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Literaturwissenschaftliche Generationenforschung
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Das Göttinger Graduiertenkolleg »Generationengeschichte. Generationelle Dynamik und historischer Wandel im 19. und 20. Jahrhundert« hat einen weiteren Band zur Generationenforschung mit literaturwissenschaftlichen Beiträgen vorgelegt.
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Die Fragestellungen der Autoren sind breit gefächert und gehen dem Problem der Generation anhand der Kategorien Autor, Text und Leser nach. Alke Brockmeier untersucht an Thomas Manns Novelle Unordnung und frühes Leid die Generationstypen der 1920er Jahre, Gudrun Weiland analysiert generationsspezifische Leseerfahrungen mit den sogenannten Heftroman-Serien, Ralph Winter blickt auf die Positionierung der französischen Autorengruppe Inquiétude zwischen den beiden Weltkriegen, und Björn Bohnenkamp stellt die Generatiographie (Selbstbeschreibungen einer Generation im Stile von Florian Illies’ Generation Golf) vor. Ingo Irsigler und Kai Sina versuchen Generationenkonzepte in den Prosatexten der 1960er Jahre aufzuschlüsseln, während Markus Neuschäfer die Auseinandersetzungen zwischen Familie und Ich in zeitgenössischen Generationenromanen analysiert. Die Autoren beanspruchen nicht, die bestehende Unschärfe im Gebrauch des Generationsbegriffs in Literaturwissenschaft und -kritik zu beseitigen. Doch wollen sie mit ihren Analysen zeigen, »wie Literatur in den generationellen Diskussionen fungiert« (S. 19).
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Wie schon der erste Band der Reihe »Generation als Erzählung« besticht auch dieser durch ungewohnte Perspektiven auf scheinbar randständige Themen der Literaturwissenschaft.
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Eine literaturwissenschaftliche Generationenforschung ist nicht zu haben
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Informativ, die gesamte Forschungslage kurz zusammenfassend und vor allem wohltuend kritisch gegenüber der inflationären Verwendung des Begriffs Generation in Literaturwissenschaft und Literaturkritik ist die Einleitung von Gerhard Lauer. Lauer hinterfragt die üblichen kulturphilosophischen Deutungsmuster, in denen »Literatur [als] der Aufarbeitungsort einer lange verdrängten Verstrickung in den Nationalsozialismus oder [als] Reaktion auf die sich auflösende soziale Formation Familie« (S. 9) verstanden wird. Literaturwissenschaft und Literaturkritik rückten so in eine argumentative Nähe, da beide, so Lauer, nicht die »reale Transformation der Gesellschaft« (S. 9) in den Blick nehmen würden. Dazu nennt Lauer das Anwachsen der Gruppe der Älteren in unserer Gesellschaft, den Reichtum der Jüngeren, die Steigerung der Intelligenz und so weiter. Allzu schnell werde das Konzept der Generationen mit Literatur und Wissenschaft zugunsten einer rein »diskursiven Generationendramatik« (S. 10) kurzgeschlossen, wie sie sich in den öffentlichen Debatten zeige.
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Die scheinbare Konjunktur des Themas in der Literatur sei ein vom Literaturbetrieb gemachtes Phänomen. Schon immer habe es Familienromane gegeben, in denen Generationenfragen verhandelt worden seien. Blickt man bis in die Antike zurück, ist Lauer nur zuzustimmen. Denn schon dort sind Konflikte der Jüngeren mit den Älteren oder die Klage der Älteren über die Jüngeren zentral.
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Die insgesamt wenigen Generationenromane heute reichten kaum aus, so Lauer, um einen gesellschaftlichen Trend auszumachen, der sich mit der nationalsozialistischen Vergangenheit begründen ließe. Niemand würde ernsthaft die klassischen Familienromane als Reaktion auf eine Kollektivschuld deuten wollen oder auch die amerikanischen Generationenromane, die den deutschen Buchmarkt überschwemmen, in diesem Zusammenhang deuten. Gleichwohl wird die Frage nach den Generationen gesamtgesellschaftlich gestellt. Allein die Deutungs- und Erklärungsmuster, so Lauer, seien unpräzise und unscharf. So sei der Generationenbegriff in der Literaturwissenschaft ein »Flickenteppich« (S. 15) ohne Systematik. Für ein systematischeres Modell empfiehlt Lauer, die Kategorien Autor, Text und Leser mit Blick auf den Generationenbegriff zu verbinden (S. 15).
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Die Beiträge des Bandes arbeiten allerdings weder mit einem einheitlichen Generationsbegriff noch einem systematisch ausformulierten Analysekonzept.
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Generation zwischen Autor, Text und Leser
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Immerhin versuchen einige Beiträger, an ihren Themen die Wechselwirkungen zwischen Autor, Text und Leser zu erfassen.
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Besonders hervorzuheben sind die Beiträge von Alke Brockmeier und Gudrun Weiland. Brockmeier untersucht die Generation der 1920er Jahre an Thomas Manns Novelle Unordnung und frühes Leid. Dabei sind für sie nicht nur literaturwissenschaftliche, sondern auch historische und soziologische Gesichtspunkte leitend, sodass sie die Novelle, ganz im Sinne des New Historicism, als Teil einer kulturell-literarisch-gesellschaftlichen Gemengelage verstehen kann. Unordnung und frühes Leid wird so als narrativer Beitrag zu einem literarisch-außerliterarischen Generationendiskurs gelesen, der »selbst zum Ausgangspunkt einer neuen Diskussion wird« (S. 46).
