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Vermessen(d)e Kriminalwissenschaft

  • Thomas Kailer: Vermessung des Verbrechers. Die Kriminalbiologische Untersuchung in Bayern, 1923-1945. (Science Studies) Bielefeld: transcript 2011. 436 S. Broschiert. EUR (D) 35,80.
    ISBN: 978-3-8376-1614-9.
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Präliminarien

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Die Geschichte der Kriminalwissenschaft wurde lange Zeit von der Historikerzunft nicht als ein der eingehenderen Erforschung werter Gegenstand betrachtet, sodass sie – wenn überhaupt – von Kriminalwissenschaftern geschrieben wurde, die in mehr oder weniger umfassenden Rückblicken den Werdegang ihrer (was ihre institutionelle Selbständigkeit anbelangt umstrittenen) Disziplin darzustellen bemüht waren. Erst seit etwa zwei Jahrzehnten nimmt sich die Geschichtswissenschaft mit größerer Intensität dieses Feldes an, dessen Bearbeitung sich als besonders lohnenswert erweist: Lässt sich doch anhand der Kriminalwissenschaft das positivistische Vertrauen in die Allerklärungskraft der modernen Wissenschaft ebenso deutlich aufzeigen wie ihre Verwobenheit mit Macht und Politik und ihre Funktion als Herrschaftsinstrument. Aufgrund ihrer uneinheitlichen institutionellen Beheimatung und der nicht zuletzt daraus erwachsenen interdisziplinären Offenheit bietet die Geschichte der Kriminalwissenschaft Ansatzpunkte für viele geschichtswissenschaftliche Schwerpunktsetzungen, für politische Geschichte ebenso wie für Sozialgeschichte, Wirtschaftsgeschichte, Ideen- und Mentalitätsgeschichte, Kulturgeschichte oder Wissenschaftsgeschichte.

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Elemente aller dieser Subdisziplinen finden sich in Thomas Kailers Buch Vermessung des Verbrechers, das sich einem bislang etwas vernachlässigten Teilbereich der Kriminologiegeschichte widmet, der von Theodor Viernstein konzipierten und institutionalisierten Kriminalbiologie in Bayern. Der Untersuchungszeitraum reicht vom Ende des Ersten bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, wobei die Vorgeschichte der Kriminalbiologie von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an beleuchtet wird, sodass sich zahlreiche zeitliche Rückgriffe ergeben.

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Die Kriminalbiologie als Gegenstand der Wissensgeschichte

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Nach einem knappen Überblick über den Forschungsstand und die Fragestellungen (S. 25–40), der einen großen Teil der relevanten Literatur umfasst (die hier genannten Werke werden im Zuge der Untersuchung noch durch weitere Literatur ergänzt), folgt eine »Methodische Einordnung« (S. 41–81), in welcher Kailer seine methodologischen Prämissen darlegt und dieselben auch in Relation zu den in der Kriminalwissenschaft im Untersuchungszeitraum gängigen Methoden setzt. Kailer wählt einen hauptsächlich wissenshistorischen Zugang zur Thematik; er orientiert sich an Ludwik Fleck, dessen Konzepte des Denkstils und des Denkkollektivs er zu Leitmotiven seiner Untersuchung macht. 1

