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Projektemacher, Bricoleur, Melancholiker, Krieger, Dichter und Seelensucher

Die Kleist-Monografien von Günter Blamberger und Peter Michalzik

  • Günter Blamberger: Heinrich von Kleist. Biographie. S. Fischer 2011. 608 S. Gebunden.
    ISBN: 978-3-10-007111-8.
  • Peter Michalzik: Kleist. Dichter, Krieger, Seelensucher. Berlin: Propyläen 2011. 576 S. 16 s/w Abb. Gebunden. EUR (D) 24,99.
    ISBN: 978-3-549-07324-7.
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Das Kleist-Jahr 2011 hat nicht nur eine Fülle von Veranstaltungen weltweit gesehen, sondern auch eine ganze Reihe umfangreicher Kleist-Monografien hervorgebracht. Und im Nachgang werden gewiss mehrere voluminöse Tagungsbände folgen. Zu den Merkwürdigkeiten der Kleist-Rezeption der Gegenwart gehört es, dass binnen weniger Jahre zwei Mal ausgewiesene Kleist-Experten und renommierte Journalisten quasi zur gleichen Zeit mit gewichtigen Biographien auf den Markt treten. Waren es 2007 der emeritierte Melbourner Germanist Gerhard Schulz und der überwiegend für die »Süddeutsche Zeitung« arbeitende Journalist Jens Bisky, so sind es im Kleist-Jahr 2011 – im Gedenken an die 200. Wiederkehr seines Todestages – der Kölner Germanist, langjährige Präsident der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft und Mitherausgeber des Kleist-Jahrbuchs, Günter Blamberger, und der Theaterkritiker, Buchautor und Journalist der »Frankfurter Rundschau«, Peter Michalzik. Fast zeitgleich legen beide eine fast 600 beziehungsweise über 550 Seiten starke, ähnlich aufgemachte Biographie des lebenslang unbehausten Dichters aus Frankfurt an der Oder vor. Entstanden sind – um vorab ein erstes Fazit zu ziehen – in den »wiederholten Spiegelungen« (um mit Kleists Antipoden Goethe zu sprechen) bleibende Werke, die in den nächsten Jahren sicherlich die Diskurse um den Glücks- und Seelensucher Bernd Heinrich Wilhelm von Kleist (1777–1811) weiter befeuern werden.

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Blambergers Verzicht auf einen teleologischen Blick

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Günter Blamberger setzt sich mit seiner knapp 600 Seiten starken Kleist-Biographie gleichsam an die Spitze der weiterhin boomenden Kleist-Literatur. Wenngleich die Verlagsankündigung von der »definitive(n) Biographie für unsere Zeit« allzu marktschreierisch und im Falle Kleists, in dessen Leben und Werk von »definitiv« selten gesprochen werden kann, gleich doppelt fragwürdig klingt, bleibt jedoch die Tatsache bestehen, dass dem Präsidenten der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft mit seiner biographischen Lebens- und Werk-Darstellung des lebenslangen Projektemachers und Experimentierspezialisten Heinrich von Kleist ein großer Wurf gelungen ist.

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Keine Biographie, »die Löcher stopft«

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Blamberger gibt sich in seiner Einleitung unter der Überschrift »Tot oder lebendig? Kleists Steckbrief und wie man ihn abreißt« (S. 11–17) denn auch ungleich bescheidener, indem er betont, dass »diese Biographie weiterhin mehr Fragen sammeln soll als Antworten. Weil Antworten so schnell vergessen werden; Fragen aber, um einen Aphorismus Nietzsches aus seiner Genealogie der Moral abzuwandeln, sich ins Gedächtnis einbrennen, wenn sie nicht aufhören, weh zu thun.« (S. 17)

