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Schiller und der Zwang und Drang

  • Thomas Stachel: Der Ring der Notwendigkeit. Friedrich Schiller nach der Natur. (Manhattan Manuscripts 4) Göttingen: Wallstein 2010. 320 S. Gebunden. EUR (D) 29,80.
    ISBN: 978-3-8353-0750-6.
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Karl Moor: »Mein Geist dürstet nach Thaten, mein Athem nach Freyheit« (Die Räuber, NA 3, S. 32)
[2] 
Marquis Posa: »Geben Sie / Gedankenfreiheit –«
(Don Karlos, NA 6, S. 91)
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Es sind Figurenaussprüche wie diese, die Friedrich Schiller sowohl im öffentlichen Bewusstsein als auch in der Forschung zum Dichter der Freiheit haben werden lassen. Frederick Beisers Auffassung »Freedom is […] the central theme behind all Schiller’s writing« 1 mag hier exemplarisch für jene Forschungsrichtung genannt werden, die dem Freiheitsgedanken eine Bedeutung ersten Ranges in Schillers Werk beimisst und hierin den vorrangigen Motivationsgrund seiner Kant-Rezeption sieht. Gerade Schillers Spätwerk, namentlich seine Theorie des Erhabenen, kann als Zeugnis seines Dranges nach der geistigen Selbstermächtigung des Menschen und der Erhebung über die Macht des Körpers gelesen werden. Im Gespräch mit Eckermann soll Goethe über seinen Weimarer Freund gesagt haben: »Durch Schillers alle Werke […] geht die Idee von Freiheit […].« 2 Selbstaussagen Schillers, besonders sein Bekenntnis zu Kants »große[r] Idee der Selbstbestimmung« (NA 21, S. 171), stärken dieses Bild zudem. Im Brief an Körner schreibt Schiller voll Begeisterung:

[4] 
Es ist gewiß von keinem Sterblichen Menschen kein größeres Wort noch gesprochen worden, als dieses Kantische, was zugleich der Innhalt seiner ganzen Philosophie ist: Bestimme Dich aus Dir selbst.
(NA 21, S. 171)
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Thomas Stachel entwirft in seinem Buch Der Ring der Notwendigkeit. Friedrich Schiller nach der Natur, das 2010 vom Department of German der New York University als Dissertation angenommen wurde, ein Gegenbild zu dieser Forschungsmeinung, indem er Schiller als den Denker des Zwangs, der Gesetzmäßigkeit und Ordnung vorstellt. Schiller, so Stachels zentrale These, sei zeitlebens von der Idee der Notwendigkeit fasziniert gewesen, und er komme, wie in der Symbolik des Ringes angedeutet, auf dieses Motiv mit großer Beharrlichkeit in seinen Schriften immer wieder zurück. Ziel der Untersuchung, so stellt Stachel heraus, sei es dabei nicht, die Bedeutung der Freiheit in Schillers Werk gänzlich zu bestreiten, wohl aber das Diktum von Schiller als Freiheitsdichter neu zu überdenken und in einigen Punkten einer Revision zu unterziehen. Textimmanent und philologisch argumentierend, zeichnet Stachel in seinem Buch das Bild von Schiller als Dichter und Denker, der auch, und zwar nicht zuletzt seinem literarischen wie theoretischen Schaffen den »Gedanken des Müssens-und-nicht-anders-Dürfens und -Könnens« (S. 12) bejahend zugrunde legt.

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Semantische Breite des Notwendigkeitsbegriffs

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Der Notwendigkeitsbegriff, den Stachel zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen macht, ist dabei von semantischer wie funktionaler Breite. Im Blick hat er das Notwendigkeitsmotiv im Rahmen von Schillers Anthropologie, Geschichtsphilosophie und Ästhetik, in seinen literarischen Werken, aber auch in Form eines »Druck[s] des Müssens«, den Schiller als willkommene »externe[...] Schubkraft« beim eigenen Arbeiten empfunden habe (S. 13). Zentrale Bedeutung weist Stachel der Beobachtung zu, dass Schiller verschiedenste Formen von Zwängen und Notwendigkeiten ausdrücklich begrüße.

