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Karl Moor und der Sprengstoffgürtel

Über den Versuch einer alternativen Ideengeschichte des Selbstmordattentats

  • Arata Takeda: Ästhetik der Selbstzerstörung. Selbstmordattentäter in der abendländischen Literatur. München: Wilhelm Fink 2010. 316 S. 3 s/w Abb. Kartoniert. EUR (D) 39,90.
    ISBN: 978-3-7705-5062-3.
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Arata Takedas Tübinger Dissertation verspricht, den aktuellen Diskurs über den Terrorismus und speziell Selbstmordattentate literaturhistorisch zu spiegeln und neu zu problematisieren, gegen »den populären Trend, das Phänomen des Selbstmordattentats kulturell zu ›lokalisieren‹, wenn nicht geradezu zu ›islamisieren‹« (S. 33 f.). Die dichotome Verknappung – hier der konsternierte Abendländer, dort der orientalische Suizidterrorist in der Tradition der Assassinen und Kamikazepiloten – möchte der Autor aufbrechen, indem er zeigt, dass sich die Disposition für selbstzerstörerische Attentate »nicht nach empirisch-kulturellen Variablen, sondern nach anthropologischen Konstanten« richte (S. 186).

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Unter dieser Prämisse versucht sich Takeda in der teils gewagten Relektüre kanonischer Texte der abendländischen Literatur. Das vom Autor untersuchte Korpus besteht aus einem altgriechischen, einem englischen, einem deutschen sowie einem französischen Drama: Sophokles’ Aias, John Miltons Samson Agonistes, Friedrich Schillers Die Räuber sowie Les justes von Albert Camus.

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Die wichtigste typologische Unterscheidung, die er vorab trifft, ist die zwischen »suizidoagonalen« und suizidterroristischen Attentaten. Beiden ist die intentionale Selbstzerstörung gemein, im ersten Fall (für den Takeda den zitierten Neologismus vorschlägt) werden allerdings Kombattanten mit in den Tod gerissen (wie bei den Kamikaze- und den Rammjäger-Einsätzen im Zweiten Weltkrieg), im zweiten Fall dann gezielt Nichtkombattanten, also unbeteiligte Zivilisten (vgl. S. 59). Es sind die Übergänge zwischen beiden Typen, die Takeda besonders interessieren und mit deren Untersuchung er eine ideengeschichtliche Entwicklungslinie vom sophokleischen Aias bis zu den Selbstmordattentätern des frühen 21. Jahrhunderts zu zeichnen versucht.

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»Virtuelle Explosion«: Sophokles’ Aias

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Den Aias des Sophokles-Dramas bezeichnet Takeda, trotz aller dagegen sprechenden Gründe, als »den ersten virtuellen Selbstmordattentäter in der abendländischen Literatur« (S. 93). Diese Titulierung bezieht sich aber nicht auf seinen geplanten Rachefeldzug gegen Odysseus und die Atriden, der ja dank des von Athene über Aias verhängten Wahns nur eine Viehherde trifft, sondern vielmehr auf dessen Selbstmord.

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Durch das parteiische Eingreifen der Göttin habe Aias unverschuldet einen Ansehensverlust erlitten und befinde sich nicht mehr auf Augenhöhe mit Odysseus, der im Streit um die Waffen des gefallenen Achilleus bevorzugt wurde. Wie bei den von Hans Magnus Enzensberger beschriebenen »radikalen Verlierern« komme es bei Aias infolgedessen zu gleichzeitiger Auto- und Heteroaggression, die sich gegenseitig befeuern. Die Pointe von Takedas Interpretation ist nun die These, dass diese empfundene Asymmetrie der Verhältnisse in eine Selbstvernichtung als Mittel zum Zweck münde, in eine »virtuelle Explosion« (S. 109). Aias vergieße sein eigenes Blut, um die Erinnyen auf die Atriden anzusetzen: »ein als Mord inszenierter Selbstmord, um den Anspruch auf die Hilfe der Rachegöttinnen überhaupt geltend zu machen« (ebd.).

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Dass Aias in seinem Appell an die Erinnyen das gesamte Heer der Griechen mit in seinen Rachewunsch einbezieht, sieht Takeda als suizidterroristisches Moment, da es sich nicht um eine Kriegssituation handele (vgl. S. 110). Der gewünschte Racheakt ist dann in der Stoffgeschichte zwar nicht vorgesehen, aber der »Rachewille« sei entscheidend: »Aias kämpft allein und stirbt mit dem Willen, seine Feinde mit in den Tod zu reißen.« (S. 114)

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»Der erste Selbstmordattentäter«:
John Miltons Samson Agonistes

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Entschieden leichter hat es Takeda mit dem alttestamentarischen Samson. Als dieser den Philistertempel zum Einsturz bringt, sagt er dezidiert: »Ich will sterben mit den Philistern!« (Richter 16,30) Mit durchaus gutem Grund kann Samson also als »erste[r] Selbstmordattentäter in der Weltliteratur« (S. 92) bezeichnet werden, eine seit dem 11. September 2001 häufiger anzutreffende Formulierung.