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Bei aller Relativierung der Gültigkeit wissenschaftlicher Wissensproduktion durch den Hinweis auf deren Abhängigkeit von einem in einem Denkkollektiv vorherrschenden Denkstil will Kailer (im Anschluss an Fleck) doch am wahren Wissen als Ergebnis wissenschaftlichen Forschens festhalten: »Wahrheit, und damit der Status einer Tatsache als solche Wahrheit, bleibt erhalten, auch wenn sich ihr Gültigkeitsrahmen auf ein mehr oder weniger großes Kollektiv reduziert […]« (S. 53). Dieses Denkmodell soll ein Abgleiten in einen erkenntnistheoretischen Relativismus verhindern und dennoch die »Relativierung einer dogmatisch-absoluten Vorstellung wissenschaftlicher Erkenntnis« (S. 53) ermöglichen. Der wissenshistorischen Analyse der kriminalbiologischen Epistemik ist dieser Ansatz dienlich; allerdings lässt er Kailers eigene Forschungsergebnisse ein wenig in der Luft hängen, denn diese will er wohl kaum als lediglich innerhalb seines eigenen Denkkollektivs gültig kennzeichnen. (Kailers Denkkollektiv ist das Teilprojekt »Biologismus versus Soziologismus« des Forschungskollegs der DFG »Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel« an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main, in dessen Rahmen die dem vorliegenden Buch zugrunde liegende Dissertation entstand.) Meint aber Kailer, dass seine Ergebnisse über dieses Denkkollektiv hinaus Gültigkeit beanspruchen dürfen, so wird er notgedrungen mit Nicht-Relativität und Zeitlosigkeit als definitorischen Merkmalen von Wahrheit und letztlich mit einer strikten Scheidung von Wahr-Sein und Für-Wahr-Halten konfrontiert 2 und gerät so in das Schwerefeld eines retorsiv argumentierbaren performativen Widerspruchs. 3 Eine nähere Auseinandersetzung mit dem Wahrheitsbegriff hätte hier nicht geschadet. Dieses erkenntnistheoretische Manko (wenn man es denn so bezeichnen will) wirkt sich allerdings nicht sonderlich negativ auf Kailers Untersuchung der wissenshistorischen Kennzeichen der Kriminalbiologie und ihrer Methodik aus.

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So ist Kailers Einordnung der Kriminalbiologie als »problemorientierte Wissenschaft«, die nicht zuvor gewonnenes theoretisches Wissen auf praktische Zwecke anwendet, sondern vielmehr als problemstellend und problemlösend zugleich unmittelbar praktischen Charakter aufweist, überzeugend (vgl. S. 67 f., 75). Damit kann auch sehr gut verständlich gemacht werden, dass die Kriminalbiologie das Problem, das sie zu lösen vorgab, erst als solches deklarieren musste: den biologisch-anthropologisch dingfest zu machenden Verbrecher. Die quantitative und qualitative kriminalbiologische Vermessung und Kategorisierung des Verbrechers erfolgte als Antwort auf eine von der Kriminalbiologie selbst aufgeworfene Frage.

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Zur Verortung der Kriminalbiologie
in der Geschichte der Kriminalwissenschaft

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In epistemologischer und methodischer Hinsicht ist in Kailers Untersuchung ein diskursanalytischer Grundton wahrzunehmen. Dies rührt wohl daher, dass er, bevor er sich auf die genaue Analyse der bayrischen kriminalbiologischen Untersuchungen und ihrer epistemischen Kennzeichen stürzt, eine Einordnung des Phänomens in die größere Kriminologiegeschichte vornimmt (»Das Wissen vom Verbrecher – Aspekte des modernen Strafdispositivs«, S. 83–162). Und dabei stützt er sich zum einen – wie die Verwendung des Begriffs »Dispositiv« erkennen lässt – auf theoretische Vorgaben Michel Foucaults, zum anderen auf die maßgeblichen Ergebnisse der kriminologiehistorischen Forschung, die spätestens seit Peter Beckers Verderbnis und Entartung 4 ihrerseits vorwiegend diskursanalytisch ausgerichtet ist. Und Peter Beckers »Erzählmuster« vom »gefallenen Menschen«, der sich letztlich frei fürs Verbrechen entschieden habe und auch gebessert werden könne, und vom »verhinderten Menschen«, der gleichsam von Natur aus zum Verbrechen determiniert und daher auch nicht gebessert, sondern tunlichst und möglichst endgültig aus der Gesellschaft zu entfernen sei, macht Kailer zu einem sein Buch durchziehenden Denkmodell, jedoch nicht ohne es zu modifizieren: Geht Becker davon aus, dass der grundsätzlich besserungsfähige gefallene Mensch als Gegenstand kriminologischer Forschung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch den grundsätzlich zum Verbrechen determinierten verhinderten Menschen abgelöst wurde, so weist Kailer überzeugend nach, dass es sich bei diesen beiden Verbrecherbildern nicht um aufeinander folgende, sondern um auch noch im 20. Jahrhundert nebeneinander wirksame Paradigmen handelte. Das Erzählmuster vom gefallenen Menschen stellt demnach »eine Erzählung langer Dauer dar« (S. 89; vgl. auch S. 86–89, 249, 270 f., 394). 5

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Strafrechtsreform, Strafvollzug und Kriminalbiologie