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Schillers Ja zur Notwendigkeit

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In der ausführlichen Einleitung des Buches, die die Leitgedanken und den Argumentationsgang der Studie bereits vorstellt, betont Stachel die »systematische Bedeutung allerersten Ranges«, die der Modalität der Notwendigkeit in Schillers Werk zukomme (S. 14). Schillers Affirmation von Gesetzmäßigkeiten und Zwangskonstellationen stehe »in auffälligem Widerspruch zum Paradigma der Selbstbestimmung« (S. 14). Dass daraus jedoch nicht notwendigerweise eine Lesart von Schiller als Anti-Aufklärer und Kant-Gegner folgen müsse, zeigt Stachel an späterer Stelle seiner Arbeit. Zunächst geht er von der Überlegung aus, dass es sowohl eine Reihe von Notwendigkeiten gibt, denen Schiller positiv gegenüber steht, als auch Konstellationen des Zwangs wie beispielsweise den Tod, die bei Schiller auf Ablehnung stoßen (S. 23).

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Das Buch gliedert sich in eine Einleitung, die neben dem gedanklichen Exposé einen kurzen Exkurs in die Begriffsgeschichte und eine Einordnung in die Forschungsliteratur enthält, und sieben Kapitel, die verschiedenen Facetten des Notwendigkeitsmotivs in Schillers Werk nachgehen und jeweils eine Untergliederung in eine Vielzahl meist kurzer Unterkapitel erfahren.

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Das erste Kapitel der Studie dient der ideengeschichtlichen Herleitung des Notwendigkeitsgedankens im Kontext der Aufklärung sowie der Rekonstruktion seiner wachsenden Anziehungskraft auf den jungen Schiller. Stachel arbeitet verschiedene gedankliche Wurzeln von Schillers zunehmender Hinwendung zum Gedanken von der Notwendigkeit heraus, wobei er besonders den Einfluss der Physikotheologie als wegweisend hervorhebt. In dem sich dort manifestierenden Gedanken, Mensch und Natur unterlägen dem göttlichen Gesetz der Schöpfung, finde Schiller erstmals die positiv behaftete Idee eines Determinismus. Neben der Physikotheologie seien die Vorstellung einer im Weltlauf verankerten Teleologie und die neuplatonische Kosmologie »die wichtigsten frühen Weichenstellungen für das ›Projekt Notwendigkeit‹« (S. 58). Im Anschluss an wegweisende Forschungsergebnisse zu Schillers Jugendphilosophie, allen voran denen Wolfgang Riedels, exemplifiziert Stachel seine Überlegungen an der Theosophie des Julius sowie der dritten Dissertation. Julius »Suche nach einem notwendigen Erkenntnismodus« (S. 64) weise voraus auf Schillers späteres Interesse an Kants Systematik und Postulat von Objektivität sowie verbindlicher Gültigkeit von Erkenntnisurteilen. Noch stärker schlage sich Schillers Hinwendung zur Idee der Nezessität in seiner Anthropologie nieder. Stachel zeigt anhand einer detaillierten Analyse des Versuchs ueber den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen, wie die mit dem Influxionismus einhergehende Rehabilitierung des Körpers eine Begrüßung des Diktats der Natur nach sich ziehe. Unter dem Stichwort der »Logik der Konstruktivität des Zwangs« erläutert er seine These, dass Schiller in dem Einfluss der physischen Natur auf den Menschen keine Bedrohung der sittlichen Freiheit sehe, sondern die Einwirkung vielmehr als überlebensnotwendig und als »Garant von Sicherheit« verstehe (S. 76). Damit artikuliere Schiller eine zumindest »partielle Begrüßung von Unmündigkeit« (S. 80).

