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Jurist auf Abwegen

  • Thiemo Jeck: Die Anfänge der Kriminalpsychologie. Zur Verbindung der Schönen Literatur und der Kriminologie in der Romantik und dem Sturm und Drang. (Schriftenreihe Rechtswissenschaft 25) Berlin: Wissenschaftsverlag Dr. Köster Berlin 2010. 179 S. Paperback. EUR (D) 24,80.
    ISBN: 978-3-89574-731-1.
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Bei der vorliegenden Studie handelt es sich um eine »Inauguraldissertation zur Erlangung des Doktorgrades des Fachbereichs Rechtswissenschaft der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main«. Man nimmt als Literaturwissenschaftler eine solche juristische Qualifikationsschrift, die sich mit dem Schnittfeld von Rechtswissenschaft und Literatur befasst, mit Interesse, ja mit geneigtem Wohlwollen zur Hand, neugierig darauf, was ein Jurist zu der seit 30 Jahren aus literatur-, diskurs- und kulturgeschichtlicher Perspektive erforschten Austauschbeziehung zwischen Literatur und Recht Neues und Eigenes beizutragen hat. Neugierig ist man insbesondere darauf, wie der Rechtswissenschaftler aus seiner Warte und mit seinen disziplinären Mitteln die Entstehung der Kriminalpsychologie um 1800 beschreibt und wie er dann die Rolle und die Funktion der Literatur hierbei beurteilt.

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Man kann es vorwegnehmen: was Thiemo Jeck hierzu beiträgt, ist kaum mehr als nichts – und das gilt sowohl für die (kaum vorhandenen) rechtshistorischen Argumentationen wie auch und vor allem für die beiden Textlektüren, die Thiemo Jeck Hoffmanns Das Fräulein von Scuderi und Goethes Gretchentragödie aus dem Urfaust angedeihen lässt.

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Dichter fühlen

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Jecks These ist, dass sich die Texte der »Schönen Literatur« über Verbrecher und die »Innenseite des Menschen« (S. 15) bzw. die von den Dichtern diesbezüglich »intuitiv gefühlte Wahrheit als Ausgangspunkt der kriminalpsychologischen Forschung« (ebd.) ausweisen lassen. Mit anderen Worten: Jeck will darlegen, dass die Dichter mehr wissen als die ›Kriminologen‹ ihrer Zeit. Hoffmann erzähle in seiner Novelle Das Fräulein von Scuderi, dass nur die literarische Einfühlsamkeit der Scuderi die triebbedingten Taten Cardillacs aufklären könne, und Goethe zeige im Urfaust die psychologischen Abgründe eines im Wahn vollzogenen Kindsmords. Eine solche ›These‹ und eine solche Hochschätzung der Dichter und ihrer intuitiven und psychologisch einfühlsamen Darstellung von Verbrechern mag für den Rechtswissenschaftler neu sein, für den Literaturwissenschaftler ist es gar keine These, sondern ein Rückfall in längst vergangene Zeiten, in denen es reichte, die Intuition der Dichter nachfühlend zu beschwören.

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Begeistert zitiert Jeck so Emil Staiger mit seiner unwiderlegbaren Einsicht, dass Goethe »das menschliche (sic!), zumal das weibliche Herz mit anderen Organen erkennt als alle deutschen Dichter, die neben und vor ihm aufgetreten sind« (Jeck, S. 151). Jeck kann sich sogar problemlos mit dieser These auf eine noch ältere Autorität berufen: Alexander Baumgarten (Goethe. Sein Leben und seine Werke, 1913) zitiert er mit der Aussage, dass Goethe Gretchen »mit tiefstem psychologischen (sic!) Blick, mit der Einfachheit wahrer Kunst, mit der ergreifendsten Gefühlswahrheit« (S. 147) gezeichnet habe. Und überhaupt, wann hat man zuletzt Georg Müller (Das Recht in Goethes Faust, 1912), Richard Müller-Freienfels (Poetik. Aus Natur und Geisteswelt, 1914) oder Clara Stockmeyer (Soziale Probleme des Sturmes und Dranges, 1922) als relevante Forschungsliteratur zitiert gelesen? Ähnliches gilt leider auch für die herangezogene rechtswissenschaftliche Literatur. Anstatt etwa das Buch von Kerstin Michalik oder den Aufsatz von Michael Niehaus über Kindsmord und die Paradoxien der Regulierung heranzuziehen 1 , rekonstruiert Jeck sowohl die Rechtsgeschichte wie auch den Zusammenhang von juristischer und literarischer Auseinandersetzung mit diesem Delikt fast ausschließlich auf der Basis des (verdienstvollen) Buches von Jan Matthias Rameckers (Der Kindsmord in der Sturm und Drang-Periode) aus dem Jahre 1927 (siehe S. 74 ff.).