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In insgesamt 16 unterschiedlich langen Kapiteln widmet sich Blamberger dem Dichter der Krise und des Experiments 1 , nicht um »ihm im Nachhinein eine Biographie zu schneidern, die Löcher stopft«, sondern um »das Beunruhigende oder Staunenswerte in jedem Lebensabschnitt zu zeigen.« (S. 15) Blamberger nähert sich deshalb auch nicht wie die meisten seiner Vorgänger dem Dichter von dessen Lebensende, den spektakulären Schüssen vom Wannsee, her. Er beginnt auch nicht mit der Geburt, um so »Kettfäden vom Ende oder vom Anfang des Lebens her« (ebd.) einzuziehen, sondern er nimmt eine »offene, ungewisse Perspektive des Lebens« (ebd.) ein, um »auf der Höhe der Gegenwart zu bleiben, (um) mit Kleist aus der Erlebnisperspektive, aus dem Augenblicksbewusstsein Handlungsalternativen durchzuspielen, quasi ohne zu wissen, was die Zukunft bringt‘«(ebd.). Wenngleich fraglich ist, ob Blamberger in seiner Kleist-Biographie tatsächlich komplett auf die »teleologische« Erzählperspektive (vgl. S. 15) verzichten kann, kann er dennoch »wie jeder Biograph weiterhin linear-chronologisch erzählen« (ebd.).

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Wegweisendes Kontingenzerlebnis

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Günter Blamberger setzt ein paar Seiten vor dieser Überlegung ein mit der Schilderung von Kleists Postkutschenunfall im Jahr 1801 bei Butzbach, verursacht durch ein Eselsgeschrei. Dabei verortet der Biograph den Dichter in einer »Umbruchs-, einer Krisenzeit also voller Spannungen für ein Leben, die in einer Biographie nicht nachträglich aufgelöst und harmonisiert werden dürfen.« (S. 14)

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Nicht zu harmonisieren sind etwa die Brüche und Verwerfungen, die Kleists adlige Herkunft und sein Stand als Spross der weitverzweigten Offiziersfamilie bereitet haben. Aus ihnen etwa leitet Blamberger Kleists »agonale(s) Denken« (S. 49) ab, sein (adliges) Streben nach »Bereichen, Medien und Strategien, um wieder nach oben zu kommen und oben zu bleiben« (ebd.). Eine Rückbindung auf »Kleists Herkunft und Stand« (S. 18–50) unter dem Titel »Adel verpflichtet« sieht Blamberger auch in der Kontinuität des Motivs der »Standesehre« (S. 49) »in Leben und Werk«.

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Blamberger weist im Übrigen – wie jüngst auch Hans Joachim Kreutzer 2 – etwa gegen Rudolf Loch 3 der Uni- und Messestadt Frankfurt an der Oder einen eher »periphere(n)« als »zentrale(n)« Platz zu. 4 Allerdings – und das hat bisher keiner so deutlich ausgesprochen wie Blamberger – lässt sich Kleists Projektemacherei gerade im Kontext des von Kleist so geschätzten Lehrers Christian Ernst Wünsch besser verstehen. Diese Tatsache betont Blamberger im nächsten Kapitel »Science or Fiction? Wie Kleist zum Projektemacher wird und ›Fragmente aus der Zukunft‹ entwirft« (S. 51–84) im Kontext von »Kleists Studium in Frankfurt und die Kant-Krise« erneut, wenn er den »ganz seinem ›höheren Interesse‹, der wissenschaftlichen Wahrheitssuche, verpflichtete(n) Homo academicus als Alien in der Garnisons- und Messestadt Frankfurt« (S. 53) bezeichnet: »Der eifrige Wahrheitssucher und imaginäre Gelehrte Kleist war an der Viadrina fehl am Platz, sein Wissenschaftsprojekt von vornherein zum Scheitern verurteilt.« (S. 54) Gleichwohl lieferte es »Stoff für das ›kleine Ideenmagazin‹ (…). Kleists Denk- und Schreibfiguren sollten in Zukunft zwischen Science und Fiction, wissenschaftlichen und literarischen Gedankenexperimenten oszillieren.« (ebd.)

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Im Zusammenhang mit Kleists adeliger Herkunft bemerkt Blamberger, dass dessen Briefe »vom ersten Brief an als dichterisches Experimentier- und Übungsfeld zu betrachten« (S. 34) seien, gewissermaßen als »Vorschule« seiner Dichtung, »Ideenmagazin und Probestücke späterer Erzählkunst« (S. 35).

