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Dinge trösten

Kracauer und die Material Culture Studies

  • Dorothee Kimmich / Frank Grunert (Hg.): Denken durch die Dinge. Siegfried Kracauer im Kontext. München: Wilhelm Fink 2009. 229 S. Kartoniert. EUR (D) 29,90.
    ISBN: 978-3-7705-4621-3.
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Die Rückkehr der Wohnzimmerforschung

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In seinem unlängst gekürzt auf deutsch publizierten Buch The Comfort of Things schließt der britische Anthropologe Daniel Miller mit der Vermutung, in einer weitgehend von kosmologischen Übereinkünften befreiten Welt, die weder »die Gesellschaft« noch »die Religion« als Obdach und Horizont der Menschen gelten lasse, bleibe nurmehr der Bezug auf Dinge, über die der internationale, entgrenzte und damit mehr und mehr auf »imagined communities« zurückgeworfene Mensch seine Beziehungen zu sich und zu anderen, kurz: seine Identität vermittle. Miller präzisiert:

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It is not my intention to claim that Society is dead or that God is dead. It is, rather, that the goals we might attribute to religion and society are increasingly accomplished without recourse to any explicit symbol of either community or God. 1
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Darin zeigt sich der Siegeszug eines Liberalismus, der kein weiteres Adjektiv benötigt. Was bleibt, ist das symbolische Surplus der Gegenstände und ihrer Ordnungen, ihre Einladung zur Narration, in der wir zu Deutschen, Türken, Juden werden. Am Ende seiner Reise durch die Appartments der Stuart Street im Süden Londons, kommt der Inspekteur und Interpret, der Menschen weniger befragt, als dass er sich ihre Haushalte oder Accessoires anschaut und sie einer dichten Beschreibung unterzieht, zu dem Ergebnis: »Jamaica, Australia and India are no longer thousands of miles apart, but just a few doors away.« Kritik am Behaviourismus dieser privatimen Weltläufigkeit ist wohlfeil, ebenso am über die deskriptiven Passagen hinausgehenden Wert dieserart Untersuchungen, die den unbestreitbaren lokalen Zusammenhang der beobachteten Menschen ignoriert. Immerhin begegnen sie einander auf der Straße und müssen gelegentlich ihre Freiheitsrechte behaupten, die sie wiederum in Amouren und Konflikten zu beschneiden suchen.

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Für diese Form des Sozialen reserviert Miller wohl den Begriff der »Post-Society«. In jedem Fall zeigt er eine Vielfalt von Wirklichkeiten, die sämtlich sozial wirksam sind, auch wenn sie sich nicht zu einem Begriff vereinigen lassen; sie fordern dazu auf, einen schwächeren Begriff von »Gesellschaft« zu etablieren, der den säkularisierten Erlösungsansprüchen eines Durkheim oder Weber Adieu sagt. Das bedeutet zugleich, einen anderen Begriff des Einzelnen oder des Individuums einzuführen, da dieses in der westlichen Vorstellung eine Mikrovariante der Gesellschaft bezeichnet. Seltsamerweise wird diese Vorstellung nicht atomistischer ausfallen, im Gegenteil wird ein schwächerer Begriff von Gesellschaft mit einem komplexeren, weil aus einer überbordenden Vielzahl von Beziehungen bestehenden Individuum verrechnet werden müssen. Und diese Beziehungen verdichten und erneuern sich im Haushalt, der damit als Forschungsgebiet der vergleichenden Sozialanthropologie sanktioniert ist. 2

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The Comfort of Things – so schön der Titel klingt, so wenig neu ist die Einsicht. Oral History und Wohnzimmersoziologie kulminierten zum Beispiel in der westdeutschen Alltagsbegeisterung der 1970er und 1980er Jahre; damals wurde die Vielfalt der nivellierten Mittelstandsgesellschaft aufgedeckt. Aber gehen wir noch weiter zurück. Die Erfahrung, dass wir niemals in ganzen Wirklichkeiten leben – und auch nicht ganz in der Wirklichkeit – ist symptomatisch für die Moderne. Sie fand einen ihrer ersten Höhepunkte in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, als der Versuch, gewalttätig ein letztes Ganzheitserlebnis heraufzubeschwören, gescheitert war. Der reale Stellungskrieg ließ sich schlecht in den »Kampf als inneres Erlebnis« übersetzen. Die Mechanik des Krieges setzte sich in den am Reißbrett entworfenen Arbeitsprozessen fort, im Taylorismus, in der Angestelltenwelt. Dieser Fragmentierung antwortete die Kulturindustrie mit ihren Zerstreuungsangeboten, die Aufmerksamkeiten bündelten, also durch Techniken der Überwältigung konzentrierten und dadurch auf der Nachtseite des Bewusstseins den ansonsten durch allzuviele Eindrücke, widerstrebende Interessen etc. geplagten Nerven beim Regenieren halfen. Es gehörte zu dieser Industrie, auf der Oberfläche zu operieren, Signaturen von Ganzheit zu entwerfen, die ebenso schnell projiziert wie abgeblendet zu werden vermochten. Es gehörte zu ihr, die Produktionsbedingungen dieses Anscheins zu verschleiern. Das betraf nicht zuletzt das urbane Phänomen der Konsumkultur, das bei den Massen den Eindruck erweckte, jeder dürfte am Glück der höheren Kreise partizipieren. 3 Der industriell gefertigten Glätte, Abfallprodukten von bürgerlichen Tischen, widersetzte sich indes eine Unterwelt, die aus den Zwischenprodukten und Zwischenschritten einer um die totale Zerstreuung und ihre Kontrolle bemühten Macht hervorging. So zum Beispiel erschien die Berliner Lindenpassage, in der das »Werk der Vernichtung« beinahe vollendet worden war – und zwar weniger durch Bomben als vielmehr durch »kalte, glatte Marmorplatten« – als Aufbewahrungsort dessen, »was nicht repräsentationsfähig war oder gar der offiziellen Weltanschauung zuwiderlief«. Ein Beobachter:

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Hier in den Passagen erlangten diese passageren Gegenstände eine Art von Aufenthaltsrecht; wie Zigeuner, die nicht in der Stadt, sondern nur an der Landstraße lagern dürfen. [...] Noch ist die Lindenpassage mit Läden gefüllt, deren Auslagen solche Passagen inmitten der bourgeoisen Lebenskomposition sind. Und zwar befriedigen sie vor allem die körperliche Notdurft und die Gier nach Bildern, wie sie in Wachträumen erscheinen. 4
[8] 

Ihnen eignet etwas Unreines, das mit der Wahrheit des Körpers, mit seiner Sterblichkeit in Verbindung steht und die Todesvergessenheit der offiziellen Kultur und ihres Betriebs entlarvt. Freilich, auch bei den hier ausgestellten Dingen – Devotionalien der Stars, Souvenirs, Briefmarken – handelt es sich um »Kitsch«, um massenhafte Erzeugnisse der Populärkultur. Sie sind aber belehnbar mit einer Geschichte, weil man sie nach ihrer Hochzeit zu entsorgen vergessen hat; sie erinnern an verglühte Sternschnuppen. Konsum- und Kulturindustrie waren nicht in der Lage, das Vergessen vergessen zu machen, sie mochten bruchlos Anschluss an Anschluss, Blockbuster an Blockbuster zu reihen, den immerwährenden Idealismus der bürgerlichen Gesinnung in RomComs zu feiern, aber sie werden damit leben müssen, dass eine Individualisierung ihrer Erzeugnisse stattfindet – und zwar umso mehr stattfindet, je stärker sie sich dagegen wehren. Die Abraumhalde ist ein notwendiger Ort des kapitalistischen Wettbewerbs. Die auf ihren Gegenstandscharakter zurückgeworfenen Dinge – Gegenstände, die nicht rasch genug kompostieren, weil zu ihrem Glanz das Versprechen ewiger Haltbarkeit gehört – können von hier aus zu Souvenirs, zu Bestandteilen eines Patchworks werden, welches das Scheitern der großen Ansprüche zu verwinden hilft.
Wirklich?

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Dichter, Denker, Arrangeur:
Siegfried Kracauer und seine Verteidiger

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Siegfried Kracauer, aus dessen berühmtem Berlin-Feuilleton vom 21.12.1930 gerade zitiert wurde, könnte man als eine Gründungsfigur der Material-Culture-Diskurse anführen. Denn die Flucht in die Dinge erhält bei ihm eine Dignität, die gerade wegen ihrer Skepsis gegenüber allem Messianischen, Erlösenden, gegenüber den Großen Theorien, aus jeder neuen Ernüchterung unverbraucht hervorgeht. 5 Das führte zu der Auseinandersetzung mit dem Lebensfreund Adorno, die man seit der Briefedition von 2008 in den wichtigsten Stadien verfolgen kann. Dabei führen Kracauers Insistieren auf Empirie und Adornos Zweifel an ebendieser zum schönsten Händeschütteln. Beispielsweise wenn der Vater der »Negativen Dialektik« die Stringenz der dokumentarischen Montage Die Angestellten in Abrede stellt:

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Zu fragen wäre immerhin, ob zwischen der Form der prima vista Improvisation, der apriorischen Erfahrung von den Dingen, und dem dokumentarisch fundierten Verfahren immer die rechte Beziehung gefunden wird. Ob also nicht ohne alles Studium, nur von der Oberfläche aus gehend, sich alles ebenso bestimmt und insofern stimmiger hätte sagen lassen, als ja ohne breites ökonomisches Fundament die Quellenstudien nicht entscheiden. Es will mir fast so scheinen, als ob es bei Deiner spezifischen Art des Sehens wirklich das angemessenste wäre, wenn Du Dich rein an das von Dir unmittelbar Erfaßte und damit verbindlich Geformte hieltest. 6
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Im »Ornament der Masse« hatte Kracauer 1927 vor jeder »Frankfurter Schule« apodiktisch festgehalten, der Gehalt einer Epoche sei aus ihren unscheinbaren und quasi unbewussten Oberflächenäußerungen schlagender zu bestimmen als aus ihren eigenen Urteilen, und hatte sich damit als Analytiker ihrer hehren und niederen Träume empfohlen. Deren Vermessung durch eine sozialwissenschaftliche Empirie, die objektive Anschlussfähigkeit ermöglicht, wird von Adorno als ›Positivismus‹ abgelehnt, der sich ihrer enthält, weil er »womöglich, die Realität noch schwärzer« sieht, »da ich nicht glaube, daß die Änderung der Menschen kommt und es gar eine ernstliche Chance gibt.« 7