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Teleologie in der Geschichte

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Wie Schillers Vorstellung von sinnstiftenden Ordnungsgefügen infolge seiner metaphysischen Desillusionierung in eine Krise geraten sei, wird im zweiten Kapitel rekonstruiert. Der Verlust religiös fundierter Ordnungsstrukturen, wie Schiller sie in der Leibnizschen Theodizee gefunden habe, führe zu der für ihn bedrohlich anmutenden Annahme einer »›fühllosen Notwendigkeit‹ der Natur« (S. 100). Die Rezeption der geschichtsphilosophischen Schriften Immanuel Kants weise Schiller schließlich den ersehnten Weg zu einer neuen teleologischen Ordnung. In Anlehnung an Karl Löwiths Interpretation der aufklärerischen Geschichtsphilosophie als säkularisierte Abwandlung der christlichen Heilsgeschichte 3 sieht Stachel in Kants gedanklicher Projektion einer zielgerichteten Entwicklung der Menschheit in den Geschichtsablauf »unverkennbare Anklänge an die Sprache der Theologie« (S. 110), die auf Schillers Sympathie stießen und mit ihrem Sinnangebot seine Notwendigkeitsfaszination wiederauffrischten (vgl. S. 118).

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Mit dem dritten Kapitel wendet sich der Autor Schillers Dramenpoetik zu und entfaltet die These von der Übertragung des Notwendigkeitsmotivs auf die Wirkungsästhetik. Nach Stachels Analyse findet Schillers Sympathie für zwangsläufige, vorhersehbare Abläufe ihre Fortsetzung in seiner physiologischen Wirkungsästhetik. In Analogie zur Vorstellung einer unauflösbaren Verknüpfung der beiden menschlichen Naturen schwebe Schiller eine »Ästhetik notwendiger Wirkung« vor (S. 139). So finde Schillers Notwendigkeitsfaszination hier ihren Niederschlag in seinem Drang, »selbst zu bestimmen« (S. 150). In seiner Abhandlung Ueber den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen revidiere Schiller schließlich die Idee exakter Wirkungssteuerung, indem er ein dem »Gesetz der Nothwendigkeit« (NA 20, S. 136) widersprechendes ›freies Vergnügen‹ zum Grundstein seiner Wirkungsästhetik mache (S. 142 f.).

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Notwendigkeit bei Kant

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Die Untersuchung führt Stachel im vierten Kapitel zu Schillers Rezeption von Kants Transzendentalphilosophie. Im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses steht die Frage, ob Schiller neben der Idee der Freiheit nicht auch die der Notwendigkeit bei Kant gefunden habe. Stachel weist die verbreitete Forschungsmeinung als »einseitige[...] Lesart« zurück (S. 155), wonach Kant primär Schillers Sehnsucht nach Freiheit einen philosophischen Nährboden bereitet habe. In Abgrenzung besonders zu Dieter Henrichs Deutung spricht er Schiller auch eine genuin erkenntnistheoretische Aspiration zu, die sich in seinem Interesse an Kants Forderung nach Urteilen a priori niederschlage. In dessen Explikation objektiver und allgemeingültiger Verstandesurteile zeige sich Schiller ein weiteres Mal die Idee der Notwendigkeit. Mit der Forderung nach dem Primat der Form vor dem Stoff trage Schiller diesen Gedanken schließlich in die Dichtung hinüber. Vor dem Hintergrund der von Kant postulierten überindividuellen Denkstrukturen erscheine Schiller nun auch ein universales Wirkungsgeschehen denkbar (vgl. S. 183).