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Recht umfassend schildert Kailer sodann die bestimmenden Merkmale jener Wissens- und Handlungsgebiete, in die die bayrische Kriminalbiologie eingebettet war: Kriminologie, Strafrecht und Strafvollzug. Der kriminologische Diskurs schuf den theoretischen Hintergrund für die Kriminalbiologie und stellte die grundlegenden Begriffe und Konzepte zur Verfügung: Lombrosos Lehre vom geborenen Verbrecher, die zwar weitgehend überholt war, aber als Präidee im Sinne Flecks weiter gewirkt habe, die Konzepte der Degeneration, der Minderwertigkeit, des psychopathischen Verbrechers, die in der Kriminalbiologie vorherrschende Verknüpfung von Anlage und Umwelt als kriminogene Faktoren (»Anlage als Ursache, Umwelt als Anlass«, S. 119), die Problematik der sozialen Prognose, eugenische Konzepte, die Rolle der Kriminalsoziologie und die zum Teil geradezu absurden Hervorbringungen kriminologischer Typologiebildungen – all das erörtert Kailer und gibt so einen guten Überblick über die Vor- und Rahmengeschichte der Kriminalbiologie.

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Eine Erörterung der im 19. und 20. Jahrhundert angestrebten und teils auch verwirklichten Strafrechtsreform (Stichwort strafrechtlicher »Schulenstreit«) rundet diesen Überblick ab, und besonders instruktiv sind die Ausführungen zur Reform des Strafvollzugs in Bayern, wo nach dem Ersten Weltkrieg der Stufenstrafvollzug eingeführt wurde. Im Stufenstrafvollzug wurden die Häftlinge nach ihrer jeweiligen Besserungsfähigkeit unterschiedlich behandelt: Wer als unverbesserlich galt, musste in Einzelhaft ohne Vergünstigungen darben, und in der NS-Zeit konnten als besserungsunfähig Eingestufte in Sicherheitsverwahrung genommen und auch sterilisiert werden. Wurde man als besserungsfähig angesehen, kam man in die 2. Stufe und damit tagsüber in Gruppenhaft; und bestätigte sich die Hoffnung, dass der Sträfling wieder zu einem ordentlichen Bürger erzogen werden könnte, so konnte er für die 3. Stufe mit weiteren Vergünstigungen wie freundlicheren Hafträumen und höherer Arbeitsentlohnung zugelassen werden. Allerdings war eine Rückversetzung immer möglich (S. 147–162).

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Und hier nun kam Theodor Viernstein und die von ihm in Bayern institutionalisierte Kriminalbiologie ins Spiel: Mit ihrer Hilfe sollte ein Verfahren ermöglicht werden, mittels dessen die Besserungsfähigkeit und die dementsprechende Einordnung im Stufenstrafvollzug, die bislang vom Zuchthauspersonal durchgeführt worden war, auf objektive und wissenschaftlichen Standards entsprechende Weise vorgenommen werden konnte. Freilich bleibt fraglich, ob die kriminalbiologischen Untersuchungen tatsächlich unmittelbar »aus dem Problemlösungsdruck, der sich aufgrund der Notwendigkeiten des Stufenstrafvollzugs ergeben hatte« (S. 395), entstanden, entwickelten sie sich doch auch außerhalb Bayerns an Orten, wo es keinen Stufenstrafvollzug gab.

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Körper- und Charakterleserei:
Die Vermessung der Kriminellen in Bayern

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Die Darstellung der Institutionalisierung der bayrischen Kriminalbiologie in den Strafanstalten Kaisheim und Straubing und der Einrichtung der Kriminalbiologischen Sammelstelle, die Schilderung von deren Verlegung nach München, wo sie an die von Ernst Rüdin geleitete Abteilung »Genealogie und Demographie« in Emil Kraepelins »Deutscher Forschungsanstalt für Psychiatrie« angegliedert wurde, und die Ausführungen zu den methodischen Grundlagen und zur praktischen Durchführung der kriminalbiologischen Untersuchung mittels Fragebögen – diese Inhalte des Kapitels »Topografie der Abweichung« (S. 163–381) stellen den an neuen Erkenntnissen ergiebigsten und streckenweise auch spannend zu lesenden Teil von Kailers Untersuchung dar.