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Der Dissens zwischen den beiden Autoren, ihre unterschiedlichen Bestrebungen, dem »Nurbestehenden« nicht in die Hände zu arbeiten, ist gewissermaßen die Blaupause für den 2009 publizierten Sammelband Denken durch die Dinge. Siegfried Kracauer im Kontext. Der zuverlässig redigierte, überdies mit Register ausgestattete Band geht auf ein Arbeitsgespräch im Deutschen Literaturarchiv Marbach zurück, wo Kracauers Nachlass betreut und sukzessive von Ingrid Belke, Inka Mülder-Bach und deren Mitarbeitern herausgegeben wird. Die materiale Konkretheit von Kracauers Denken hat die hier versammelten Aufsätze allerdings wenig interessiert, dabei wäre anhand der Marginalien ihres Gegenstandes einiges zu erfahren gewesen. Allerdings ist der Ertrag auch so schon reich genug und kann an dieser Stelle nur ausschnitthaft gewürdigt werden.

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Die Herausgeber bekennen sich dazu, Kracauers »Vorstellung einer ›Errettung der äußeren Wirklichkeit‹«, seiner »unphilosophischen Philosophie«, seinen »spezifischen Realismus« als satisfaktionsfähig erweisen zu wollen. Es gelte, sein Werk zu lesen als »Teil eines komplexen Diskurses, der Ästhetik, Wahrnehmungs-, Gedächtnis- und Erkenntnistheorie mit Gesellschafts- und Geschichtsphilosophie verbindet«. (S. 7–10) In der kürzlich neu übersetzten unvollendeten Schrift Geschichte – vor den letzten Dingen hat Kracauer sein Anliegen benannt: »Denken durch die Dinge, anstatt über ihnen«. Die Herausgeber folgern: »Ein solches Denken lässt sich auf die Dinge in ihrer Konkretheit ein, ohne sich freilich ihnen zu überlassen.« (S. 8) Ein entsprechender »Habitus des Denkens« kann wiederum nur umrissen, nicht bestimmt werden; es gilt mithin Schätze zu häufen und Belege zu finden für jene »Diskursform, die sich sowohl gegenüber der philosophischen Abstraktion als auch gegenüber der empirischen Wahrnehmung und Aufzeichnung abgrenzt« (ebd.) und die trotzdem, das sei für Kracauer ergänzt, obschon kein Entweder-Oder auch kein Weder-Noch bezeichnet.

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Die Beiträge gruppieren sich in »Methodische Optionen« – hier werden Kracauers Grundentscheidungen ausgeleuchtet – , in eine mit »Die Objektivität der Dinge« überschriebene Sektion zu seiner Dingwahrnehmung im Kontext der zeitgenössischen Kulturphilosophie einschließlich der Frankfurter Schule und in eine dem »Vorrang des Optischen« gewidmete Gruppe, die sich mit Kracauers Verhältnis zur Kunst- und Bildwissenschaft befasst. Grosso modo imponieren gediegene Kulturgrößen und Disziplinen, etwas auf Kosten der unsauberen Hybride, über die man bei »Kracauer im Kontext« eben auch sprechen müsste: die Ethnologie oder zumindest den Primitivismus, um nur eine zu nennen. Die erste Sektion enthält Texte, deren weiter Focus dazu führt, sie als mehr oder weniger gelungene Einführungen in Kracauers Denken allgemein zu lesen. Der posthum veröffentlichte Beitrag von Dagmar Barnouw (1936–2008) entwirft eine für vierzehn Seiten zu breit angelegte Ideenbiographie (»Vielschichtige Oberflächen. Kracauer und die Modernität von Weimar«, S. 13–28).

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Helmut Stalder bietet im längsten Text des Buches einen Abriss seiner immer noch lohnenden, allerdings schon 2003 gedruckten Dissertation. Unter dem Titel »Das anschmiegende Denken. Kracauers Erotik der Wirklichkeit« (S. 47–84) erklärt er, wie der Feuilletonist, der Soziologe und der Erkenntniskritiker Kracauer einerseits eine Innovation für den Journalismus darstellte, wie er andererseits aber genau ein Kind jener Medien blieb, die ihm zum Broterwerb dienten. Auf sehr plausible Weise bricht Stalder dem berühmten Satz »Die Wirklichkeit ist eine Konstruktion« die Spitze; weil der nämlich gar nicht dazu taugt, die philosophische Alternative aus Realismus und Konstruktivismus zu verhandeln, vielmehr »die Wirklichkeit« ein kognitives (und ästhetisches) Urteil meint, das aufgrund einzelner, aber ihrem Gehalt nach begriffener Beobachtungen gesprochen wird. Die gesellschaftliche Wirklichkeit ist für Kracauer ein Konstrukt in der Tiefe der Gesellschaft wirkender Mächte, so Stalder, die durch die Reportage zwar angedeutet werden können, aber letztlich weder gegenständlichen noch personalen Status besitzen. Der häufig gepflegte Abbildrealismus der Reportage reproduziere nicht weniger als der bürgerliche Subjektivismus die Oberfläche, er verlebendige nur, was der jeweils akzeptierten Konstruktion der Wirklichkeit auf die Beine helfen soll. Kracauers Vorwurf an die Journalisten lautet demnach, dass sie nicht genug Journalismus betrieben, sich also nicht in die Bewegung der Geschichte, deren Teil sie sind, stellten, um von dort aus auf den Strom, der sie antreibt, zurückzuschauen. (Oder wäre das schon zu sehr Benjamins »Engel der Geschichte«?) Was Kracauer einfordert, auch das schreibt Stalder, ist nicht so sehr die »über den Dingen« geführte Theoretisierung und Abstraktion derselben, sondern »das Problem ›im Material selbst auszukonstruieren‹«(S. 77), das heißt, der medialen Voraussetzungen der Überlieferung so inne zu sein, dass aus der bewussten Gestaltung neue Erkenntnis hervorgeht.

