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DAS BÖSE, ach …

  • Peter-André Alt: Ästhetik des Bösen. München: C. H. Beck 2010. 714 S. Gebunden. EUR (D) 34,00.
    ISBN: 978-3-406-60503-1.
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»Das Böse ist immer und überall«, so spottete schon 1985 die österreichische Band »Erste Allgemeine Verunsicherung«. Für den Literaturwissenschaftler Peter-André Alt ist es das in der Tat. Zumindest ist das Böse für ihn eine zentrale Kategorie, ein Movens und Agens für die Ästhetik der Moderne und Postmoderne, sofern diese Ästhetik mit dem »Autonomie«-Gedanken gekoppelt ist, und als »ästhetische Autonomie im radikalen Sinne ernstgenommen wird« (S. 12). 1 Möglicherweise aber ist »das Böse« dann aber auch die Apotheose dieser Autonomie.

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Aber bevor wir beim Ende der Moderne ankommen, müssen wir herauszufinden versuchen, was denn dieses ominöse »Böse« ist. Peter-André Alt macht es uns nicht leicht. »In der Moderne existiert keine Begriffsgeschichte des Bösen mehr, sondern nur eine Vielzahl ästhetischer Formen, die seine Erscheinungsweisen reflektieren« (S. 19). Dieser etwas erratische Satz findet sich in der Einleitung der monumentalen, 714 Seiten umfassenden Studie mit dem knappen Titel Ästhetik des Bösen. Auf den ersten Blick könnte man die zitierte Bemerkung dahin gehend verstehen, dass Alt mit seinem Buch diese nicht existierende Begriffsgeschichte des Bösen nachliefern möchte, aber die kontrastierende Erwähnung der diversen »Erscheinungsweisen« des Bösen macht stutzig. Begriffe und Erscheinungen sind nun einmal sehr unterschiedliche Dinge.

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Einigermaßen plausibel erscheint zunächst Alts Vorgehen, auf eine »allgemeine Bedeutungsgeschichte des Begriffs« zu verzichten, sich lieber auf »die ›Selbstanzeige‹ der fiktionalen Texte, die das Böse über seine Erscheinungsformen jenseits eines abstrakten Sinns als solches bezeichnen und präsent machen« zu verlassen und so vom »Versuch, verbindliche Definitionen des Bösen auf stabiler terminologischer Basis anzupeilen« (S. 29) abzusehen. Das Böse in literarischen Texten, so verstehe ich den Literaturwissenschaftler Alt bis hierher, ist das, was sich selbst in eben diesen Texten als Böses bezeichnet. Denn ansonsten müsste man es in den Texten interpretierend und irgendwie sonst hermeneutisch identifizieren. Dazu wäre dann in der Tat ein Vorverständnis dessen nötig, was denn, in jeweils verschiedenen Kontexten, »das Böse« sein könnte. Eine Begriffsgeschichte des Bösen allerdings wäre dann unabdingbar, denn wie sollte sich ein noch so schwach konturierter Begriff oder eine Vorstellung eines Begriffs oder eine Vorstellung von dem, was man unter »dem Bösen« versteht, sonst herstellen? Schließlich finden sich im Literaturverzeichnis des vor Material überbordenden Werkes eine Menge Studien und Schriften zu nichts anderem als einer »Begriffsgeschichte« zum Lemma »Das Böse«. Oder sollten wir lieber von »Begriffsverwendungsgeschichte« reden?