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Fehler und Widersprüche

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Besonders peinlich für den Juristen, dass er Rameckers mit der These zitiert, der Kindsmord habe als »Paradicium« (S. 75) gegolten. Bei Rameckers steht natürlich korrekterweise »Parricidium« (Verwandtenmord). Dass aber Jeck ein solcher kapitaler Schreibfehler unterläuft, ist symptomatisch für eine Arbeit, die einerseits gerade in den juristischen Aspekten fast völlig ohne Quellentexte auskommt (mit Ausnahme des Falles der Kindermörderin Höhn, auf den ich noch zurückkomme) und andererseits nicht nur voller orthographischer und grammatikalischer Nachlässigkeiten ist, sondern auch voller argumentativer Widersprüche. So erfahren wir auf S. 97, »dass für das Motiv der Gretchentragödie die Vorgänge rund um die Kindsmörderin Susanna Brandt mitbestimmend waren«, aber schon auf der übernächsten Seite heißt es, dass »diese Verbindung nicht dahingehend verstanden werden [darf], dass Gretchen sein Urbild in der Frankfurter Kindsmörderin Susanna Brandt hat« (S. 99). Vielmehr gilt auf S. 100: »Was in Goethe dichterisch wirksam wurde, war nämlich nicht eine reale Persönlichkeit, sondern die jedem Menschen drohende Gefahr gegenüber dem dunklen Zugriff des Schicksals«.

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Goethe und der Fall Höhn

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Jecks Verneigung vor den Dichtern und insbesondere vor Goethes psychologischer Tiefeneinfühlung mit einer Kindermörderin gerät angesichts der Tatsache, dass derselbe Goethe im Fall der 1783 des Kindsmords angeklagten Johanna Catharina Höhn für die Beibehaltung der Todesstrafe plädiert hat (die Hinrichtung wurde am 28. November 1783 vollzogen), in die Defensive. Um Goethe zu verteidigen, rollt Jeck noch einmal sowohl die Geschichte der Kritik an Goethe (wie sie 1931 mit dem Aufsatz von Karl Maria Finkelnburg beginnt) wie auch den Fall selbst, wie er in der Quellenedition von Volker Wahl aus dem Jahr 2004 vorliegt, auf. Nicht zitiert Jeck allerdings das im gleichem Jahr erschienene Buch von Rüdiger Scholz (Das kurze Leben der Johanna Catharina Höhn), das neben den Quellen zu Höhn und zu zwei weiteren Kindsmordfällen auch die Rezeptionsdokumente von der ersten Quellenedition von Friedrich Wilhelm Lucht über die Kritik an Goethe von Finkelnburg und die Replik Erich Wulffens bis hin zu den Stellungnahmen von Lion Feuchtwanger und Thomas Mann enthält.

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Absolut kurios ist nun, dass Thiemo Jeck in seiner Bewertung des Goetheschen Handelns im Fall des Todesurteils über Johanna Höhn zu folgendem Fazit kommt:

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Offenbar hat auch Goethe die fortdauernde und beschimpfende Peinlichkeit, der durch Pranger und Geißelung qualifizierten lebenslänglichen Zuchthausstrafe, die schwerlich einen Fortschritt der Rechtsentwicklung bedeutet hätte, als unmenschlich empfunden und deshalb lieber dem landesherrlichen Gnadenrecht vorläufig die Entscheidung überlassen wollen. Aus dem Umstand, dass von Schnauß in Zusammenhang mit dem verübten Verbrechen von ›Grausamkeit‹ spricht und alle drei Referenten darin übereinstimmen, dass der Delinquentin kein Entschuldigungsgrund zur Seite steht, ist zu schließen, dass es Goethe gerade auch diese Frage ganz besonders vom rein menschlichen Standpunkt aus gewissenhaft geprüfthat. (S.112)
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Kurios und auch ärgerlich ist diese (schwache) Argumentation, da sie gar nicht Jecks Argumentation ist, sondern in Wahrheit die von Erich Wulffen aus seiner Antwort auf Finkelnburgs Kritik an Goethe aus dem Jahr 1932. Bei Wulffen heißt es:

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Offenbar hat auch Goethe die fortdauernde und beschimpfende Peinlichkeit der vom Justizkanzler vorgeschlagenen, durch Pranger und Geißelung qualifizierten Zuchthausstrafe, die schwerlich einen Fortschritt der Rechtsentwicklung bedeutete, empfunden und deshalb lieber dem landesherrlichen Gnadenrecht vorläufig die Entscheidung überlassen wollen. […] 2
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Darf man diese ungekennzeichnete Übernahme einer ganzen Textpassage Plagiat nennen? Studierende jedenfalls plagiieren (wenn sie es tun) in ihren Hausarbeiten, die ja Sekundärliteratur sein sollen, wenigstens Sekundärliteratur, Jeck greift auf eine Quelle aus dem Jahr 1932 zurück!

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Auch an weiteren Stellen wirkt es so, als gebe Jeck Argumente und Formulierungen aus Wulffens Text als seine eigenen aus. Wulffen macht darauf aufmerksam, dass Goethe auch in seinem Werther kriminalistische Themen behandle:

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In Werthers Leiden wird von einem Bauernburschen erzählt, der aus Liebe und Eifersucht an seiner Dienstherrin, einer Witwe, zum Mörder wird. Der selber durch seine Liebe zu Lotte unglückliche Werther kommt gerade hinzu, als der Knecht verhaftet wird. Er fühlte ihn so unglücklich, er fand ihn als Verbrecher so schuldlos, er setzte sich so tief in seine Lage, dass er gewiß glaubte, auch andere davon zu überzeugen. (Wulffen, zit. n. Scholz, S. 157)
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Bei Jeck heißt es in nur geringfügiger Abwandlung:

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Ähnlich mitfühlend erleben wir Goethe im Werther gegenüber einem Bauernburschen, der aus Liebe und Eifersucht an seiner Dienstherrin, einer Witwe, zum Mörder wird. Der selbst an seiner Liebe zu Lotte krankende Werther kommt gerade hinzu, als der Knecht von der Polizei verhaftet wird: ›Er fühlt (sic!) ihn so tief….‹. (S. 114)
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Hier bei Jeck ist es sogar gleich Goethe selbst, den wir in den Worten Werthers als einfühlsam erleben! Wulffen schließt in seiner Argumentation einen Hinweis auf Wilhelm Meisters Lehrjahre, Iphigenie und Faust II an. Dieselben Hinweise in der gleichen Reihenfolge finden sich, wiederum ohne irgendeine Kennzeichnung, dass es sich um ein Zitat handelt, bei Jeck (S. 114–115).

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Fazit

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Es handelt sich alles in allem um eine sehr schwache und an diesen Stellen ungekennzeichneter Übernahme fremder Argumentationen um eine ärgerliche Dissertation, die zur Lektüre nicht empfohlen werden kann. Peinlich ist sie nicht nur für den Autor, sondern auch für die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main.

 
 

Anmerkungen

Kerstin Michalik: Kindsmord. Sozial- und Rechtsgeschichte der Kindstötung im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert am Beispiel Preußens. Pfaffenweiler: Centaurus 1997; Michael Niehaus: Wie man den Kindermord aus der Welt schafft. Zu den Widersprüchen der Regulierung. In: Sexualität, Recht, Leben. Die Entstehung eines Dispositivs um 1800. Hg. von Maximilian Bergengruen, Johannes F. Lehmann und Hubert Thüring. München: Fink 2005, S. 21–40.   zurück

Erich Wulffen: Bekanntes und Unbekanntes über Goethe als Kriminalisten. In: Wissenschaftliche Beilage. Dienstags-Beilage der Dresdner Anzeigers, 9. Jg., 29. März 1932, Nr. 12, S. 45-47, zit. n.: Rüdiger Scholz (Hg.): Das kurze Leben der Johanna Catharina Höhn. Kindesmorde und Kindesmörderinnen im Weimar Carl Augusts und Goethes. Die Akten zu den Fällen Johanna Catharina Höhn, Maria Sophia Rost und Margarethe Dorothea Altwein. Hg. und eingeleitet von Rüdiger Scholz. Würzburg 2004, S. 151-158, hier S. 156.

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