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Nach Stachels Darstellung muss in Schillers Tragödientheorie ein Wiederaufgreifen des Formprimats aus der Theosophie gesehen werden. Hier, in der »Amalgamierung von Form, Universalität und Notwendigkeit«, sieht er in Anlehnung an Cassirer den Schlüssel zu Schillers theoretischem Werk (S. 186). Der Dualismus von Stoff und Form, so argumentiert Stachel im fünften Kapitel weiter, müsse als das Zusammen- bzw. Gegenspiel eines »universale[n] und notwendige[n] Wie[s]« mit einem »individuelle[n] und zufällige[n] Was« verstanden werden (S. 186). Diese These wird an verschiedenen Schriften beispielhaft verdeutlicht. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei der Abhandlung Ueber Matthissons Gedichte, in der Schiller, so Stachel, von der Poesie eine Landschaftsgestaltung am Leitfaden apriorischer Denkmuster und somit einer ,inneren Notwendigkeitʼ fordere (S. 201). Transzendentalphilosophische Denkmuster, so das Resümee, fänden auf diesem Weg Eingang in Schillers Dichtungskonzept (S. 205).

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Dass auch den großen theoretischen Schriften die Idee der Notwendigkeit zutiefst eingeschrieben ist, zeigt Stachel im anschließenden sechsten Kapitel. In Kants kategorischem Imperativ und dem unbedingten moralischen Gesetz finde Schiller eine weitere Befriedigung seines Bedürfnisses nach Bestimmung. Kants Ersetzen des Naturdiktats durch das moralische Gesetz stoße bei Schiller auf große Sympathie und finde Eingang in die Abhandlungen Ueber Anmuth und Würde, Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen sowie Ueber naive und sentimentalische Dichtung, in denen Schiller stets der Vernunft und somit dem moralischen Imperativ ein Vorrecht gegenüber der Natur respektive Neigung einräume. Schiller heiße den »Übergang von einem Reich der Notwendigkeit in das nächste« (S. 226) willkommen und lasse so den Menschen in einen »neuen Ring der Notwendigkeit« eintreten (S. 234). Damit greift Stachel das Zitat aus Ueber Anmuth und Würde auf, dem der Titel des Buches entnommen ist. Der von Schiller bezeichnete Ring umschließe zwar die Freiheit, die Mündigkeit des Menschen sei jedoch durch die Unbedingtheit des moralischen Gesetzes eingegrenzt. In Analogie zur Herrschaft der Naturgesetze über Naturobjekte werde der Mensch durch das Regelwerk der Vernunft und Moral verbindlich bestimmt (vgl. S. 251).

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Ist Wallenstein erhaben?

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Die Arbeit wird beschlossen mit einem Kapitel über »Wallenstein als Tragödie der Bestimmung«. In Wallensteins Negierung der Selbstbestimmung und seiner daraus resultierenden »Sehnsucht nach Schicksal« (S. 257) zeigt sich nach Stachel ein weiteres Mal die Modalität der Notwendigkeit. Da der dramatische Held gerade aus dem Zwang der Notwendigkeit die Befähigung zum Handeln ziehe und insofern äußeren Druck und Fremdbestimmung als Positivum erlebe, sei das Paradigma des Erhabenen, wonach »Lust durch Unlust« erzeugt werde (NA 20, S. 137), nicht auf Wallenstein anwendbar. Folgt man Stachel, muss das Drama als ein »dezidiert anti-aufklärerisches Programm der Dunkelheit« gelesen werden, in dem der »Zustand der Unmündigkeit geradezu gefeiert« werde (S. 282). Mit diesem Argument wird Wolfgang Riedels 4 Lesart des Dramas als eine Exemplifizierung der Theorie des Erhabenen zurückgewiesen. Die These von Holger Bösmann 5 weiter ausbauend, liest Stachel stattdessen in Wallensteins Zwangsbejahung eine Fortsetzung anthropologischer Denkmuster, wonach physiologische Anstöße als konstruktive Schubkräfte fungieren.