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Weilands Beitrag »Die Helden unserer Kindheit« untersucht das äußerst komplexe Zusammenspiel zwischen der durch Materialität und Ästhetik begrenzten Zeitlichkeit der Groschenromane und der Lebenszeit ihrer Nutzer und kommt dabei zu dem Schluss, dass zwar eine Synthese bestehe, sich jedoch keine Generationsbildung daraus ableiten lasse (S. 84). So ist auch Weilands Beitrag vollzogene kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft und implizit ein genauer Beitrag zu einem spezifisch literaturwissenschaftlichen Generationenmodell.
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Generationen werden erschrieben
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Literaturwissenschaftlich konventioneller, nämlich auf Karl Mannheims Generationenmodell fußend, sind die Ausführungen von Ralph Winter zur französischen Autorengruppe der Inquiétude (1924–1927). Winter untersucht die essayistischen Publikationen dieser Autoren in Bezug auf ihre generationelle Identität und ihr Gemeinschaft stiftendes Potenzial (S. 89). Das »Postulat einer Generationserfahrung der inquiétude« habe dem »Eintritt in das intellektuelle und literarische Feld des Frankreich der 1920er Jahre« (S. 107) gedient, aber keine Wirkung als »Generationsgruppe« entfaltet, so Winter.
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Björn Bohnenkamp stellt in einer präzisen intertextuellen Analyse Florian Illies’ Generation Golf (2000) Carl Leberecht Immermanns Memorabilien (1836–1840) gegenüber. Mit der narrativen Analyse der Memorabilien zeigt Bohnenkamp, wie Immermann erstens eine »Theorie des Ereignisses, das eine Generation begründet«, formuliert, zweitens »eine Ökonomie des Geistes« entwickelt, mit denen die Ereignisse verarbeitet werden, und drittens eine generationelle Gesellschaft entwirft (S. 119). Dieser Form der Lebensbeschreibung bediene sich auch Illies rund 150 Jahre später. Es werde ein Leben entworfen, das exemplarisch für das Leben einer ganzen Generation stehen soll und folglich keine Autobiographie, sondern eine Generatiographie sei. So könnten Generationen, wie Bohnenkamp zeigt, erschrieben und zum gesellschaftlichen Identitätsangebot gemacht werden (S. 132).
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Ingo Irsigler, Kai Sina und Markus Neuschäfer stellen in ihren Untersuchungen die Texte selbst ins Zentrum und zeigen durch narrative und thematische Analysen, wie Generationen im literarischen Feld entworfen werden. Irsigler und Sina zeigen an Wolfgang Koeppens Roman Der Tod in Rom, Ingeborg Bachmanns Das dreissigste Jahr, Peter Weiss’ Abschied von den Eltern und Dieter Wellershoffs Ein schöner Tag, wie sich der Generationswechsel im literarischen Feld um 1960 vollzog und wie dieser mit einer »Veränderung des literarischen Generationenkonzepts« einherging (S. 138).
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Generationenromane als narrative Therapie
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Den Abschluss des Bandes bildet Markus Neuschäfers Beitrag »Vom doppelten Fortschreiben der Geschichte. Familiengeheimnisse in Generationenromanen«. Tanja Dückers Himmelskörper, John von Düffels Houwelandt und Stephan Wackwitzs Ein unsichtbares Land stehen im Mittelpunkt der Analyse. Neuschäfer wendet sich gegen die »Fixierung der Literaturwissenschaft auf die erinnerungskulturelle Funktion von Generationenromanen« (S. 164) und versucht zu zeigen, dass der Geschichtsbezug der jeweiligen Texte für die narrative Konfiguration eher marginal gegenüber dem Konflikt zwischen Subjekt und Familie sei (S. 165). Dabei macht Neuschäfer ein Erzählmuster aus, das drei Phasen umfasst: Vor der Familie, das meint die Zeit, bevor die Autoren auf die Entdeckung der eigenen Herkunft gehen, In der Familie – darunter versteht Neuschäfer die Reaktionen auf die erkannten transgenerationellen Einflüsse – und Nach der Familie. Die letzte Phase umfasse die Verortung des eigenen Selbst nach der Überwindung oder Anerkennung der Einflüsse. Neuschäfer sieht dieses Erzählmuster in den meisten Generationenromanen (S. 165). Dass Geschichte dabei zweitrangig würde, lässt sich allerdings bezweifeln, denn gerade in Deutschland gibt häufig erst der Rückbezug auf sie dem Subjekt die Bedeutung, die ihm in der eigenen Gegenwart abgeht. Unbestritten wird die Funktion von Geschichte aber umdefiniert, wenn sie nicht mehr der Sicherung politischer Gemeinschaften und Staaten dient, sondern der Begründung und Sicherung einzelner Individualitäten.
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An diesem Drei-Phasen-Modell zeigt sich weiter – und das arbeitet Neuschäfer zuletzt überzeugend aus –, dass deutsch-deutsche und jüdisch-deutsche Generationenromane heute vor allem eine Art narrative Therapie für die schreibenden Autoren darstellen.
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Trotz der skeptischen Einleitung des Herausgebers trägt der Band Wesentliches dazu bei, ein genuin literaturwissenschaftliches Generationenkonzept zu profilieren.
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