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Die üblichen Verdächtigen

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Denn nichts anderes bietet die Studie. Beginnend mit einem ausführlichen Referat der »Geschichte vom Sturz Luzifers«, 2 die Alt vom Bartholomäus-Evangelium (S. 33 ff.) ausgehend rekonstruiert, hangelt er sich entlang der einschlägigen Namen und Protagonisten, die man aus den dito einschlägigen Studien seit Mario Praz 3 und Karl Heinz Bohrer 4 kennt – von Voltaire und Wezel, Tieck, Kleist, Schiller, Klingemann und E.T.A. Hoffmann über den Marquis de Sade zu Baudelaire, Walpole, Radcliffe, Shelley und Poe, von Huysmans zu Przybyszweski, Jünger, Heym und Genet und vielen mehr. Kaum ein ›üblicher Verdächtiger‹ bleibt unerwähnt, ein wenig überraschend höchstens die Eingliederung von Robert Müllers Roman Tropen (S. 447 ff.) in die literarische Reihe (denn um nichts anderes als eine literarische Reihe 5 handelt es sich bei Alts Projekt, auch wenn diese Reihe prekär ist, wie zu zeigen sein wird), ebenso wie die Integration von Curzio Malapartes Kaputt (S. 470 ff.) und Jonathan Littells Die Wohlgesinnten (S. 496 ff.). Nicht überraschend, aber folgerichtig endet die Paradigmen-Parade mehr oder weniger mit Bret Easton Ellis´ American Psycho (S. 517 ff.). Vermutlich würde Alt den Terminus »Reihe« im Zusammenhang mit den »literarischen Varianten des Bösen« (S. 29) nicht gerne sehen, aber die von ihm selbst zu einem Textkorpus zusammengefassten Motive, Sujets, Erzählungen und Themen von Mord, Totschlag, Perversion, Devianz, Exzess, Perversion, Gotteslästerung, Blasphemie, Massenmord, Holocaust, exaltierter Gewalt und so weiter lassen keinen anderen Schluss zu, als dass die von ihm oben abgelehnte Begriffsgeschichte des Bösen in Gestalt einer literarischen Reihe wiederkehrt. Einer Reihe indes, deren Triftigkeit noch lange nicht erwiesen ist.

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Dass im Verlauf dieser Reihe deren konstitutives Element, eben »das Böse«, nicht nur unterschiedliche Darstellungsmodi erfährt, sondern sich im Feld der philosophischen Begriffe, Diskurse und Traditionen historisch und funktional unterschiedlich positioniert, ist klar. Die Beispiele und deren Anordnung, die Alt wählt, folgen dem zeitlichen Auftreten und den philosophischen oder anderen diskursiv relevanten Korrelaten: Zu Themenfeldern und Motiven wie Satanische Messen, Orgien, sexuelle Devianzen und Perversionen, alle Arten der Überschreitungen, Exzesse und Gewalt verzahnt Alt fugenlos literarische Texte, egal, welcher Zugehörigkeit zu Gattung oder Genre, mit expositorischen 6 Texten der ›passenden Philosophen‹. Auch dort treffen wir auf die einschlägigen, oft diskutierten Passagen von Hegel, Rosenkranz und Kant bis zu denen der Spezialisten zum Thema, also von Nietzsche, Bataille, Foucault und so weiter. Am Ende liest Alt folgerichtig Jünger mit Carl Schmitt und Jonathan Littell mit Adorno, Thomas Mann und Hannah Arendt. Für Bret Easton Ellis bleibt ein wenig Heidegger, ein wenig Baudrillard.

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Was ist böse?

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Aber je mehr Alt Verknüpfungen anstellt und seinen enzyklopädischen Zitatenschatz blitzen und blenden lässt, desto undeutlicher wird das Ziel der Argumentation, desto unklarer Alts Intention. Es stellt sich, um es altmodisch zu formulieren, entschieden die Frage nach dem erkenntnisleitenden Interesse der voluminösen Studie. Die Verwirrung des Rezensenten fängt mit Alts seltsamer Weigerung an, »das Böse« zu benennen. Dass es so etwas wie eine »ästhetische Attraktivität des Bösen« gibt, als Feld, auf dem die Freiheit der Kunst von bestimmten Moralbegriffen erprobt wird, 7 ist kaum zu bezweifeln. Auch dass diese Erprobungen prekär werden können, übersieht Alt keinesfalls:

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Das Skandalon einer ästhetischen Attraktivität des Bösen ist nach Auschwitz nicht zu verdrängen; mit ihm – und nicht mit der moralischen Reflexion böser Gesinnungen und Handlungen in literarischen Texten – hat dieses Buch zu tun. (S. 25)
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Allerdings, selbst wenn wir das Wort »moralisch« hier für einen Moment suspendieren – wie möchte Alt ansonsten die »Selbstanzeige« (s.o.) des Bösen identifizieren, wenn nicht anhand »böser Gesinnungen und Handlungen«, die in literarischen Texten dargestellt, erzählt, behauptet, thematisiert werden? Texte sind Artefakte, sie können aus evidenten Gründen höchstens metaphorisch »böse« sein. Redeweisen wie »Die Verselbständigung des Bösen im Text« (S. 16) 8 sind rein metaphorisch und es ist kein neo-konstruktivistisches Genörgel, wenn ich hier ein Grundproblem des ganzen Buches sehe. Was Alt meint, wenn er vom »Bösen« spricht, bleibt begrifflich unscharf, unklar. Verschwommen und unpräzise, nicht etwa im Sinne einer »dynamischen« Theoriebildung, sondern im Sinne mangelnder Prägnanz. Die aber ist, wie wir sehen werden, nicht nur sprachlich.