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Notwendige Voraussetzung hierfür ist eine sprachadäquate Verfasstheit der Dinge, dass sie bei aller ihnen zugestandener Widerständigkeit (›realitas‹) bedeutende und deutbare Entitäten sind. Diesen Aspekt greift Dirk Oschmann auf (»Kracauers Ideal der Konkretion«, S. 29–46) und kehrt ihn gewissermaßen um: »So wie die Dinge als Gegenstände dasjenige repräsentieren, was dem Subjekt entgegensteht, so ist Kracauer bestrebt, die Wörter selbst in ihrer ursprünglichen Widerständigkeit zu exponieren« (S. 42). Der Gedanke ist nicht gefahrlos, hat doch Kracauer niemals konkrete Poesie geschrieben, und eine »Verdinglichung der Wörter« scheint er weit weniger betrieben zu haben als die Versprachlichung der Dinge. Auf der basalsten ontologischen Ebene, die auch für Oschmanns Aufsatz das Interpretament darstellt, nämlich dem im Ornament-Essay geschauten Kampf zwischen Mythologie und Vernunft, 8 der das eigentliche Moment der Geschichte ist und aus dem Kracauer vielleicht etwas zu hegelianisch die marxistischen Kategorien ableitet, ließe sich die Gemeinsamkeit von Sprache und Dingen durchaus plausibilisieren, weil auch sie der historischen Bewegung unterstehen, deren Ziel nur die Selbstrealisierung des Begriffs sein kann. Zu ihr gehörte selbstredend das Begreifen, das heißt: die Realitas des Begriffs. Ding und Sprache sind seit je keine kategorialen Gegner.

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Die Arbeit des Menschen im historischen Prozess ist zunächst die Aufmerksamkeit. Dorothee Kimmich entwickelt an ihr Kracauers »praktische Phänomenologie«. (S. 85–100) Ausgehend von einer Art Forschungsbericht markiert die Verfasserin das Thema als Ansatzpunkt, um Philosophie, Wahrnehmungstheorie und Mediengeschichte eingangs des 20. Jahrhunderts zusammenzuführen und die ästhetische Reflexion, deren sich Kracauer befleißigte, zu plausibilisieren. Sie zeigt den Aufmerksamkeitsdiskurs vor allem als dialektische Verschränkung zwischen Konzentration und Zerstreuung und zwischen Fremd- und Eigenaktivität. Diese Dialektik hat ihre historischen Bedingungen (und nicht nur solche, auf die man stolz sein könnte): sie reagiert, wie die Autorin mit Hans Blumenberg anführt, auf das in der Konsistenz seiner Wahrnehmung gebrochene Bewusstsein, das fremdartige Gegebenheiten als Bild ›rahmt‹, um sich zu schützen. Dieses nicht anders als primitivistische Argument, das allerdings im Blick auf die Kunsttheorien der Moderne, auf ihre Reaktion gegenüber dem Ersten Weltkrieg, und schließlich auf die Wissenschaft der Phänomenologie selbst (und zwar in ihrer deutschen und französischen Variante) angewandt zu werden verdiente, wird in Kimmichs Beitrag leider etwas rasch darauf zugeschnitten, »Kunst als Störung und Unterbrechung des alltäglichen Wahrnehmungsvorgangs zu verstehen« (S. 94). Kracauer habe sich ihrer bedient, indem er seine Beobachtungen als Bilder gefasst habe, in denen er Zeit stillstellte. (Die Stillstellung bedeutet bei Kracauer den maximalen Moment der Isolierung eines Dinges oder eines Menschen, damit aber nicht sein ›Wesen‹; im Gegenteil muss es aufgelöst werden in die Schritte, die letztlich zu dieser Gestalt geführt haben. Das ist die mehrfache Rahmung eines Erzählens als Kommentar. Das Bild ist bei Kracauer vor allem ein Instrument der Antizipation, und alles deutet darauf hin, dass er es als Medium betrachtete, mit dem man den Tod vorwegnahm. Im ›Augenblick‹ des Bildes bricht sich recht eigentlich die Angst des betrachtenden Subjekts Bahn, die Angst vor allem Vergehen – weshalb Kracauer ihn in seinem Roman Ginster als Form des Selbstverlusts darstellt. In der Bannung aber kann nichts für sich selbst bestehen; die Singularitäten werden in ihr nicht gerettet, sondern mortifiziert, genauso wie der Blick dessen, der sich an sie haftet. Solche Überschreitung der Subjekt-Objekt-Grenze operiert nahe an der Selbsttäuschung, und der Kierkegaardianer Kracauer scheint dies erkannt zu haben, da er jene Bilder sofort wieder aufzulösen trachtete, ohne dass er das momenthafte Aufblitzen einer utopischen Versöhnung ganz negieren wollte. Zugleich geht es der im Bild stillgestellten Zeit um einen phänomenalen Indifferenzpunkt von Passivität und Aktivität, um den vor allem die frühe Medientheorie kreiste, also jener Moment, von dem ausgehend Film- und Suggestionstheorie sich entwickelten. Eine Analyse des Themas der Aufmerksamkeit müsste diesen Schwerpunkt Kracauerscher Arbeit unbedingt einbeziehen.)