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Wo Notwendigkeiten überall zu finden sind

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Auf der Suche nach dem Notwendigkeitsmotiv durchforstet Stachel in seiner Studie das Werk Friedrich Schillers in lobenswerter philologischer Detailarbeit nahezu vollständig. Schon die Vielzahl der meist kurzen Kapitel spiegelt das große zugrunde liegende Textkonvolut wider, mit dem eine interpretatorische Gedankenfülle einhergeht. Die kleinschrittige und gleichzeitig den Leser gut führende Gliederung verleiht der Studie dabei große Übersichtlichkeit. Stachel spürt der Idee der Notwendigkeit nicht nur im engen Sinne nach, sondern eröffnet ein großes, wiewohl in sich konsistentes semantisches Feld, in das sich die Kategorien Ordnung, Struktur, Form und Teleologie einfügen. Er beschreibt so eine große Facettenvielfalt des Motivs in Schillers Werk und verlangt seinen Lesern immer wieder die Bereitschaft zu kontextuellen Sprüngen ab, wenn er sich auf die Suche nach Schillers Notwendigkeitsfaszination in den verschiedensten Konstellationen und Werkzusammenhängen begibt, seien es autobiographische Briefzeugnisse oder lyrische, dramatische und prosaische Schriften. Stellenweise hat die Studie dabei den Charakter einer Sammlung von Einzelanalysen, doch fügt Stachel die Ergebnisse immer wieder gekonnt in seine große Deutungslinie ein und macht die Einzelbeobachtungen systematisch für seine Grundthese fruchtbar.

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Schiller, der Realist

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Stachel verbindet Schillers jugendliche Verankerung in einem metaphysischen Ordnungssystem mit dessen späterer Begeisterung für Gesetzmäßigkeiten zu einem überzeugenden Gegenbild des Freiheitsdichters. Die Arbeit reiht sich damit ein in jene aktuelle Forschungsliteratur, die Schiller als einen Realisten versus Idealisten in den Blick nimmt. 6 Nicht die von Schiller pathetisch formulierten Ideale wie Hoffnung, Mündigkeit und Freiheit sind es, denen Stachels Augenmerk gilt, sondern es ist deren Gegenpol, der Zwang.

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Ein Schüler Kants?

[26] 

Indem Stachel die Wurzeln von Schillers lebenslanger Notwendigkeitsfaszination in der Jugendphilosophie nachweist, vertritt er ähnlich wie Anna Laura Macor in ihrer jüngst erschienenen Studie Der morastige Zirkel der menschlichen Bestimmung. Friedrich Schillers Weg von der Aufklärung zu Kant, die von einer »Gleichursprünglichkeit« von Schillers philosophischem System mit demjenigen Kants ausgeht, 7 die These einer Kontinuität in Schillers Denken. Wie Macor argumentiert Stachel, dass die Kant-Lektüre Schiller keineswegs auf gänzlich neue Wege geführt habe, sondern durch seine in der Jugendphilosophie und im Anthropologiestudium grundgelegten philosophischen Überzeugungen motiviert sei. Beide Monographien, die aufgrund ihres fast zeitgleichen Erscheinens auf dem deutschen Buchmarkt nicht auf einander eingehen konnten, beleben somit die Diskussion um den von Kant unabhängigen und dennoch gedanklich stark inspirierten Philosophen Schiller.

[27] 

Stachel zeigt in seiner Studie, wie Schiller den ursprünglich in seiner religiösen Vorstellungswelt beheimateten Gedanken von Zweckmäßigkeit und Sinnhaftigkeit auch nach der metaphysischen Krise beibehält, indem er ihn beispielsweise in seine Geschichtsphilosophie, Wirkungsästhetik und das Drama Wallenstein transferiert. Da Schiller die Idee einer die Welt durchziehenden Teleologie und Ordnung somit lediglich auf säkulares Terrain verlagere und entsprechend modifiziere, schlussfolgert Stachel eine »Kontinuität theologischer Strukturen« (S. 114) in Schillers Werk und belegt seine These u.a. am Beispiel der Abhandlung Ueber die tragische Kunst (vgl. S. 219 f.). Hier bliebe jedoch zu fragen, ob Schiller die Vorstellung einer zielgerichteten und heilbringenden geschichtlichen Entwicklung nicht nach den Erfahrungen der terreurs der französischen Revolution fallen lässt und somit den Notwendigkeitsgedanken, zumindest in diesem Kontext, verabschiedet. Stellt der jugendliche Glaubensverlust einen zentralen Einschnitt in seinem Denken dar, so ließe sich um 1793 ein zweiter markanter Punkt festmachen, der Schillers Ordnungsvorstellungen und damit verbundene theologische Denkmuster zweifelhaft werden lässt. 8 Hatte Kants Subjektivitätsphilosophie den aus der ersten Krise resultierenden Sinnverlust teils kompensiert, so folgt der geschichtlichen Resignation, der Einsicht, dass die Geschichte kein »System« 9 sei, keine vergleichbare Rettung.