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Die nicht mehr schönen Künste

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Denn mustert man die besagten »bösen Handlungen und Gesinnungen« im Gesamtvolumen der Alt´schen Primärtexte, kommt man zu einem altbekannten Katalog der Negativitäten: Man trifft auf das Abscheuliche, das Anstößige, das Grausige, das Hässliche, das Obszöne, das Schaurige, das Schreckliche und eben, noch nicht einmal als primus inter pares, auf das Böse.

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All diese Kategorien und noch mehrere dieser Art bildeten zum Beispiel das Thema der »Poetik und Hermeneutik«-Konferenz von 1968: »Die nicht mehr schönen Künste«. 9 Das Böse war unter all diesen »Grenzphänomene[n] des Ästhetischen« – so der Untertitel des Symposiums – ganz selbstverständlich mit gemeint. Als Kategorie unter anderen, und auch als Kategorie unter anderen diskursiv bedacht und beredet, wie eine ganze Anzahl von Statements beweisen. 10 Aber das Böse war, im Gegensatz zu Alts Verortung, in diesem Ensemble keinesfalls die Superkategorie, die alle anderen »Grenzphänomene«, alle anderen »nicht mehr schönen« Sujets, Themen und Diskurse überwölbt. Was hässlich ist, muss nicht böse sein, was abscheulich ist, kann einfach abscheulich sein, ohne weiteren Prädikationsbedarf.

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Bei Alt hingegen werden solche Manifestationen des Unschönen oder Negativen unabhängig vom Stand der jeweiligen Ästhetik-Diskussion zum »Bösen« erklärt, zumindest darunter subsumiert. »Lasterhaftigkeit«, »Geilheit« etc., sofern sie in literarisch vertexteter Gestalt auftreten, geraten Alt flugs zum »Bösen«, 11 wie er am Beispiel von de Sades La Philosophie dans le Boudoir ausführt. Das »Böse« läge zwar hier nicht vordergründig in den Handlungen und Gesinnungen der diversen Lüstlinge, Libertins und Bösewichte, 12 sondern in seinem »Quellpunkt«. »Quellpunkt« des Bösen ist in diesem Fall »die Interpretation [der Natur, TW] als Spielraum der Lust, ihre konsequente Umdeutung von einem Sinnbild des göttlichen Guten, dessen Vorbild zur moralischen Praxis anhält, zu einem des unbeschränkten Triebhandelns« (S. 260). Einmal abgesehen davon, ob »Natur« notwendigerweise im späten 18. Jahrhundert in der Tradition des augustinischen, dann barocken und im 19. Jahrhundert eher wieder spätromantischen »natura loquitur« 13 verstanden werden muss – eine solche intellektuelle Operation bei aller Abstraktion als »Quellpunkt« des Bösen zu verstehen, ist genau die »moralische« Einschätzung und Begründung von Handlungen und Gesinnungen, die Alt gerade vermeiden wollte: Das Böse ist nicht das Laster an sich, sondern dessen Grundlage – die sündhafte Fehlinterpretation von »Natur«, die zu bösen Handlungen und Gesinnungen führt. Aber wo liegt dann letztendlich die Pointe?

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Autonomie?

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Gerade im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert findet bekanntlich der Paradigmenwechsel statt, der mit Stichworten wie »Entgrenzung«, »Überschreitung« und letztendlich »ästhetische Autonomie« einhergeht. Völlig zu Recht besteht Alt darauf, dass die Debatte des Bösen in diesen großen Zusammenhang gehört, in die Diskussion der »Autonomieästhetik« und deren »Geltung für die Moderne« (S. 29). Das »Böse« wäre, so gesehen, bei Alt der Lackmustest auf die »Freiheit des Ästhetischen« von außerästhetischen Normativitäten.