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Um die Aufmerksamkeitsdebatte vor romantizistischen Rückfallen zu bewahren, unterstreicht Joachim Jacobs im Anschluss an die durch Rilke oder Walter Rehn einer monistischen Metaphysik wegen propagierte Versenkung in die Dinge deren »Undurchdringlichkeit«. (S. 103–118) Anhand von Worringers Bestseller Abstraktion und Einfühlung, der der Einfühlungsästhetik das konstruktive Kunstwollen entgegenstellte, sowie von Georg Simmels Überlegungen zur Räumlichkeit und damit Einsamkeit der Skulptur, die gleichsam ein Widerwort zu Rilkes Michelangelo-Essay sprechen, vor allem aber anhand von Schelers Beobachtung, wonach »der erlebte Widerstand« erst »den Aktus der Reflexio« (S. 117) hervorrufe, zeigt er, wie die »Wendung zum Objekt« in jene Warteräume führte, in denen sich die aporetischen Erlösungsgedanken eines Bloch, Benjamin oder Kracauer beheimatet fühlten. Nur verstetigte Kracauer als einziger seine Skepsis. Die Undurchdringlichkeit der Dinge jedenfalls, das verdeutlicht Jacobs überzeugend ausgehend von Kracauers Detektiv-Roman, gilt es gegenüber ihrem blendenden äußeren Schein nachgerade zu ›enthüllen‹ – wohl auch, weil nur dadurch das unwiederholbare Dasein Wert gewinnt. Apologetisch wird dies in der Nachschrift zur Theorie des Films (1953), die die »Errettung der äußeren Wirklichkeit« schon im Titel führt.

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In der letzten, dem Optischen gewidmeten Sektion greift Detlev Schöttker das Schlagwort wieder auf, für das Kracauer bei Adorno nur Kopfschütteln erntete (»Der wunderliche Realist«, 1966). Schöttker beschreibt hier (S. 207–224) in seinem 2006 bereits abgedruckten, von den Bandherausgebern für chronologisch abschließend und thematisch umschließend erachteten Aufsatz den Denker Kracauer als zunächst heimlichen, dann offenen Alliierten der Warburg-Schule, dessen eigene methodische Vorstellungen mit der psychohistorisch orientierten Ikonologie des Begründers der Bildwissenschaft konvergierten. Die symbolischen Ausdrucksformen der Menschen sollten ihre epochalen Zusammenhänge aufzeigen, wie sowohl der Aufsatz über »Die Photographie« als auch das »Ornament der Masse« verkündeten. Im Unterschied zum Hanseaten interessierte Kracauer indes die Gegenwart, auch hätte er den Warburg zugesprochenen Schüttelreim »Symbol thut wohl« wegen seiner offensichtlichen Koketterie mit Mythos und Magie gemieden wie der Teufel das Weihwasser. Das unvollendete Buch History – Last Things before the last (1966) schließlich kommt dem »Mnemosyne«- Anliegen noch einmal nahe, indem es die als Erinnerung welchen Grades auch immer präsente Geschichte als Bildwelt zu analysieren vorschlägt, analog zum Film. Die entsprechende Stelle aus der deutschen Übersetzung zitiert Schöttker:

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Ich habe in der Theorie des Films ausgeführt, daß die photographischen Medien uns helfen, unsere Abstraktheit dadurch zu überwinden, daß sie uns tatsächlich zum ersten Mal mit ›dieser Erde, die unsre Wohnstätte ist‹ (Gabriel Marcel) vertraut machen; sie helfen uns, durch die Dinge zu denken, anstatt über ihnen. Anders gesagt, die photographischen Medien erleichtern uns, die vergänglichen Phänomene der äußeren Welt einzuverleiben und sie derart der Vergessenheit zu entreißen. Etwas ähnliches wäre über Geschichte zu sagen. 9
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Unsichtbares sichtbar machen.
Eine Perspektive für soziologische Feldforschung?

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Markus Schroers nicht ganz zurecht in dieselbe Sektion aufgenommener Beitrag über »Visualisierungsstrategien bei Siegfried Kracauer« (S. 169–188) hält zwar nicht, was er zu behandeln ankündigt, stellt aber die Aktualitätsfrage und tritt damit aus dem Umkreis des philologischen Interesses hinaus. Ja, was bedeutet denn Kracauer für die Soziologie, in der er laut Schroer kaum einem Studenten bekannt ist? Weniger der Großtheorie verhaftet, sei Kracauer ein Autor, dessen Versuch, Unsichtbares sichtbar werden zu lassen, heute genauso dringend benötigt werde wie einst. Dem kann ein gelegentlicher Leser deutscher Soziologenliteratur nur beipflichten, sollte auch er erfahren haben, dass ein Großteil der »absolutistischen Theoriegebäude« den Phänomenen, die sie in sich horten, keine Chance auf Falsifizierung einräumen. Nur beschreibt der Beitrag Kracauers eigentümliches Verfahren nicht, ja nimmt es gar für konservative Kulturkritik in Anspruch – unfreiwillig, wie man dem Verfasser zugutehalten will. Nach »vitaler Ursprünglichkeit« hat sich Kracauer gewiss nicht gesehnt. (Auch sonst kommt einem Schroers Kracauer wie ein etwas weniger raunender Heidegger vor, »zu den Sachen selbst«, am unsichtbarsten sei das Unverborgene, etc.) »Durch die Dinge zu denken anstatt über ihnen« – das gibt nämlich eine Richtung an, und zwar nach vorne.