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Um das Konzept und die Durchführung der kriminalbiologischen Untersuchungen analysieren zu können, hat Kailer zum einen die Publikationen und Denkschriften Viernsteins – dieser beider Medien bediente sich der Kriminalbiologe mit Vorliebe, um seine Ideen zu popularisieren und seine Vorstellungen von Kriminalbiologie zu realisieren – sorgfältig analysiert. Zum anderen wertete er ein Sample von 500 kriminalbiologischen Untersuchungsbögen aus. Diese an sich große Zahl reiche, so Kailer, nicht aus, um eine quantitative Untersuchung durchführen zu können, deren Aussagekraft für sämtliche ca. 27.000 im Bayrischen Hauptstaatsarchiv befindlichen Untersuchungsbögen Relevanz besäße. Daher beschränkt er sich auf eine qualitative Analyse des von ihm erarbeiteten Samples (vgl. S. 307).

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Im von Viernstein erstellten kriminalbiologischen Untersuchungsbogen wurden vier größere Datengruppen erhoben: genealogische, biographische, charakterologische und anthropometrische (vgl. S. 265–304). Es wurden also Abstammung und familiärer »Stamm« der Untersuchten festgestellt, ihre erbliche und milieubedingte Vorbelastung erhoben, ihr Lebensweg rekonstruiert, ihre charakterlichen Eigenschaften (wie etwa Willenskraft, seelische Abweichungen oder Intelligenz) festgestellt und ihr Körper anthropometrisch erfasst und nach Möglichkeit in das konstitutionsbiologische Schema nach Ernst Kretschmer eingeordnet.

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Die qualitative Auswertung der 500 herangezogenen Untersuchungsbögen ließ folgende vier Faktoren als bestimmend für die charakterliche Beurteilung der Untersuchten und für die Prognoseerstellung erkennbar werden:

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1. Kriminalität wurde als ein Unterschichtenphänomen festgeschrieben; schon die Herkunft aus der Unterschicht führte häufig zu einer pauschalen Kriminalisierung und Pathologisierung der Untersuchten (S. 318 f.).

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2. Soziale und moralische Vorurteile waren erkenntnisleitend; häufig bestimmten rein subjektive Eindrücke des Untersuchenden, ob ein Charaktermerkmal als kriminogen beurteilt wurde oder nicht (S. 322–326).

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3. Kriminalität manifestierte sich häufig schon in jugendlichem Alter; angeborene Minderwertigkeit wurde hierfür ebenso als Erklärung herangezogen wie fehlende Erziehung, Unehelichkeit, zerrüttete familiäre Verhältnisse und gar zu frühe Selbständigkeit (S. 330–335).

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4. Sogenannte asoziale Lebensführung wie etwa Landstreicherei, unsteter Aufenthalt und Bettelei wurden unmittelbar mit Kriminalität in Verbindung gebracht (S. 347–349).

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Dies sind die laut Kailer zentralen Ergebnisse der Auswertung von Untersuchungsbögen, die Männer zum Inhalt hatten. Bei Frauen komme zusätzlich noch hinzu, dass sie nicht nur als aktive Täterinnen, sondern vielfach auch als Opfer ihrer spezifisch weiblichen Charaktermerkmale (wie etwa Leichtsinn oder Liederlichkeit) wahrgenommen wurden. Zwar waren die Untersuchungsbögen geschlechtsneutral gestaltet, die zeitspezifischen Vorurteile und Rollenbilder flossen jedoch in die kriminalbiologische Untersuchung ein (vgl. S. 350–362).

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Die kriminalpolitischen Ziele der Kriminalbiologie

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Die Erfassung der bestimmenden biologisch-charakterologischen Merkmale der untersuchten Individuen war das eine Ziel der kriminalbiologischen Untersuchung. Die Persönlichkeit der Kriminellen sollte fragmentiert, analysiert und dann wieder zu einem neu vermessenen, nun nach angeblich wissenschaftlichen Kriterien kategorisierbaren Ganzen zusammengesetzt werden. Kailer bezeichnet dies als »mapping the criminal« (S. 241). Das zweite Ziel war es, nicht nur als gefährlich empfundene Individuen, sondern die gefährlichen Bevölkerungsteile als Ganzes zu kartieren. Kailer nennt diese kollektive Zuschreibung von Kriminalität »mapping criminality« (S. 363–381). Ihr diente die Zusammenführung und Vernetzung der erhobenen individuellen Daten in der Kriminalbiologischen Sammelstelle. Dieses »mapping criminality« sollte der erste Schritt hin zur erb- und rassenbiologischen Erfassung der gesamten Bevölkerung sein.