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Um diesen großen Zusammenhang drehte sich auch die »Poetik und Hermeneutik«-Tagung, die ich nicht aus forschungsnostalgischen Gründen heranziehe, sondern um eine bestimme Differenzqualität zu Alts Projekt sichtbar werden zu lassen, die mit seiner Redeweise vom »Bösen« zu tun hat. Alt nimmt nämlich diese Diskussion von 1968 verdeckt auf, wenn er Odo Marquards Artikel »Malum« im Historischen Wörterbuch der Philosophie kritisiert, weil dort »ein dauerhaftes Fortwirken der Theodizee-Argumentation bis zur Moderne unterstellt« wird und so »die Kategorie des Bösen in die Asservatenkammer der Begriffsgeschichte« verbannt wird, »ohne jedoch ihre Brisanz für sämtliche Formen der kulturellen Selbstverständigung ins Kalkül zu ziehen« (S. 557, Anmerkung 17).

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Marquard hatte im Kontext der »Poetik und Hermeneutik«-Debatte des Abscheulichen und Schrecklichen, also des »Bösen« im Sinne von Alt, die Frage aufgeworfen, ob nicht die »philosophische Diskussion« des »Bösen« entlastet sei durch die »Aufnahme von Kategorien des Nicht-Schönen in die Theorie des Kunst« und ob nicht via einer »Ästhetisierung des Theodizee-Problems« das »Böse« in die Grenzbereiche der Kunst ausgelagert, resp. auf einen »Nebenkriegsschauplatz« verlagert werden könne. 14 Recht eigentlich und angesichts der Kritik von Alt paradoxerweise, steht Marquard damit sogar auf der Seite von Alt, weil er, ähnlich wie Alt, das »Böse« als Zentralkategorie (eben wegen des Zusammenhang mit der Theodizee) ernst zu nehmen scheint.

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Der einhellige Widerspruch der Diskutanten von 1968 hingegen legt auch die Schwachstelle von Alts Argumentation von heute bloß: Man verständigte sich schnell, dass es gerade der gesamte Komplex von Überschreitungen und Entgrenzungen des Ästhetischen sei, der die ganze Brisanz des »Autonomie-Paradigmas« ausmacht. Für den Romanisten Karl Maurer etwa bildet das Böse bei Baudelaire nicht eine primäre, eigenständige Kategorie, sondern geht in dessen weitläufigerem Programm auf, der »Lyrik die Dimensionen des Negativen« zu erobern; 15 für Wolfgang Preisendanz geht es beim »Bösen« um das ebenfalls weitaus größerformatige Problem »der Dichtungsrezeption als Genuss der menschlichen Natur in ihrem absoluten Vermögen«, 16 für das der Genuss des Bösen zwar eine (wichtige) Rolle spielt, aber eben auch kontextualisiert werden muss, und somit kein dominantes Prinzip ist.

[20] 

Halten wir fest, dass Alt auf dem Feld der »Entgrenzungs«- und »Überschreitungs«- Diskussion den Nachweis der Eminenz des »Bösen« als Zentralkategorie und Agens des Autonomieparadigmas nicht erbracht hat.

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Kontexte

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Ein Verdacht, warum das auch schwer möglich und notfalls gar nicht sinnvoll ist, ergibt sich aus dem eben gebrauchten Begriff der Kontextualisierung. Ein kleines Beispiel, gerade aus genuin literaturwissenschaftlicher Sicht: Natürlich ist E.T.A. Hoffmanns Schauerroman Die Elixiere des Teufels ein prächtiges Musterbeispiel der »Schwarzen Romantik«, für Alt ein interpretatorisches Exerzierfeld par excellence, der Bruder Medardus als »Satans ästhetische Verdoppelung« (S. 116–133) ein Glücksfall. »Die zentrale Botschaft des ersten und wichtigsten deutschen Schauerromans lautet, dass die seelische Welt des Menschen aus den Fugen geraten ist, weil ihn ein unbeherrschbarer Trieb bestimmt« (S. 131), schreibt Alt. »Das Böse« entstammt hier »dem schmutzigen Grund der menschlichen Seele« (ebd.), und so weist »Hoffmanns Roman (…) dem Trieb und der Ratio neue Plätze im psychischen Haushalt zu« (S. 129). Tatsächlich ist das aber gar nicht so unerhört und neu, denn Alt selbst konzediert, dass das formale Generierungsprogramm der »Dualität der Welt«, das den Roman antreibe, auch für viele andere Texten Hoffmanns gültig sei. 17 Bei diesen anderen Texten kommen aber nicht unabdingbarerweise das »Böse« oder verwandte Kategorien des Negativen ins Spiel. Die literarische Form, das »serapiontische Prinzip« scheint mit dem »Bösen« und der »Schwarzen Poetik« nicht notwendigerweise verbunden zu sein. Und man kann auch der Meinung sein, dass E.T.A. Hoffmanns Beitrag zum Autonomie-Paradigma vielmehr in seiner radikalen Umsetzung des Schlegelschen Postulats der »romantischen Universalpoesie« 18 zu suchen sei – die aber findet vornehmlich in einem Feld statt, in dem das Böse nur sehr umständlich vermittelbar eine Rolle spielen könnte: Im Feld der Musik und der Austauschbarkeit des Materials, mit dem E.T.A. Hoffmann sowohl fiktional als auch expositorisch über Musik spricht, in den »Kreisleriana« etwa und gleichfalls in den höchst innovativen Beethoven-Rezensionen. 19 An solchen Stellen sind die ästhetische Entgrenzung, die Mesalliance von Stilen und Textsorten, von Fiktivem und Nicht-Fiktivem, kurz alle Signaturen der (Prä-) Moderne ganz ohne Zutun des »Bösen« schon wesentlich weiter gediehen als etwa in den »Elixieren«.

