, dass und wie die Erinnerung auch an Töne gebunden ist – oder an deren Abwesenheit, richtet man den Blick bzw. das Ohr auf die »Stille der Isolationshaft und das Sprechen der Körper im Zuge des Hungerstreiks« (S. 215).

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Nicht die gesprochene oder verweigerte, sondern die geschriebene Sprache der RAF und deren Rezeption in den Medien rekonstruiert schließlich Olaf Gätje aus diskursanalytischer Sicht. Beide Seiten, lässt sich mit Gätje konstatieren, versuchen mittels der Opposition Verständlichkeit vs. Unverständlichkeit die Diskurshoheit zu erringen, die Terroristen, indem sie in Kassibern, Manifesten und Kommuniqués einen idiosynkratischen Jargon entwerfen, und die öffentlichen Medien, indem sie deren Sprachhandlungen und gleichbedeutend deren Produzenten aus dem Bereich des Rationalen ausschließen. Beispielhaft anschaulich macht Gätje die Folgen eines solchen Ausschlussverfahrens an FAZ- und Spiegel-Artikeln über Ulrike Meinhofs Gehirn (das mehr als 20 Jahre im sog. Hirnarchiv der Tübinger Rechtsmedizin zu Forschungszwecken aufbewahrt wurde), die einen Nexus zwischen einer früheren Gehirnschädigung und den späteren Texten unterstellen.

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Produktionsästhetische Einblicke

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Eine erhellende Ergänzung von produktionsästhetischer Warte aus erfahren diese Beiträge durch die eingangs erwähnten Gespräche der Herausgeber mit Peter Schneider, Margarethe von Trotta, Reinhard Hauff, Leander Scholz und Christopher Roth, die den Band beschließen. Zu diesen Interviews nur so viel: In ihnen beglaubigen sich die einleitenden Bemerkungen von Ächtler und Gansel zum einen insofern, als alle Gesprächspartner die Überlagerung der eigenen Erinnerung durch die Bilder konstatieren. Und zum anderen bestätigen sie sich insofern, als zwei unterschiedliche Frontlinien sichtbar werden: Während die Zeitzeugen Schneider, von Trotta und Hauff ihre künstlerischen Positionen in einem innergenerationellen Konflikt sowohl gegen die politisch nahestehenden Generationsgenossen als auch die zeitgenössischen Massenmedien behaupten mussten, richten sich die ästhetischen Geschichtsversionen der ›Nachgeborenen‹ gegen diese Generation im Ganzen. Mit Leander Scholz pointiert: »Es ging mir um die Dekonstruktion eines zentralen Heldenmythos der Elterngeneration. (....). Dieser Generation ihre Geschichte wegzunehmen, habe ich mit dem Buch versucht.« (S. 413)

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Fazit

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Alles in allem präsentiert sich trotz der oben angeführten Monita eine äußerst aspekt- und perspektivenreiche Veröffentlichung, die wichtige Erkenntnisse zur Geschichte der ästhetischen Verarbeitung des ›Deutschen Herbstes‹ liefert und anschlussfähig ist für weitere, notwendige Untersuchungen zur Ikonographie des RAF-Terrorismus. Oder mit Bezug auf den Titel des Bandes formuliert: Das Fragezeichen kann insofern nun gegen ein Ausrufezeichen ausgetauscht werden, als plausibel gemacht werden konnte, dass der künstlerische Umgang mit dem Terrorismus der 1970er Jahre grundsätzlich an den überlieferten Bildern jener Zeit ausgerichtet ist – ein Phänomen, das sich übrigens vergleichbar an der ästhetischen Verarbeitung von Nine Eleven beobachten lässt. Doch versteht man das Fragezeichen als bewusst zurückhaltende Markierung einer Arbeit im Prozess, so gilt es weiterhin, da die kulturwissenschaftliche Rekonstruktion der ästhetischen Erinnerung an den Terrorismus der RAF weiterhin kein erledigter Fall ist.

 
 

Anmerkungen

Wolfgang Kraushaar (Hg.): Die RAF und der linke Terrorismus. Bd. I/II. Hamburger Edition, Hamburg 2006.   zurück
Matteo Galli / Heinz Peter Preußer (Hg.): Mythos Terrorismus. Vom Deutschen Herbst zum 11. September. Heidelberg: Winter 2006.   zurück
Inge Stephan / Alexandra Tacke (Hg.): NachBilder der RAF. Köln 2008.   zurück
Klaus Theweleit: »Bemerkungen zum RAF-Gespenst: Abstrakter Realismus und Kunst«. In: ders.: Ghosts: Drei leicht inkorrekte Vorträge. Frankfurt/M., Basel: Stroemfeld 1998, S. 17–99, hier S. 68 und 69.   zurück
Uwe Schütte: Die Poetik des Extremen. Ausschreitungen einer Sprache des Radikalen, Göttingen 2005, S. 395–432.    zurück