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Die Rolle der Kriminalbiologie in der NS-Zeit sieht Kailer differenziert. Nimmt ein Teil der Forschung an, dass eine direkte, ungebrochene Kontinuitätslinie von den Anfängen der Kriminalbiologie in der Weimarer Zeit zur eugenischen Rassenbiologie im NS-Staat geführt hätte, 6 so geht diese Annahme Kailer zu weit (vgl. S. 26). In der NS-Zeit jedoch erlangten erb- und rassenbiologische Schwerpunkte vorherrschende Bedeutung: »Der kriminalbiologische Diskurs drehte sich bald um erbbiologische Faktoren und eugenische Maßnahmen gegenüber etwa dem Gewohnheitsverbrecher, die dann im ›Dritten Reich‹ zur vom Regime gewollten dominanten Strömung der Kriminologie – und umgesetzt – wurden« (S. 116). Dem ist zuzustimmen. Wenn aber Kailer meint, dass »die erste Generation der Kriminalbiologen«, darunter Viernstein und der in Graz wirkende Adolf Lenz sowie dessen Nachfolger Ernst Seelig die Nationalsozialisten unterstützten, was auch für die »zweite Generation« gelte, und erst die »dritte Generation« (etwa Robert Ritter) in der NS-Hierarchie größere Verantwortung übernommen habe (vgl. S. 228), so ist hier doch eine Korrektur angebracht: Gerade Adolf Lenz unterstützte den Nationalsozialismus nicht, war er doch als Mitglied des Bundeskulturrats ein hoher Mandatar des österreichischen Ständestaats, weshalb er auch nach dem ›Anschluss‹ Österreichs an das ›Dritte Reich‹, obwohl knapp vor der Emeritierung stehend, sofort in den Ruhestand versetzt wurde. Sein Nachfolger Ernst Seelig aber war Vorsitzender des NS-Dozentenbundes und ein engagierter Nationalsozialist, der dann auch für den Reichsgau Steiermark die rassenbiologischen Untersuchungen zur ausnahmsweisen Heiratserlaubnis für jüdische Mischlinge durchführte, also die Kriminalbiologie zu einer allgemeinen Rassenbiologie ausweitete. 7 Doch dies sind nur Ergänzungen im Detail; der zumindest teilweisen Ausweitung der Kriminalbiologie zu einer umfassenden Rassenbiologie in der NS-Zeit widmet Kailer sein Augenmerk (S. 232–238), und er hält fest, dass die enge Verquickung von wissenschaftlichen Grundsätzen und politischen Überzeugungen eine endgültige Einordnung der Kriminalbiologen erschwert: »Politisch ist Viernstein nur schwer einzuschätzen« (S. 237). Dieses Urteil gilt auch für andere führende Kriminalbiologen. 8

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Überlegungen zur Methode: Eklektizismus und Ganzheit

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Da Kailer eine wissenshistorische Analyse durchführt, erörtert er auch den epistemischen Status der der Kriminalbiologie zugrunde liegenden Methode. Er kommt dabei zu Schlüssen, denen durchaus zuzustimmen ist. So weist er auf den eklektizistischen Charakter der kriminalbiologischen Methodik hin und stellt heraus, dass die Fragmentierung der kriminellen Persönlichkeit durch allerlei Mess- und Untersuchungspraktiken wissenschaftlich nicht viel hergibt, aber den Eindruck von Objektivität hervorruft. Und diesem Eindruck vertrauten die Kriminalbiologen, sodass sie mit dem gravitätischen Gewissheitsanspruch des Fachmannes all ihr Forschen und Beurteilen als objektiv erachteten. Dies war, wie Kailer festhält, eine der zentralen Schwächen der Kriminalbiologie: »Die plausible Illusion der Objektivität durch exzessive Empirie überschattete die engen Erkenntnisgrenzen der Fragmentierung […]« (S. 402). Es handelt sich da um eine Spielart jener die frühe Kriminalwissenschaft kennzeichnenden Wissensgewissheit, die ich »strukturelle Skepsisvergessenheit« nennen möchte. 9 Und Kailer erkennt, dass die Kriminalbiologie sich »gerade in der Frühphase auch aus allerlei pseudo- und vorwissenschaftlichen Aussagen über Menschen, die eine von der Gesellschaft sanktionierte Handlung begangen haben, zusammensetzte« (S. 396). Es wäre die Mühe wert gewesen, sich näher anzusehen, um welche »pseudo- und vorwissenschaftlichen« Elemente es sich da genau gehandelt hat.