[23] 

Zudem stehen die Elixiere des Teufels wie viele Beispieltexte in Alts Studie nicht nur für sich allein als Repräsentanten gewisser Aspekte des »Bösen«, sondern sie stehen in jeweils eigenen literarischen Reihen. 20 Jedoch verweigert Alt in diesem Zusammenhang auffällig, die Relationen der Einzeltexte zueinander innerhalb solcher Reihen zunächst zu klären.

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Wo bleibt die Kriminalliteratur?

[25] 

Besonders deutlich wird das im Fall Bret Easton Ellis. Alt hält den 1991 erschienen Roman American Psycho für »eines der beunruhigendsten Bücher, das in den letzten 20 Jahren erschien« (S. 517). Man könnte entgegenhalten, dass American Psycho auch ein unfreiwillig komisches Buch sei oder ganz im Sinne Kants »abgeschmackt«. Argumente, die aber nur ziehen, wenn man American Psycho nicht als isolierten, singulären Text versteht, sondern den Roman in die Reihe der Serialkiller-Romane stellt, die in den 1980er und 1990er Jahren Furore machten. Bis auf einige signifikante Ausnahmen, geht es in Serialkiller-Romanen jener Jahre in der Tat um »das Böse« – denn der Serialkiller (insbesondere in den Romanen von James Ellroy und Thomas Harris) diente zur »Entsoziologisierung« von Verbrechen, was auch durchaus politische Implikationen hat. Aus dem Serialkiller wurde das personalisierte Böse, 21 der Erfolg dieses Typus auf dem Buch- und Medienmarkt (auch Jonathan Demmes´ Blockbuster Das Schweigen der Lämmer erschien 1991) war ungeheuer. Bret Easton Ellis musste nur diesen Sujet-Teil mit einer anderen grassierenden zeitgeistigen Mode, nämlich der Idolatrisierung von Marken- und Markenartikeln, kombinieren. Die anderen Ingredienzen seines Romans, die kalte, distanzierte Sprache, der »a-moralische« Held, »die Planungslogik einer taghellen Ratio« (S. 518) bei der Ausübung exzessiver Gräueltaten – alle diese Prinzipe sind ja bei Ellis keinesfalls innovativ kombiniert. Von American Psycho führt eine direkte Linie zurück zu Patricia Highsmith´ Romanen um den Mörder Tom Ripley, zu Charles Willefords lakonischen Porträts »wohlgemuter Psychopathen«, 22 zur eisigen protokollarischen Sprache von Truman Capotes In Cold Blood. Und natürlich gibt es im Sub-Genre des Serialkiller-Romans die Gegenrede – am energischsten bei Robin Cook alias Derek Raymond, dessen Factory-Serie, insbesondere der Roman I was Dora Suarez, 23 durch die Vielfalt und Virtuosität im Einsatz literarischer Mittel und der damit erzielten Drastik des Grauens American Psycho weit hinter sich lässt. Die Effekte, die Ellis mit den einfachen Mitteln der »Fallhöhe« erzielt, 24 stehen direkt im Kontext der modernen Kriminalliteratur seit Dashiell Hammett.