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Für die Einbettung des Samson-Stoffes in seine Argumentation wählt Takeda Miltons dramatisches Gedicht Samson Agonistes (1671) aus. Miltons Samson-Lesart sei »nachgerade innovatorisch« (S. 122), denn aus dem ursprünglich unwissenden Mittelsmann, der Jahwe lediglich als Werkzeug dient, habe er schon per Vorgabe im Titel einen kalkulierenden, bewusst kämpfenden Mittelsmann gemacht. Aus dem eher zufälligen Selbstmordattentat werde ein von langer Hand geplantes. So treffe Miltons Samson seine unglücklichen Brautwahlen absichtlich, als »systematische Serie von strategischen Provokationen im Kontext eines Befreiungs- bzw. Kulturkriegs« (S. 149).

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Diskursethisch allerdings sei die poetische Verherrlichung von Samsons Bluttaten, wie sie sich etwa im Jubel des Chores manifestiere, bedenklich. Takeda erinnert an die »Generationen von Rezipienten, die ihn [d. h. den Samson des Dramas] mit zelebrieren«: »Der Leser von heute versteht sie nicht mehr« (S. 178). So versucht er zu zeigen, dass auch einem abendländischen Autor die Verherrlichung eines suizidterroristischen Märtyrers nicht fremd ist, denn Milton ersetze »das einfältige Prinzip der Rache des alttestamentlichen Samson durch ein intelligentes Prinzip des Terrors«. Der auf diese Weise neu justierte Samson »wähnt sich im heiligen Krieg für den eigenen Glauben und ist ohne jegliche Toleranz gegen andere Religionen« (S. 155).

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»Mordbrenner-Terroristen«: Friedrich Schillers Räuber

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Bei den letzten beiden Textstudien liegt das Hauptaugenmerk auf der Abhängigkeit der Selbstmordattentäter von der Verfügungsgewalt ihrer Kommandeure. Die Figurenkonstellationen bei Schiller und Camus »bringen Gruppenphänomene ans Licht, in denen es Opfernde und Geopferte gibt« (S. 295). Hierin liege auch die Parallele zur Gegenwart: »Der instrumentale Charakter des Selbstmordattentäters bildet den archimedischen Punkt für das Verständnis des Selbstmordattentats.« (S. 238)

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Schiller nehme »die wesentlichen Elemente des Rekrutierungsmechanismus der gegenwärtigen Suizidterrorindustrie vorweg« (S. 219), indem Karl sich zum Beispiel nicht selbst auf den Weg macht, um seines intriganten Bruders Franz habhaft zu werden, sondern andere vorschickt. Der mit dem Auftrag betraute Schweizer werde also avant la lettre als Selbstmordattentäter programmiert (S. 220): »Schweizer stellt demnach die tragische Gestalt im Drama dar: Sein Lebenseinsatz wird suggeriert, seine Todesbereitschaft missbraucht und sein Opfergang vergessen.« (S. 221 f.)

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Etwas weit geht Takeda, wenn er bei Karl ein »serienartige[s] Aufblitzen des suizidterroristischen Handlungsmusters« (S. 222) ausmacht und diese Beobachtung in ein eher fragwürdiges »Was wäre wenn« münden lässt. In der letzten Szene der Räuber (V/ 2), als Amalia zu Karl ins Räuberlager geführt wird und sie ihn »entzückt« umarmen möchte, gibt dieser seiner Verzweiflung Ausdruck: »Reißt sie von meinem Halse! Tötet sie! Tötet ihn [das heißt den alten Moor]! mich! euch! alles! Die ganze Welt geh zugrunde!« Takeda kommentiert dies wie folgt: »Hätte er eine massenvernichtungstaugliche Bombe zur Hand, so würde er keine Sekunde zögern, sie zu zünden. Die gewaltige Explosion hinterließe ein gigantisches Leichenfeld, das zu seiner endzeitlichen Vorstellung passen würde.« (S. 223) Karl Moor und der Sprengstoffgürtel – eine recht überambitionierte Interpretation der Sturm-und-Drang-Rhetorik.

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»Kulturpolitische Propaganda«: Albert Camus’ Les justes

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Mit dem Drama Les justes (1949) gelangt die Arbeit ins 20. Jahrhundert, auch was das historische Geschehen betrifft, das Albert Camus literarisch verarbeitet: das Attentat russischer Terroristen auf den Großfürsten Sergei Alexandrowitsch, den Generalgouverneur von Moskau, im Februar 1905. Noch stärker als bereits im Schiller-Kapitel steht hier die Dynamik innerhalb moderner Terrororganisationen im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses: »Der Werdegang des Selbstmordattentäters ist kein eigenständiger, sondern ein fremdgesteuerter Prozess. Suggestion und Indoktrination bilden seine Signatur.« (S. 232)

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Daneben versucht Takeda mit hohem philologischem Aufwand zu zeigen, dass Camus zur Verherrlichung seiner »gerechten« Terroristen Ahistorismus betreibe. Er misst den Dramatiker dabei an einem Paratext, dem Waschzettel der Ausgabe von 1949, in dem er erklärt, dass er sich an dem Versuch messen lassen wolle, die historische Wahrheit auch bei der künstlerischen Umsetzung ins Drama abzubilden und zu »verwahrscheinlichen« (vgl. S. 253).