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Der »Konflikttheoretiker« (S. 80) Kleist, »ein ganz radikaler Gefühlsextremist«, wie sein Biograph in einem Interview mit Andreas Müller im Deutschlandradio zur Berliner und Frankfurter Doppelausstellung »Kleist: Krise und Experiment« bemerkte, wandelt sich im Zuge der Kant-Krise von 1801 »vom optimistischen Moralphilosophen zum skeptischen Moralisten, der mit Täuschungen und Verstellungen anstatt mit Wahrheiten rechnet.« (S. 83)

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Ein Romantiker auf Reisen

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Hierzu passen auch Kleists Reisen zwischen 1800 und 1802, die Blamberger im 5. Kapitel (S. 117–160) näher beleuchtet. Seine Ausgangsthese lautet: Kleist ist als »Romantiker unterwegs, also im Prinzip auf unendlicher Fahrt, auf der Suche nach Heil, das ebenso unbestimmt wie nicht lokalisierbar ist.« (S. 117) In dieser Perspektive erscheinen Kleists »Reisebriefe (als) ein paradoxes Gemisch aus Wahrheit und Verstellung bzw. aus ›dissimulatio‹ und ›simulatio‹«(S. 119), eine wie immer in der Forschung unterlegte »Gerichtetheit« (S. 118) lasse sich nicht eruieren, denn die Reisen seien stets »wechselnden Zwecken« geschuldet. Ein großes Fernziel des Kleistschen »Roadmovie(s)« (S. 121) lasse sich nicht ausmachen. Entsprechendes folgert Blamberger für die geheimnisumwitterte sogenannte Würzburger Reise, indem er die von der Forschung aufgestellten Hypothesen als Zweck der Reise – von der Industriespionage über eine heilmagnetische Kur, einen medizinischen Eingriff zur Beseitigung einer angeblichen Phimose, den Kontakt zu Freimaurern oder eine Motivkombination – schlicht zurückweist.

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Unterhaltsam sind die Lesarten der Würzburger Reise, wissenschaftlich stimmig keine. (…) Kleist stiftet in seinen Briefen nur Verwirrung, so meine Ausgangsthese, um seine Situation undurchschaubar zu machen, um zu verbergen, dass sein Aufbruch aus Frankfurt an der Oder in Wirklichkeit eine Fahrt ins Offene, Indefinite war, eine Reise, in der sich Erfahrungen und Hoffnungen, abenteuerliche Erlebnisse und deren fiktionale Überhöhung mischen und in der das Partikulare, Episodische auch als Quelle für Kleists späteres literarisches Werk wichtiger ist als die vergebliche Suche nach einer Absicht. (S. 130)
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Im Melancholiker Ludwig von Brockes trifft der Melancholiker, »Bastler und Bricoleur« (S. 83) Kleist offenbar den idealen Reisegefährten »zur gemeinsamen Flucht« (S. 135), deren erstes »Schlüsselwort« nach der Kant-Krise »Zerstreuung« und deren »erster Ort die Kunst« (S. 145) ist.

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Ähnlich harsch wie bei der Würzburger Reise geht Günter Blamberger mit der Forschung um, wenn er sich in Kapitel 4 (S. 85–116) das Thema der »missbrauchten Liebesbriefe« vornimmt. Weder seien die pädagogischen Schulmeistereien in den Briefen an die zeitweilige Verlobte Wilhelmine von Zenge »Bildungsdiktatur« noch »sublimer Sadismus« (S. 95), sondern der Lektüre von Rousseaus Émile geschuldet: »Wilhelmine zu lieben bedeutet für ihn vielmehr von Anfang des Verlöbnisses an die Erfahrungen zu machen, von denen er vorher bei Rousseau gelesen hat.« (S. 106)