[26] 

»Vom Bösen«, schreibt Alt, »bleibt die Erzählung übrig, die seinen Begriff noch schemenhaft präsent hält, aber die praktischen Normen moralischer Urteilsbildung, wie sie in der Überführung des Verbrechers auftreten, kassiert« (S. 524). Abgesehen davon, dass Alt Kriminalliteratur vermutlich mit dem historischen Muster des Detektivromans 25 verwechselt, neigt er dazu, viele seiner Beispieltexte »textimmanent« nur auf ihre Brauchbarkeit für sein Thema abzuklopfen, ohne sie in ihre Kontexte zu stellen. American Psycho kann man nicht ohne die Kenntnis von und ohne Bezüge zur Kriminalliteratur en general vernünftigerweise betrachten.

[27] 

Tatsächlich gehört es zu den essentiellen Unklarheiten von Ästhetik des Bösen, dass ausgerechnet die Literatur, die seit nunmehr fast 150 Jahren programmatisch all das literarisch inszeniert, was Alt unter dem »Bösen« zu verstehen scheint, kaum vorkommt. Beziehungsweise streng auf das späte 19. Jahrhundert limitiert wird. Interessanterweise referiert Alt in dem einschlägigen Kapitel »Kriminologische Fallstudien« (S. 340–352) im Wesentlichen die Theorien von Lombroso, Krafft-Ebing und Groß, die als expositorische Texte zur Ästhetisierung des Bösen eigentlich wenig beizutragen haben. Sie fungieren als eine Gegenposition zu den auf dem literarischen Weg gewonnenen Erkenntnissen von »Stevenson, Döblin oder Heym«. Die nämlich hätten in ihren Fiktionen das Bewusstsein dafür geschärft, dass »kriminelles Verhalten unabhängig von den Gliederungsansprüchen einer kausal argumentierenden Forensik unzugängliche Restmotive aufwies« (S. 349). Und genau, »an diesem Mechanismus, der dem Verbrechen eine eigene Identität jenseits der Ordnungskategorien der Rechtwissenschaft und Medizin verleiht, setzt die moderne Ästhetik des Bösen an« (ebd.). Immerhin scheinen bei Alt das Kriminelle und das Böse auf einer kategorialen Ebene zu liegen, was begriffsgeschichtlich gesehen interessant ist. Zum zweiten gibt es jede Menge nicht-literarischer Reflexionen über Legalität, Illegalität, Legitimität und Illegitimität, über Verbrechen und Kriminalität als »Normenkontrolle« und vieles, vieles mehr, 26 die genau die von Alt unterstrichenen »unzugänglichen Restmotive« bedenken.

[28] 

Man könnte sogar die von Alt marginalisierte und nicht wahrgenommene Kriminalliteratur als den Ort bezeichnen, an dem dann in der Tat die Ästhetisierung und Formgebung jenes »jenseits« stattfindet. Alt meint, »die psychologische Literatur der Moderne, deren Strukturmuster den Typus des Kriminalromans überschreiten, gesteht dem Bösen des Verbrechens jene verstörende Macht zu, die Forensik und Psychologie am Ende des 19. Jahrhunderts mit den Mitteln der exakten Wissenschaft aufzuheben suchten« (S. 349). Abgesehen davon, dass ein »Typus des Kriminalromans« Ende des 19. Jahrhunderts noch gar nicht ausgeprägt war, meint Alt vermutlich den Umstand, dass Kriminalliteratur per se keine Rolle zu spielen brauche, weil sie – an die Erzählbarkeit der Welt glaubend – eine typische Textsorte der Vormoderne ist. Das aber wären dann auch die Texte von Bret Easton Ellis und mehr noch, von Jonathan Littell.

[29] 

Moral und Urteil

[30] 

Denn ausgerechnet bei Littell jr. in dem Roman Die Wohlgesinnten, so Alt, kollidiere eine moderne »Ästhetik des Bösen« mit dem Bösen schlechthin, mit Auschwitz. Das Skandalon dieses Roman sei, dass trotz aller intertextuellen Bezüge, die das Buch konstitutiv aufwendet, um die Geschichte vom hochgebildeten Ästheten und SS-Mörder Maximilian Aue zu erzählen, das »Böse«, »das Aue verkörpert, ursprünglich nicht der Fiktion, sondern der historischen Wirklichkeit entstammt« (S. 501). So weit, so gut. Problematisch wird die Argumentation Alts, wenn er wie folgt fortfährt: Weil Littell »den NS-Täter über ein Geflecht von Elementen der literarischen Überlieferung [durch die intertextuellen Bezüge, TW] charakterisiert, verwandelt er die fürchterliche Authentizität der Kriegsverbrechen in ein spielerisches ästhetisches Konstrukt«. 27 Trotz der unklaren Formulierung gehe ich davon aus, dass Alt hier über einen Text spricht, über Begebenheiten in einem Roman, nicht über irgendwelche Realitäten. Aber »Authentizität« findet in fiktionalen Texten sowieso nicht statt, der »Bedeutungsaufbau des literarischen Werkes« 28 kennt keine Authentizitäten, sondern höchstens hochartifizielle Authentizitätsfiktionen.