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In dem bei jeder Gelegenheit als Brevier herangezogenen Aufsatz zum »Ornament der Masse« wird schließlich Geschichte als Kampf zwischen den mythischen und den vernünftigen Kräften vorgestellt und fungiert die Abstraktionssucht als Deckmantel der Zeitverneinung, also des Mythos. (Dass diesem auch der Wunsch nach völliger Intelligibilität des Seienden nicht entkommt, steht auf einem anderen Blatt). Die Frage ist aber für Kracauer, wie die mythischen Gebilde ihre Entmystifizierung betreiben – sprich, die Frage nach einer Dialektik, innerhalb deren die Medien, die aus den Massenfabriken des berechnenden Denkens stammen, gleichzeitig enthüllen und verhüllen – und die Wirklichkeit gegen ihre Überlieferung zurückschlägt. Dieser Prozess beflügelt die Theorie des Films, wie auch Schroer im besten Kapitel seines Essays anführt und an dieser Stelle auf das Programm der phänomenologischen Wissenschaften hinweist, das bei Kracauer bis zum Schluss zum Tragen kommt. Dass es dabei nicht um naive Rettung geht, sondern, gleichsam im Heidegger-Sound, um ein Spiel von Bergen und Entbergen, wird ebenfalls anerkannt:

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Bei Kracauer haben wir es mit einer vollständig belichteten Welt zu tun, die deshalb nicht mehr erkennbar ist, weil sie permanent abgelichtet wird. [... Doch haben] wir es nicht auf der einen Seite mit der Realität und auf der anderen mit ihren Abbildungen zu tun [...], sondern mit einer Realität, die sich durch den jeweiligen Zugriff auf sich selbst auch verändert [...]. (S. 180)
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Und die dennoch eine eigene Widerständigkeit besitzt, die der Auflösung in Begriffe widerstrebt: die physische Realität, die nicht zum Gegenstand werden kann, weil sie allem bloß Objektiven vorausliegt. Indem der Film zu ihr ›herabsteigt‹, wird er erst Medium des Wunderbaren.

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Aber was lernt man daraus? Schroer stimmt Kracauers Vorliebe für die sichtbare Welt, die sozialen Räume, die Oberflächenäußerungen zu, in denen sich der funktionelle Anspruch der Gesellschaft äußert. Wie bekommt man diesen Bereich in den Griff, macht ihn lesbar? Der überbelichtete Blick ist nicht zuletzt der der Wissenschaften, dessen Gegenteil ein poetisches Streifen ist, das nicht bloß auf die Dinge zugeht, sondern von diesen auch wieder fortgewiesen wird und somit deren Materialität ernst nimmt. Sollte am Ende im literarischen Schreiben die Rettung der Sozialwissenschaften liegen? Schroer scheint dies zu ersehnen, (S. 187 f.) und er ist nicht der erste, den die Usancen seiner Disziplin erschöpfen. Auffällig nur, dass die entsprechende Diskussion in der Sozialanthropologie und der Ethnologie viel älter ist und auch zu ernsthaften Ergebnissen geführt hat, wenn man einmal die ›writing culture‹-Debatte anschaut. Handelt es sich also wieder um eine der vielen deutschen Malaisen, die man mit vormals ausgestoßenen Remedianten der eigenen Kultur heilen möchte?

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Literarische Genauigkeit ist irreduzibel. Vor allem ist sie interesselos, und darum nur schwer in Wissenschaft übersetzbar (oder anders: Ihr Interesse ist die Wirklichkeit als Konstruktion). Man muss sich stets vor Augen führen, dass dieser Weg des literarischen Essayismus eine Einbahnstraße ist und damit für eine auf operationalisierbares Verstehen angewiesene Wissenschaft letztlich nicht zu retten. Der Soziologe müsste überlegen, welchen Preis er zu zahlen bereit ist. In Daniel Millers The Comfort of Things wird der Schritt zu den Dingen und das Zurückweichen vor der Theorie gerechtfertigt durch eine Welt »whose primary focus is upon diversity rather than shared or systematically ordered culture«. 10 Sein Blick stellt im Durchgang durch die Dinge die Ordnung wieder her, die einer im Bereich des Physischen plausiblen Anschlussfähigkeit entstammt, welche die (vermeintliche) Unordnung der Einzelbiographien relativiert. »The Comfort of Things« wird zum Trost des Sozialforschers.