[28] 

Ungewöhnlich mutet der nicht gleich beim ersten Lesen eingängige Untertitel Friedrich Schiller nach der Natur an. Wie auch den Titel Ring der Notwendigkeit will Stachel den Untertitel »sowohl zeitlich als auch modal« verstanden wissen (S. 43). Wenn er also die Formulierung »nach der Natur« wählt, dann um zu verdeutlichen, dass Schiller sich von der Vorstellung eines Naturzwangs verabschiedet, aber an einer Naturgesetzen ähnlichen Ordnungsstruktur festhält. So führt ihn der Weg von der Annahme einer göttlich geordneten Natur zu einer neuen naturanalogen Notwendigkeitsvorstellung. Schiller denkt somit auch nach dieser Wende weiterhin nach der Natur.

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Resümee

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Mit Stachels Dissertation liegt der gelungene Versuch vor, das Bild von Schiller als einem dem aufklärerischen Freiheitspathos ganz und gar verschriebenen Dichter einer Revision zu unterziehen. Durch die Neuperspektivierung vielfach interpretierter Texte lässt der Verfasser Schiller als einen Denker hervortreten, der sich mit seiner Faszination für Form, Ordnung und Zwang zum Mündigkeitspostulat der Aufklärung quer stellt. Der die Untersuchung konsequent durchziehende Leitgedanke vereint die vielen Einzelanalysen und lässt so auch ein eigentlich zu erwartendes abrundendes Schlusswort nicht vermissen. Die Arbeit besticht nicht nur durch ihren hohen Anspruch, sondern auch durch ihre stilistische Eleganz, und so sei die Lektüre jedem Schillerforscher als eine begrüßenswerte ›Notwendigkeit‹ empfohlen.

 
 

Anmerkungen

Frederick Beiser: Schiller as philosopher. Oxford: Clarendon 2005, S. 213.   zurück
Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. 18. Januar 1827. In: Johann Wolfgang von Goethe. Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Bd. 12. Hg. von Christoph Michel unter Mitwirkung von Hans Grüters. Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker 1999, S. 212.   zurück
Vgl. Karl Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie. Stuttgart: Kohlhammer 1953.    zurück
Wolfgang Riedel: »Weltgeschichte ein erhabenes Object«. Zur Modernität von Schillers Geschichtsdenken. In: Peter-André Alt u.a. (Hg.): Prägnanter Moment. Festschrift für Hans-Jürgen Schings. Würzburg: Königshausen & Neumann 2002, S. 193–214.   zurück
Holger Bösmann: ProjektMensch. Anthropologischer Diskurs und Moderneproblematik bei Friedrich Schiller. Würzburg: Königshausen & Neumann 2005, S. 216 f.   zurück
Vgl. Hans Feger (Hg.): Friedrich Schiller. Die Realität des Idealisten. Heidelberg: Winter 2006.   zurück
Laura Anna Macor: Der morastige Zirkel der menschlichen Bestimmung. Friedrich Schillers Weg von der Aufklärung zu Kant. Von der Verfasserin aus dem Italienischen übersetzt, auf den neuesten Stand gebracht und erweitert. Würzburg: Königshausen & Neumann 2010, S. 20.   zurück
Vgl. Wolfgang Riedel (Anm. 4), S. 204.   zurück
So hatte es Schiller noch in seiner Antrittsvorlesung postuliert (vgl. NA 17.1, S. 373), eine Meinung, die er mit seiner Schrift Ueber das Erhabene endgültig ad acta legt.   zurück