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Denn der (auf eine Argumentation Peter Strassers gestützte) Vorwurf Kailers, die Kriminalbiologie und die ätiologische Kriminologie überhaupt hätten sich durch ein »unreflektierte[s] methodische[s] Vorgehen« ausgezeichnet (S. 401), stimmt so nicht: Die zu Beginn der 1920er Jahre sich in Belgien, Bayern, Sachsen, Riga und Graz formierende Kriminalbiologie war gewiss kein methodisch einheitliches Feld; dennoch waren die Akteure in gewissem Maße vernetzt. Kailer weist auf die Gründung der Internationalen Kriminalbiologischen Gesellschaft im Jahr 1927 hin; im selben Jahr erscheint ein erster Versuch, die Methodik der Kriminalbiologie zu systematisieren: Adolf Lenz’ Grundriß der Kriminalbiologie, 10 auf welches Buch Kailer auch referiert (z. B. S. 115, 120). Die Lenz’sche Kriminalbiologie ist nun in methodischer Hinsicht durch eine bewusste Abkehr von der exakt-empirischen Naturwissenschaft und von einer Hinwendung zu irrationalen und intuitiven Erkenntnisweisen geprägt. Lenz will die Persönlichkeit des Kriminellen mittels intuitiver »Anschauung« und »Sich-hinein-Versetzen« erkennen 11 – Methoden, die zwar kaum wissenschaftlichen Kriterien genügen dürften, aber dennoch nicht als »unreflektiert« bezeichnet werden können, setzt sich doch Lenz in seinem Denken mit den Lehren von Gelehrten wie Carl Gustav Carus, Ludwig Klages, Richard Müller-Freienfels und Ernst Kretschmer auseinander. In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg wurde die positivistisch-objektive Wissenschaft als ungenügend und in einer Krise befindlich wahrgenommen, und diese vermeintliche Krise der Wissenschaft galt als »Ausdruck der radikalen Lebenskrise des europäischen Menschentums«. 12 Da war es also sozusagen modern, sich der Ganzheit und ihren irrationalen Methoden zuzuwenden, was denn Kriminalbiologen wie Adolf Lenz auch taten.

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Es bleibt zu fragen, ob und in welchem Ausmaß sich auch Theodor Viernstein ganzheitlich-irrationalen Methoden verschrieb. Darauf deutet manches hin, denn Kailer spricht davon, dass Viernstein ein »ganzheitliches System aus Körper und Geist« erforschen wollte (S. 80), dass der subjektive Eindruck des Untersuchers eine wichtige Rolle spielte (S. 324), und dass Viernstein seine Prognosen als »intuitiv-empirisches Urteil« verstand (S. 392). Viernstein habe einen »ganzheitlichen Blick« auf seine Untersuchungsobjekte gerichtet (S. 400), und er bestand darauf, Ernst Kretschmers Konstitutionsbiologie in die Kriminalbiologische Untersuchung einzubauen (vgl. S. 179) – und Kretschmer selbst war ganzheitlich orientiert. Näher zu untersuchen, inwieweit Viernstein auch ganzheitlich inspiriert war oder ob er auch nur für eine kurze Strecke auf diesen modischen Zug aufsprang, wäre lohnend gewesen, gerade aus wissenshistorischer Perspektive. 13 Dieser Punkt bleibt bei Kailer leider offen.

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Auch wäre zu fragen, welchen Begriff von Biologie Kailer im Sinne hat; mehrmals weist er darauf hin, dass Viernstein eher eine charakterologische denn eine biologische Untersuchung etabliert hatte, dass also sozusagen die Kriminalbiologie eine ›Biologie ohne Biologie‹ und nur insofern als biologisch zu bezeichnen sei, als der Mensch eben als biologisches Wesen aufgefasst wurde (vgl. S. 240, 243 f., 255, 394). Dahinter scheint ein naturwissenschaftlicher Biologiebegriff zu stehen, der den mannigfaltigen historischen Erscheinungsformen der Lebenswissenschaft nur eingeschränkt gerecht werden kann. 14 Doch damit genug der Kritik; wir wollen nunmehr abschließend den Blick auf die Stärken von Kailers Buch lenken.