[29] 

Die Heranziehung Kracauers ist vielleicht zunächst ein Krisensymptom. Der Journalismus, um den er sich mühte, war selbst nichts anderes als das Ergebnis einer Wahrnehmungskrise, und sein ontologischer Optimismus, der nicht trotz, sondern dank eines ontischen Pessimismus regierte – durch die Dinge denken – hat mit anderen Krisenphänomenen seiner Zeit manches gemeinsam. Sie eignen sich für die Gegenwart zuvörderst in dem Maße, wie diese Durchhaltereserven benötigt. Kracauers schlagender Text hierfür ist zweifellos »Das Ornament der Masse«, dessen Wirkungsgeschichte sich dem vertrauten kulturkritischen Gestus verdankt. Allerdings wünschte man sich bisweilen Überlegungen, die Kracauer gerade vor seinen programmatischen Verlautbarungen in Schutz nehmen – so wie Reimar Klein im ausgezeichneten Nachwort zur Neuedition der Straßen in Berlin und anderswo. 11 Denn Texte, mit denen man den soziologischen Moden und Bedürfnissen begegnen könnte, finden sich eher in den Feuilletons und literarischen Miniaturen, die nicht dozieren, sondern in deren Streifen und Abgleiten sich Realität manifestiert – und paradoxerweise gehalten wird.

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Die »Straße ohne Erinnerung« vom 16.12.1932 ist so ein Text. Er enthüllt die Choreographie von Subjekt, Dingwelt und Zeit. Es beginnt mit einer explizit autobiographischen Reminiszenz an den Kurfürstendamm als »Verkörperung der leer hinfließenden Zeit«, wie sie zur Daseinsbedingung des Kracauerschen Flaneurs gehört, der mehr »fremder Gast« (R. Klein) als teilnehmender Beobachter ist. Ein Lokal, einmal betreten, findet er nicht wieder; an seiner Stelle »tut sich ein verglaster Abgrund auf, in den ich langsam hineingezogen werde. Er ist ab sofort zu vermieten«. Kurz danach entscheidet sich der Erzähler für die größere Allgemeinheit und gibt den expliziten Flaneur auf, der gewissermaßen ein Fall war. Er widmet sich den objektiven Bedingungen für die Erinnerungslosigkeit einer Straße und registriert die Lädchen, die es selbst schon auf Gegenstände abgesehen haben, denen ein Hang zur Ortsveränderung innewohnt. Seit wann gibt es sie, und warum hat sie lange niemand bemerkt? Zu ihnen gehören weiter die Möbel, »alter Hausrat, der Jahrzehnte lang vor denselben Tapeten stand«; »die Magazine, die ihn beherbergen, [gleichen] Asylen für Obdachlose«, während moderne Einrichtungsgeschäfte als Hotelhallen ausgebildet erscheinen. Eine möblierte Erdgeschosswohnung, zu Klubzwecken umgerüstet, belehrt den Betrachter über die Preisgabe des Intimen, die das zeitgenössische Leben auszeichnet. Damit fällt zugleich die Öffentlichkeit aus.

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Fazit

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Was Kracauer hier zusammenträgt, ist das Relais zwischen Ich und (moderner) Gesellschaft: Man macht etwas aus sich, indem man sich von den Dingen emanzipiert. Kracauer notiert die Skizze eines »soziologischen Selbstversuchs« (Bourdieu) samt daraus hervorwachsender Theorie, und er notiert sie im Medium des Feuilletons, das natürlich genauso der ontischen Veruneigentlichung ausgesetzt ist, allerdings – durch die Dinge denken – auch Medium der Rettung sein kann. Was lässt sich aus der Miniatur folgern? Und was lernen? Über die Gebrauchsdinge lediglich, dass ihre Bedeutung kontingent ist, ihre Funktion nur mehr in der sozialen Distinktion besteht, zu der sie verhelfen. Geben sie damit nicht ihre Widerständigkeit auf, sind sie dadurch nicht für jede Operation anschließbar? Das ist gut möglich. Den Dingen geht ihre Unhandlichkeit und Schwere verloren, das, was ihnen Charakter verleiht. 12 Deshalb schließen sie die Menschen von sich aus. Doch kann ihre Ausschließlichkeit durchaus neue Formen von Gemeinschaft hervorbringen, chiliastische zuerst, ebenso mobile und postmaterialistische, die erfolgreich auf überall vorhandenes Material spekulieren. Diese Gemeinschaften sind dann zwar an die Erde gebunden, ihr aber zu nichts verpflichtet.

[33] 

Nein, das alles schreibt Kracauer nicht. Sein Kurfürstendamm ist als »Straße ohne Erinnerung« schließlich auch eine Straße ohne Zukunft. »Jetzt stehen die beraubten Fassaden ohne Halt in der Zeit und sind das Sinnbild des geschichtslosen Wandels, der sich hinter ihnen vollzieht.« Die Fassaden verweisen auf etwas, das keines Verweises bedarf, das ist, indem es nicht ist: das Ende der Geschichte als menschliche Selbstvermittlung. So gesehen muss man die Dinge vom Ende her denken, wenn man durch sie denken will. Das einzig unverfügbare ist indes das Bild in der Schrift, dem keine reine Vorstellung entgegen zu kommen vermag. »Was bleibt, aber stiften die Dichter«. Selbst wenn sie nur für’s Feuilleton der Frankfurter Zeitung arbeiten. Doch was heißt, in Anbetracht der Umstände und der Aufgabe, »nur«?