[31] 

Aber Alt lässt an dieser Stelle nicht ab: »Die Rollenvielfalt des Protagonisten [in dem Alt nicht nur einen Mörder sieht, sondern »das Böse« in persona, TW], der seine Wechselidentität aus den Arsenalen der poetischen Tradition bezieht, spiegelt die Tatsache, dass das Böse, das er verkörpert, nicht eindimensional – wie Eichmann –, sondern so komplex ist, dass ihm nur die Polyphonie der Weltliteratur gerecht werden kann« (S. 501). Es gäbe für die Einschätzung dieser Passage eigentlich nur die Hoffnung, dass Alt hier eine – womöglich kritisch gemeinte, aber in diesem Sinne dann schlecht formulierte – Zusammenfassung seiner Littell-Exegese geben möchte, was aus dem Text nicht zu erkennen ist und fatal misslungen wäre.

[32] 

Sollte Alt diese These als Erkenntnisgewinn über die »Ästhetik des Bösen« präsentieren, würde er sagen wollen, dass »das Böse« nur so richtig als böse erkannt werden kann, wenn man die »Polyphonie der Weltliteratur« ins Feld führt. Diskurse, die dies nicht können oder wollen, können auch keine raisonablen Aussagen über eben dieses »Böse« machen?

[33] 

Ich möchte Alt nichts unterstellen, aber man kommt angesichts dieser die Funktion und Wirkmächtigkeit von Literatur maßlos überschätzenden Emphase, wenn man ihre Möglichkeiten und Bedingungen so nahe an ›die Realität‹ heranführt, doch sehr ins Grübeln, über Sinn und Zweck von Alts Studie. Was will uns, fragt man sich, der Gedanke sagen, das die Polyphonie der gesamten Weltliteratur und das Böse irgendetwas miteinander zu tun haben?

[34] 

Wohlgemerkt, es geht mir nicht darum, die ästhetik-theoretische Verknüpfung von NS-Terror und Literatur empört zu geißeln – es geht mir um die Vermischung von Kategorien, um die doch arg in ein argumentatives Nirwana abdriftende Thesen, deren literaturwissenschaftliche und/oder erkenntnistheoretische Operationalisierbarkeit sich weit und breit nicht mehr erkennen lässt.

[35] 

Im Grunde ein klassischer Fall von scholé, wie Bourdieu 29 sagen würde. Thesen wie die von Alt markieren nach Bourdieu den Punkt »scholastischer Lebensferne«, 30 die nicht nur an der »in der reinen und vollkommenen Welt des Denkens so mächtigen Verdrängung all dessen arbeitet, was mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit in Verbindung steht«. 31 Der Verdacht heftiger scholé bleibt auch dann bestehen, wenn wir bescheiden die »gesellschaftliche Wirklichkeit« durch »Diskurswirklichkeit« ersetzen.

[36] 

Das Böse – wozu?

[37] 

Zudem muss man sich die Frage stellen, warum Alt ausgerechnet beim Thema des »Bösen« auf einer solch wirkmächtigen Schlüsselfunktion ausgerechnet im Ästhetischen besteht. Zumal er am Ende des Buches eine erstaunliche Wende macht: »Weitreichender und differenzierter, als es die philosophische Reflexion vermag, organisiert sich die Literatur als Medium, das uns das Innere der Welt des Bösen vorführt« (S. 551) – ein Befund, den dieses Buch meines Erachtens gerade nicht belegt, weil zum Beispiel viel wirkmächtigere Bildwelten aus der Diskussion ausgeklammert sind und weil, wenn Alt Philosophie und Literatur im Wettstreit ums Innere des Bösen liegen lässt, dann eben doch ein Begriff und damit eine Begriffsgeschichte des Bösen unabdingbar wäre.