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Fazit

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Zuvor noch eine kurze Bemerkung zum Formalen: Es finden sich im Buch nur relativ wenige Tippfehler – und das ist in Zeiten, in denen Verlage kaum mehr professionelle Lektoren beschäftigen oder vor allem von jungen Autoren bisweilen nur mehr fertige Druckvorlagen übernehmen, schon eine Besonderheit. Kailer arbeitet formal sauber, nur einmal fällt ein Zitierfehler ins Auge (S. 74: »Rueschenmeyer 1996« statt »Rueschenmeyer 1986«), und zweimal findet sich im Text Literatur als Kurzzitat angegeben, die nicht im Literaturverzeichnis erfasst ist (S. 223: »Kesper-Biermann 2008«; S. 280: »Pschyrembel Klinisches Wörterbuch 2002«). Allerdings wurde bei der Lektüre nach derlei Mängeln nicht eigens gesucht. In Summe aber scheint Kailers Arbeitsweise genau und gut nachvollziehbar zu sein, und seine Schreibweise ist verständig und anschaulich.

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Zum Inhaltlichen: Sehr gut gelingt es Kailer, die Widersprüchlichkeiten in Methodik und Praxis der Kriminalbiologie herauszuarbeiten (z. B. S. 282); sie war ein kriminalpolitisches Instrument, das den Keim sowohl von Liberalisierungsmöglichkeiten als auch von Restriktionspotentialen in sich barg – die Kriminalbiologie trug eben, wie Kailer mit Detlev Peukerts Worten spricht, jenes »›Janusgesicht der Moderne‹, das, wie Peukert sagt ›auch nur einen Kopf‹ habe« (S. 251). Diese Widersprüchlichkeit zeigt sich unter anderem in Viernsteins Behauptung einer biologischen Determiniertheit menschlicher Handlungen einerseits, aus der aber andererseits nicht auf eine Unfreiheit der Willensentscheidung geschlossen werden dürfe (S. 256) – Viernstein sagte gleichzeitig ja zum Determinismus und zum klassischen, auf Willensfreiheit basierenden Schuldbegriff. Und die erwähnte Widersprüchlichkeit zeigt sich nicht zuletzt darin, dass Viernstein seinem kriminalbiologischen Konzept letztlich keine geschlossene, synthetisierende Systematik überstülpen konnte. Und so verfuhr Viernstein in methodischer Hinsicht mit seiner Wissenschaft ebenso wie mit den von ihm Untersuchten:

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Der Komplexität des Menschen begegnete Viernstein mit dessen Zerteilung; das Individuum aber war später, die Teile waren nun mit kriminogener Signifikanz aufgeladen, jederzeit wieder zusammensetzbar – der ganze Mensch war die Summe seiner kriminogenen Einzelteile: ein Verbrecher. (S. 260)
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Hervorzuheben ist Kailers differenzierte Darstellung des Wandels der Kriminalbiologie von einer Kategorisierungshilfe im Stufenstrafvollzug zur Speerspitze einer allumfassenden ›Bio-Religion‹ in der NS-Zeit – von Anfang an trug die Kriminalbiologie also das Potential für eine erb- und rassenbiologische Erfassung und Formung der Bevölkerung in sich, ohne freilich diesen Weg notwendigerweise auch einschlagen zu müssen (vgl. S. 375, 392). Und verdienstvoll ist auch die erstmalige Präsentation der Auswertung einer nennenswerten Zahl von bayrischen Untersuchungsbögen. In dieser Hinsicht schließt Kailer eine Forschungslücke zumindest ein Stück weit. Thomas Kailers Buch ist ein gelungener Beitrag zum Verständnis der Kriminalbiologie; wer nachvollziehen will, wie Kriminalbiologie funktionierte, wie sie in die Entwicklung der anthropologisch-ätiologischen Kriminologie eingebettet war und welche Rolle ihr im gesellschaftlichen und politischen Leben der Weimarer Republik und des »Dritten Reiches« zukam, dem sei die Lektüre von Vermessung des Verbrechers empfohlen.

 
 

Anmerkungen

Zu Ludwik Flecks methodologischen Überlegungen vgl. Elisabeth Pernkopf: Unerwartetes erwarten. Zur Rolle des Experimentierens in naturwissenschaftlicher Forschung. (Epistemata. Würzburger wissenschaftliche Schriften 413) Würzburg: Königshausen und Neumann 2006, v. a. S. 73–77, 86–88, 127–131.