 
 

Anmerkungen

Daniel Miller: The Comfort of Things. Cambridge: Polity Press 2008, S. 284.   zurück
»What was once the creation of societies is now in part accomplished at a domestic level, under the auspices of effective but distant state systems. [...] These people are entirely extraordinary, as diverse as the diversity of societies. It is to that richness of a London street that this book attempts to pay homage.« Ebd., S. 297.   zurück
Vgl. hierfür die historisch gründliche, gegenüber literarischen und essayistischen Effekten etwas enthaltsame Habilitationsschrift von Gudrun M. König: Konsumkultur. Inszenierte Warenwelt um 1900,Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2009.   zurück
Siegfried Kracauer, Abschied von der Lindenpassage, in: ders., Straßen in Berlin und anderswo. Erweiterte Ausgabe. Mit einem Nachwort von Reimar Klein, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2010, S. 31–39, hier S. 33.   zurück
Vermutlich spielt hier noch ein anderer, bislang nur selten bedachter Gesichtspunkt eine Rolle: Der Zusammenhang zwischen Inflation und Dingdiskurs. Elias Canetti, Sebastian Haffner, Thomas Mann, Franz Baermann Steiner haben die 1923 von vielen Deutschen als traumatisch empfundene Entwertung aller Werte zur Sprache gebracht; Haffner deduziert daraus den Umschlagsmoment deutscher Geschichte: »[D]amals entstand das, was ihm [dem deutschen Volk] heute seinen Wahnsinnszug gibt: die kalte Tollheit, die hochfahrend hemmungslose, blinde Entschlossenheit zum Unmöglichen, das ›Recht ist, was uns nutzt‹ und ›das Wort unmöglich gibt es nicht‹.« (Erinnerungen eines Deutschen, S. 54) Mit Baermann Steiner kann man den Grund dieses Traumas angeben, nämlich die unmöglich gewordene Konvertierung von Arbeit in Geld, das für einen arbeitet. Mit anderen Worten ergibt das ›protestantische Opfer‹ der Arbeitsaskese 1923 keinen Sinn mehr, womit auch eine säkulare Übersetzung scheitert und der schwache Schutz jeglicher Aufklärung zutage tritt: ›das Wort unmöglich gibt es nicht.‹ Doch muss, wenn das Geld seinen transzendentalen Status einbüßt und in der Hyperinflation seine Markthörigkeit offenkundig wird, die von jeder Gesellschaft zu leistende Übersetzung von nicht-rituellen in rituelle Werte andernorts seine Zuflucht suchen. Eine Zuflucht könnte der Dingdiskurs gewesen sein, weil er sich auf ein Jenseits von Gebrauchs- und Tauschwert kapriziert, die Disfunktionalität vormaliger Märkte beschreibt und in der Feier des unveräußerbar Nutzlosen genau jene Schranke zwischen Utilität und Nicht-Utilität einzuziehen sich bemüht, die das deutsche Kulturprotestantentum vor der Inflation mit dem Geld verbunden hatte. Über den Verlust an Gewissheit wird freilich nicht hinweggesehen, zu sehr ist der Dingdiskurs von Melancholie durchzogen. So scheint es nicht ganz verwunderlich, wenn Autoren wie Siegfried Kracauer nach 1923 die Position eines »wartenden« Katholiken einnahmen... Vgl. zum Thema: Anton Duffesbach: „Das Ende der Werkseligkeit. Franz Baermann Steiners Deutung der Inflation“. In: Zeitschrift für Kulturwissenschaft, Knappheit, 2011.   zurück
Theodor W. Adorno, Siegfried Kracauer: Briefe und Briefwechsel. Band 7: Theodor W. Adorno/Siegfried Kracauer. Briefwechsel 1923–1966. »Der Riß der Welt geht auch durch mich...« 1923–1966. Wolfgang Schopf (Hg.). Frankfurt/M.: Suhrkamp 2008. Brief vom 12.5.1930, S. 207.   zurück
Vgl. Siegfried Kracauer: »Das Ornament der Masse«, In: ders., Das Ornament der Masse. Frankfurt/M.:Suhrkamp 1977, S. 55 f.   zurück
Siegfried Kracauer: Geschichte – Vor den letzten Dingen. Frankfurt/M.:Suhrkamp 1971, S. 180.   zurück
10 
Miller, The Comfort of Things, S. 288.   zurück
11 
»Solch dialektisches Gottvertrauen hat im Straßen-Buch keinen Platz. [...] Darin zeigt sich nicht so sehr Resignation als vielmehr Nüchternheit. Vielleicht spräche man noch besser von Scham.« S. 254.   zurück
12 
»Das Berlin von 1811 besaß im Umkreise seiner Mauern nicht so viel an Ladengütern, wie ein einziges Häuserviereck des Berlins von 1911« vermerkte Walter Rathenau (Zur Kritik der Zeit, Berlin 1912, S. 60). Die durch die Industrialisierung ausgelöste rasante Vermehrung der Dinge wurde bisweilen als gespenstischer Vorgang beschrieben: Einerseits nahm er die Menschen als Geiseln – wie schon in der bekannten Reflektion über Diderots Morgenrock – andererseits fasste man die Dinge ihrer Geschichtslosigkeit wegen als Bühnendekor auf. Die Theatralisierung des gesamten, auch des ›privaten‹ Lebens ist gewissermaßen ein Effekt des Massenkonsumcharakters.   zurück