[38] 

Zu Recht besteht Alt darauf, dass »eine moralische Bewertung literarischer Texte immer unangemessen ist« (ebd.), aber wer wollte dieser Banalität in Zeiten der Moderne und Postmoderne widersprechen? Auch der zweite Teil dieser Position, nämlich dass die Beurteilung nach »vermeintlich ›reinen‹ ästhetischen Geschmacksurteilen« Reste oder Elemente »moralischer« Standards enthält, ist ein Grundsatzproblem literarischer Wertung überhaupt. 32

[39] 

Aber es ist bei weitem nicht nur die »Ästhetik des Bösen«, also das Böse an und für sich, das die Dialektik von Werturteilen über Texte entscheidend prägt. Dass die »ästhetische Erfahrung des Bösen auch in der Moderne nicht autonom, sondern durch die Regeln und Gesetze der abendländischen Moralität gebunden« (S. 552) ist, greift skandalös zu kurz. »Autonomie« ist angesichts aller kontextuellen Verflechtungen sozialer Handlungen sowieso eine sehr historische Kategorie. »Das Ästhetische ist die Sache eines bestimmten Zeitraums, nämlich das, was die Kunsttheorie ab 1750 und jedenfalls um 1800 thematisiert und das, was die Kunst zur gleichen Zeit praktiziert«, 33 hatte Odo Marquard 1968 leicht provokant statuiert. Von dort aus beginnen, nicht nur für Alt, die Überschreitungen und Entgrenzungen, thematisch und formal. Das Böse aber ist in diesem Prozess nur ein Aspekt unter vielen, und vermutlich noch nicht einmal der interessanteste unter den Auspizien dieser Entwicklung. Und deswegen hängt es vermutlich auch nicht vom »Bösen« ab, dass »ästhetische Erfahrung auch in der Moderne nicht autonom ist« (S. 552).

[40] 

Quod erat demonstrandum, obwohl eine solche These niemals wirklich zur Debatte stand.

[41] 

Deswegen ist es erst recht interessant zu fragen, warum Alt so much ado um das Böse macht, ohne – das sei im Übrigen noch angemerkt – auch nur im Geringsten auf Brechungen des Bösen einzugehen. Das Böse ist komikfrei – Gelächter, Ambiguitäten, Polyvalenzen haben in seinem Umfeld nichts zu suchen; die Moderne müsste insofern ohne Dada, ohne Surrealismus, ohne Pop-Art auskommen. Das tut sie nicht und unter anderem auch deswegen ist »das Böse« außerhalb von Alts Theorien ein ziemlich unbrauchbares Ding.

[42] 

Aber es scheint lebensweltlich zu faszinieren, wie die im Großen und Ganzen freundliche Aufnahme im Feuilleton beweist. 34 »Das Böse«, das sind immer noch die Nazis, zunehmend aber verengt sich der Begriff lebensweltlich und medial auf Gewalt, respektive auf Gewalttäter: die Achse des Bösen, der wahnsinnige Amokschütze, der Terrorismus und der »Kampf gegen den Terrorismus« 35 und so weiter.

[43] 

In dieses eher gefühlige, begriffslose, mediensprachliche Hantieren mit dem Begriff setzt sich Alts Buch. Eine etwas ironische Pointe: Während Jan Philip Reemtsma, 36 Randall Collins 37 und sogar Sönke Neitzel und Harald Welzer 38 in ihrer Studie über Bösewichte par excellence, nämlich über Soldaten des Zweiten Weltkrieges, dafür plädieren, »Gewalt« zunächst einmal zu ent-skandalisieren 39 und so den Umgang mit ihr unhysterisch und sachlich zu gestalten, um mit Gewalt und Gewalttätigkeit konstruktiv und vernünftig umzugehen, profiliert sich ausgerechnet die Literaturwissenschaft an einer geistes- und kulturgeschichtlichen Aufwertung des »Bösen«, die zudem über weite Strecken so, wie sie Alt beschreibt, noch nicht einmal zutrifft.

 
 

Anmerkungen

Gemeint ist »ein Programm, das Kunst als von religiösen, sittlichen und juristischen Regeln unabhängige Instanz zu erfassen sucht […], [ein] Konzept der Kunstfreiheit […] einer mit der Frühromantik einsetzenden, durch Selbstreflexion und Selbstkommentierung ihrer Formstrukturen gekennzeichneten, vom Bewußtsein der Vieldeutigkeit ihrer Leitbegriffe getragenen Moderne« (ebd.).   zurück
So nennt Alt ein ganzes Kapitel, S. 32–42.   zurück
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