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Vgl. Peter Baumann: Erkenntnistheorie. Stuttgart, Weimar: Metzler 2006, S. 146 f.

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Zur Denkfigur des retorsiv argumentierten performativen Widerspruchs vgl. Jürgen Mittelstraß / Martin Carrier / Gereon Wolters (Hg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, 4 Bde. Stuttgart, Weimar: Metzler 2004, Bd. 3, s.v. Retorsion, S. 597–601; Béla Weissmahr: Die Wirklichkeit des Geistes. Eine philosophische Hinführung. Stuttgart: Kohlhammer 2006, S. 37–86.

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Peter Becker: Verderbnis und Entartung. Eine Geschichte der Kriminologie des 19. Jahrhunderts als Diskurs und Praxis. (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 176) Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002.

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Mit diesen Überlegungen rührt Kailer an die Frage nach einer plausiblen Periodisierung der Kriminologiegeschichte und an die Sinnhaftigkeit von (Mikro-)Epochengrenzen, die prävalierende epistemische und methodische Konzepte scheiden; vgl. hierzu Christian Bachhiesl: Kriminologische Epochen. Versuch einer wissenschaftshistorischen Periodisierung der Kriminologiegeschichte. In: Reinelde Motz-Linhart / Heidemarie Specht / Marko Laitinen (Red.): Tagungsbericht des 25. Österreichischen Historikertags St. Pölten. 16. bis 19. September 2008 (Veröffentlichungen des Verbandes Österreichischer Historiker und Geschichtsvereine 34) St. Pölten: Verband Österreichischer Historiker und Geschichtsvereine 2010, S. 262–287.

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Vgl. Jürgen Simon: Kriminalbiologie und Zwangssterilisation. Eugenischer Rassismus 1920–1945. Münster u. a.: Peter Lang 2001.

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Vgl. hierzu Christian Bachhiesl: Das Jahr 1938 und die Grazer Kriminologie. Gebrochene Kontinuitäten in einer aufstrebenden Wissenschaftsdisziplin. In: Friedrich Bouvier / Nikolaus Reisinger (Red.): Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 38/39. Graz: Medienfabrik 2009, S. 93–120; Heimo Halbrainer / Gerald Lamprecht: »So dass uns Kindern eine durchwegs christliche Umgebung geschaffen war«. Die Heilandskirche und ihre »Judenchristen« zwischen 1880 und 1955. Graz: CLIO 2010, S. 110 f.

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Vgl. Andrea Elisabeth Sebald: Der Kriminalbiologe Franz Exner (1881–1947). Gratwanderung eines Wissenschaftlers durch die Zeit des Nationalsozialismus. (Rechtshistorische Reihe 380) Frankfurt/M. u. a.: Peter Lang 2008.

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Vgl. Christian Bachhiesl: Bemerkungen zur strukturellen Skepsisvergessenheit biologistisch zentrierter Kriminalwissenschaft. In: Kriminologisches Journal 42, 4 (2010), S. 263–275.

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10 

Adolf Lenz: Grundriß der Kriminalbiologie. Werden und Wesen der Persönlichkeit des Täters nach Untersuchungen an Sträflingen. Wien: Springer 1927.

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11 

Ebd., S. 19.

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12 

Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie. Herausgegeben, eingeleitet und mit einem Register versehen von Elisabeth Ströker. (Philosophische Bibliothek 292) Hamburg: Meiner 1996, S. 1.

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13 

Zur ganzheitlichen, intuitiv-irrationalen Kriminalbiologie, wie sie von Adolf Lenz konzipiert wurde, vgl. Christian Bachhiesl: Zur Konstruktion der kriminellen Persönlichkeit. Die Kriminalbiologie an der Karl-Franzens-Universität Graz. (Rechtsgeschichtliche Studien 12) Hamburg: Dr. Kovač 2005; Christian Bachhiesl: Der Fall Josef Streck. Ein Sträfling, sein Professor und die Erforschung der Persönlichkeit. (Feldforschung 1) Wien u. a.: LIT ²2010.

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14 

Vgl. Bachhiesl: Zur Konstruktion der kriminellen Persönlichkeit (Anm. 13), S. 71–103.

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