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»Kleists Schreibanfänge« behandelt Blamberger im 6. Kapitel unter der Überschrift »Vom allmähligen Verfertigen und Scheitern von Dichtern und Dichtungen«, indem er den Aufsatz Von der allmähligen Verfertigung der Gedanken beim Reden als Angelpunkt von »Kleists Kreativitätskonzept« (S. 165) diskutiert. Kleist drehe im Aufsatz das bisherige Grundaxiom der Rhetorik um, wonach Denken dem Sprechen vorausgeht – für Blamberger »das eigentlich Sensationelle und bis heute Wegweisende seiner Kreativitätslehre« (S. 167). Dabei zieht der Kleist-Biograph eine Linie bis zu Luhmann: »In der Kreativität geht es um die ›Verwendung von Zufällen zum Aufbau von Strukturen‹. Das passt zum Projektemacher Kleist« (S. 169), dessen wichtigster Kreativitätsmotor Aggression (vgl. S. 167) ist, wie Blamberger an Kleists Die Familie Schroffenstein diskutiert.

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Immer wieder rekurriert Blamberger im Folgenden auf Kleists Kontingenzerlebnis beim Postkutschenunfall vor Butzbach, das er im Guiskard (vgl. S. 198) gesteigert sieht; hier trifft sich Blamberger mit dem ehemaligen Präsidenten der Kleist-Gesellschaft, Hans Joachim Kreutzer, begreift dieser in seiner Kleist-Einführung in der C.H. Beck-Reihe »Wissen« Robert Guiskard als »Schlüsselwerk Kleists«. 5

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In diesem Zusammenhang muss auch der alte Wieland deutliche Blamberger-Kritik einstecken, ist doch

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sein Guiskard-Lob (…) auch insofern vertrackt, als es Kleist zur Parteilichkeit zwingt. Wieland braucht zu dieser Zeit Bündnispartner. (…) Literaturpolitisch ist Kleists Anbindung an Wieland, der am Ende seines Lebens den Abstieg aus der ersten Liga der deutschen Dichtung in die zweite erleiden muss, fatal. (S. 207)
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Der detaillierten Spurenfolge in den »Zwischenorte(n), Zwischenzeiten 1802–1807« (S. 202–251), in der Blamberger auch auf Simon Vouets Bild Sterbende heilige Magdalena hinweist, das Kleist in der Kirche von Saint-Loup in Châlons-sur-Marne gesehen hat, – und das nach Peter Michalzik das ikonographische Vorbild für die Toten am Wannsee abgibt – folgt eine erste konzentrierte Auseinandersetzung mit den Komödien und Novellen (S. 252–304).

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Im Findling beispielsweise erkennt Blamberger:

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Kleist spielt nur im abbreviatorischen Novellenmodell nach, was in der Wirklichkeit der Fall war, und seine Novellen sind Experiment, inwieweit es gelingen kann, das Ereignishafte, das unerhörte Geschehen, wieder in eine Ordnung einzubinden, das Diskontinuierliche wieder in ein Kontinuum zu überführen. (S. 293)
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Im Hintergrund steht ein aristokratisches Persönlichkeitsprinzip, wobei es nicht »um die Fähigkeit (geht), ein schönes Inneres nach außen zu bringen, sondern um die Fähigkeit, externe Selbstbilder so zu berechnen, dass man eine wehrhafte Person wird, seine Interessen durchsetzen kann.« (S. 297)

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Während Barbara Vinken in ihrem luziden Essay Bestien. Kleist und die Deutschen ›Die Herrmannsschlacht‹ 6 gegen ihren Rezeptionshorizont als reines Geschlechterdrama liest, ist für Blamberger dieses Drama sowohl ein Propagandastück, als auch das Drama eines »Guerillaführers« im »Kampf gegen eine ansonsten übermächtige Kolonialmacht« (S. 365). Zudem ist Die Herrmannsschlacht auch die »moralische Tragödie« (ebd.) Herrmanns: »Es zeigt die Trostlosigkeit einer Welt, in der Unwahrheit und Unmenschlichkeit keinen Widerspruch mehr von Seiten einer moralischen Autorität hervorrufen.« (S. 376)

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Der Tod am Wannsee als letzte Inszenierung