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Takeda nimmt sich zunächst Camus’ Hauptquelle vor, die autobiografischen Erinnerungen eines Terroristen von Boris Sawinkow, der als Kommandeur der terroristischen Gruppierung am Moskauer Attentat auf den Großfürsten beteiligt war. Bei der Gegenüberstellung von Sawinkows Bericht mit Camus’ Literarisierung stellt er fest, dass dieser in die Handlung auch Aspekte eines früheren Attentats eingebaut hat, das die Ermordung des russischen Innenministers von Plehwe in St. Petersburg zum Ziel hatte (vgl. S. 276). Diese Montagetechnik widerspreche nun aber der von Camus versprochenen korrekten Wiedergabe der historischen Tatsachen.

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Dabei ist es zunächst natürlich äußerst problematisch, dass Takeda die literarische Leistung so apodiktisch an einem Paratext, an einem Statement des empirischen Autors misst. Allerdings gelingt es ihm mit der vergleichenden Lektüre von Drama und Quelle auf alternative Weise zu zeigen, inwiefern es Camus um eine Idealisierung seines Attentäters Kaliayev und dessen Todessehnsucht sowie die Legitimierung eines politischen Mordes zu tun ist: »Die suizidale Spielart des Terrorismus, die in Savinkovs Memoiren allenfalls pragmatisch unterbreitet wird, wird in Camus’ Drama ästhetisch und philosophisch aufgewertet.« (S. 293)

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Fazit

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Die Schlussfolgerung, die Takeda aus seinen Textanalysen zieht, ist gleichzeitig als Input für den gegenwärtigen Diskurs gedacht: »Die Selbstmordattentäter sind nicht anders, sondern handeln anders. Das Risikopotential liegt weniger in der empirischen als vielmehr in der gefühlten Asymmetrie. […] Und die Sichtweisen, die zur kritischen Betrachtung herangezogen wurden, legen oft ein analytisches Defizit an den Tag, indem sie die Bedrohung externer Herkunft betonen und der internen Herkunft nicht gewahr werden.« (S. 295)

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Die an vielen Stellen beklagte Dichotomie Orient/ Okzident, die den Diskurs bestimme, entspricht in Maßen vielleicht aktuellen journalistischen Dispositionen, allerdings gibt es genügend Beispiele für differenziertere Debattenbeiträge, von denen Takeda selbst auch einige anführt. Am prominentesten in der deutschsprachigen Diskussion ist vielleicht Enzensbergers Spiegel-Essay Der radikale Verlierer von 2005, der ein Jahr später in erweiterter Form unter dem Titel Schreckens Männer auch in Buchform erschienen ist.

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Takeda erwähnt Enzensberger allerdings nur kursorisch. Dabei hätte sich der detailliert definierte Typus des ›radikalen Verlierers‹ auch hervorragend für die systematische Beschreibung der von ihm fokussierten Figuren aus 2.500 Jahren abendländischer Literatur geeignet. Dass er diese in Einlösung des Titels seiner Arbeit durchgängig als ›Selbstmordattentäter‹ bezeichnet, muss er dagegen oft wortreich erklären, denn die Anwendung des Begriffs etwa auf Aias ist eigentlich nur in einer sehr übertragenen Bedeutung möglich.

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Das Hauptproblem der Arbeit liegt denn auch darin, dass die gründlichen Textanalysen zu oft in einen ungenauen Kommentar zur aktuellen weltpolitischen Problemlage umgemünzt werden und im Zuge dessen an Aussagekraft verlieren. Bemerkungen wie die oben zitierte in Sachen Karl Moor finden sich öfters. Dabei sind Takedas Textstudien durchaus anschlussfähig an ähnlich gelagerte Projekte. In Manfred Schneiders ebenfalls 2010 erschienener Monografie Das Attentat etwa finden gegen Ende auch die modernen Selbstmordattentäter Erwähnung, allerdings unter der englischen Vokabel ›suicide bombers‹. Schon aufgrund der Begriffswahl kommen hier nur die technisch dem 20. beziehungsweise 21. Jahrhundert entsprechenden Attentäter ins Bild, die Schneider als »TNT-Flaneure« bezeichnet und wieder vor allem zu den Assassinen als deren älteste Ahnen in Beziehung setzt. 1 Takeda bekommt dank seines divergierenden Ansatzes auch andere Strukturverwandtschaften in den Blick, auch wenn er sie nicht immer so plausibilisieren kann wie bei seiner prägnanten Neuinterpretation von Miltons Samson Agonistes.

 
 

Anmerkungen

Vgl. Manfred Schneider: Das Attentat. Kritik der paranoischen Vernunft. Berlin: Matthes & Seitz 2010. S. 663.   zurück