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Kleists Freitod am Wannsee begreift Blamberger als »letzte Inszenierung« unter den Auspizien einer »für die Nachwelt« genau »kalkulierten Ökonomie des Opfers, wobei es eine poetische Ausnahme von der prosaischen Regel gibt: den wunderbaren letzten Briefdialog zwischen Henriette Vogel und Heinrich von Kleist, ›Todeslitanei‹ genannt, Ausdruck einer grandiosen Anökonomie des Opfers, der Überwindung allen Berechnens in der Liebe und im Tod.« (S. 452)

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Im vorletzten Kapitel wirft Blamberger noch einen Blick auf den »Nachruhm und die Aktualität eines Moralisten in postheroischer Zeit« (S. 469–487), um mit einem »enzyklopädischen Stichwort« (S. 488–498) und vier Thesen das »antiparastatische Genie« (S. 488) Kleists zu rühmen. Blamberger resümiert: »Kleist hat sich zeit seines Lebens für Figuren der Steuerung interessiert, in Diskursen wie der Politik, der Poesie, der Pädagogik oder der Psychotechnik.« (S. 490). Zudem sei es ihm als einem »Vorläufer der Moderne« (ebd.) nicht wie den Moralisten des 16. und 17. Jahrhunderts um »Vermeidung kommunikativer Risiken« gegangen, sondern im Gegenteil um die »Verhaltensformen des Risikos« (ebd.) der Figuren. Die dritte These Blambergers lautet: »Der sportliche Wettkampf ist für Kleist eine Art Laboratorium zur Beobachtung von Bewegungsgesetzen in nichtplanbaren Situationen.« (S. 492) Kreativität, so Blambergers vierte These, erscheint bei Kleist nicht als »ein kalkulierter Prozess im Sinne einer Transformation von Wissen und Plänen in praktisches Handeln, sondern (als) Modus der Erfahrung im Handeln selbst.« (S. 494)

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Alles in allem ist Günter Blambergers Biographie des Krisenspezialisten und skeptischen Moralisten Heinrich von Kleist eine überaus gelungene Biographie. Man muss jedoch – vor allem angesichts der hervorragenden Kleist-Literatur, die im Gedenkjahr 2011 erschienen ist – nicht so hoch greifen wie Wolfgang Schneider in seiner Besprechung in der F.A.Z am 7. Juli 2011, wenn er Blambergers Biographie als »so klug« lobt, »dass einem andere Bücher über Kleist schlagartig wenn nicht dumm, so doch fahrlässig unterkomplex erscheinen«. Richtig ist jedoch: Blambergers Kleist-Biographie sticht unter den exzellenten Werken zu Heinrich von Kleist, an denen es nicht mangelt, heraus, ohne dass zu diesem Dichter der Widersprüche alles und schon gar nicht definitiv gesagt sein kann.

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Widersprüchlicher, doppelgesichtiger Kleist

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Auch dem Journalisten, Buchautor und Theaterkritiker Peter Michalzik geht es um den widersprüchlichen, den doppelgesichtigen Kleist. Denn da ist zum einen »die Geschichte eines schwer zugänglichen, merkwürdig verstockten Menschen, der lange als einer der großen Einsamen der deutschen Literatur galt« (S. 7). Und da ist zum anderen aber auch die »Geschichte eines agilen jungen Mannes in einer Zeit der Umbrüche, Kriege und Neuerungen« (ebd.) zu erzählen, eben jenes Projektemachers und Krisenspezialisten, als den ihn Günter Blamberger schildert. Ein Unbehauster, der quer durch Europa reist, mit 14 Jahren in den Soldatenstand tritt und damit der langen Familientradition folgt, mit 21 Jahren die vorgezeichnete Offizierslaufbahn mehr oder weniger plötzlich wieder aufgibt, sich in seiner Heimatstadt Frankfurt (Oder) als Student einschreibt, nach drei Semestern auch das Studium wieder aufgibt, der quer durch Europa reist, der in der Schweiz Bauer werden möchte, als preußischer Verwaltungsbeamter in Königsberg dient, Kriegsgefangener in Frankreich ist, mit ambitionierten journalistisch-publizistischen Unternehmungen in die Öffentlichkeit strebt, um am Ende mit der verheirateten Henriette Vogel am 21. November 1811 am Kleinen Wannsee in Berlin aus dem Leben zu scheiden.

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Beide Geschichten – die des dynamischen wie die des grüblerisch-melancholischen Kleist – verbindet Michalzik, um es vorweg zu sagen, zu einem spannenden und lesenswerten Ganzen.

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Auch wenn es ihm dabei »primär nicht um neue Erkenntnisse« (S. 8) geht, wie er im Vorwort betont, soll das »Gesagte vor der Wissenschaft bestehen« und zugleich »einiges Neue über Kleist« (ebd.) bereithalten. Ein Anspruch, den Michalzik voll und ganz erfüllt und das noch in einer lebendigen Sprache, die den Leser stets mitnimmt, wenn sie Kleist als »ein Abbild seiner Zeit« (S. 15) verlebendigt.

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Der Krieger als Abbild seiner Zeit

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Als ein solches Abbild seiner Zeit tritt der »Krieger« Kleist für Michalzik paradoxerweise dann erstmals plastisch in Erscheinung, als er sich entschlossen hat, den familiär vorgezeichneten Berufsstand eines Offiziers aufzugeben, nämlich am 18. März 1799, als er diesen Entschluss seinem alten Lehrer Christian Ernst Martini per Brief mitteilt. »Es ging ihm um sich selbst. Glück, Tugend und Bildung waren vor allem Werte für Selbstentfaltung« (S. 11), bemerkt Michalzik, um wenig später zu pointieren:

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Man muss hier, am Anfang, noch nicht an Kleists Tod denken, man muss in dem Mut der Verzweiflung, den man aus seinem Lebensplan herauslesen kann, wie er dieses sein Selbstbildungsprojekt bald nennen wird, nicht den Vorgeschmack des Selbstmords spüren. Man sollte keine mysteriöse Todessehnsucht oder dunkle Tragik in Kleists Leben hineindichten, wie wenn von Anfang an der Schatten des Todes über ihm gelegen hätte (S. 14)
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betont Michalzik hier noch ganz auf »Blamberger-Linie«, der Kleist nicht von seinem Ende her verstanden wissen will. Und dennoch betont Michalzik: »Seine Entscheidung von 1799 und sein Tod von 1811 hängen zusammen.« (ebd.) Denn bereits mit dem radikalen Entschluss von 1799, mit der Familientradition zu brechen, wird – allerdings erst vom Ende her – deutlich, »dass er in der Welt, auf die er hoffte, nie ankommen sollte und auch nicht ankommen konnte.« (ebd.)

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Kenntnis- und detailreiche Schilderung des Soldatenalltags

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Kenntnis- und detailreich schildert Michalzik diese Welt, etwa den »Garnisonsalltag«, oder die verschiedenen »Dienstgrade« innerhalb der preußischen Armee, wobei es angesichts einiger Zahlen und Daten für den Leser ungemein hilfreich sein mag, dass der jeweilige rechte Seitenkopf den Inhalt angibt, während auf dem linken Seitenkopf die jeweilige Kapitelüberschrift wiederholt wird. Das liest sich dann – mitunter etwas blumig und weitschweifig – etwa so:

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Hauptbestandteil des Garnisonsalltags war das Exerzieren. Es war, neben der Wache, die zentrale Aufgabe von Offizieren und Mannschaften. Exerziert wurde in der Regel vormittags. Es bestand im Aufmarschieren, in den vielen exakt auszuführenden Handgriffen wie dem Schultern und Präsentieren des schweren Gewehrs. Dazu gehörten die Geschwindigkeit des Nachladens und das Einüben im absoluten und exakten Gleichmaß der Bewegungen, die die Voraussetzung für das uhrwerkartige Funktionieren dieser Armee und ihre jahrzehntelange Überlegenheit gewesen waren. (S. 19)
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Oder so:

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Die Ausbildung der Junker der Infanterie fand vor allem am Gewehr statt, das wie die Fahne sehr schwer war. Das erlebte Kleist in den ersten Monaten seines Militärdienstes 1792. Der Dienst begann bei der ersten Dämmerung, nach der Parade wurden sie von einem Leutnant exerziert, sie besuchten am Nachmittag die Junkerschule und wurden dann weiter exerziert. Jeden siebten Tag mussten sie ›visitieren‹: Mit geladenem Gewehr wurden die Reviere der Mannschaften untersucht. Man kann sich vorstellen, dass das nicht immer reibungslos und harmonisch ablief. Mindestens viermal im Monat, eigentlich alle vier Tage, mussten sie auf Wache. Mit letzten Kräften standen sie dann nachts bei der Schildwacht. War es auch noch kalt, wurde das zu einer besonders schwer durchzustehenden Aufgabe. Es war jedoch verpönt, um Ablösung zu bitten. Erleichtert wurde die Aufgabe für den Gefreiten-Korporal, weil er oft in die Offizierswache hereingeholt wurde – ein Privileg, das er dem gemeinen Gefreiten voraushatte. Hier konnte er essen und wenigstens auf einem Stuhl sitzen, wenn schon nicht schlafen. (S. 21)
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Michalzik schildert in zwei Kapiteln zunächst die Soldatenjahre und die Potsdamer Zeit zwischen 1795 und 1799, um dann »Krieg und Kindheit«, also die Zeit zwischen 1777 bis 1795, zu beleuchten. Dabei räumt er unter anderem mit der Mär von den finanziell klammen Kleists auf, indem er unter anderem vorrechnet, was sowohl der Vater als auch Kleist verdient haben und welchen Wert der Familienbesitz hatte: »Angesichts des verarmten Kleinadels, den es in Preußen überall gab, waren die Familienverhältnisse der Kleists nachgerade feudal.« (S. 73)

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Kern der Würzburger Reise sind Liebesbriefe

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Vor jeder sich anschließenden chronologisch geordneten Zweiergruppe schaltet Michalzik jeweils ein »Zwischenspiel« ein. Zunächst fragt er »Wie sah Kleist aus, wie sprach er?«, um sich unter dem Stichwort »Zweite Jugend, Bildungsreise« den Stationen Frankfurt und Würzburg im Jahr 1799 zu widmen.
Trifft sich Michalzik mit der Einschätzung, wonach sich mit Kleist und seinem Frankfurter Dozenten Christian Ernst Wünsch »zwei verwandte Seelen« (S. 5) begegnet seien, mit der Einschätzung von Blamberger, der in Wünsch einen Projektemacher par excellence sieht, so differieren sie etwa in der Einschätzung der Würzburger Reise. Während Blamberger pointiert, dass das Geheimnis der Würzburger Reise darin zu finden ist, dass es kein Geheimnis gibt, liegt es für Michalzik in den Liebesbriefen:

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Die Briefe, die Kleist nun schreiben konnte, waren nicht Ersatz für etwas anderes, sie waren der Kern. Zugespitzt muss man sagen, es ging bei der Würzburger Reise um die Liebesbriefe. (S. 118)
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Während Blamberger diese gegen ihre germanistischen Kritiker, die aus ihnen im wesentlichen Schulmeisterei, wenn nicht gar Sadismus entnehmen, als Ausweis der Rousseau-Lektüre Kleists verstanden wissen will, findet sich Michalzik mit seiner Einschätzung ganz auf der Kritikerseite:

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Von Liebe, Zuneigung; Innigkeit, Vertrauen findet sich in den Briefen fast nichts. Zärtlichkeiten sind sehr selten. Diese Briefe sind alles andere als gewöhnliche Liebesbriefe. Es sind Briefe, in denen die Braut nicht berührt wird, sondern in denen sie rigoros und rücksichtslos erzogen wird, und zwar zu einer durchaus untertänigen Rolle. (…) Kleist war in den Briefen inquisitorisch, und er war impertinent. Es mutet wie eine Gehirnwäsche an, was Kleist versuchte. (S. 108 f.)
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Teilt Blamberger hin und wieder süffisant – und amüsant zu lesende – Seitenhiebe auf die Fachkollegen aus, wenn er etwa im Kontext seiner »Marquise«-Deutung mit Blick auf die Novellentheorie bemerkt: »Ob die Lösung – der Falke ist der Schwan – Ornithologen überzeugen wird, ist allerdings fraglich. Diese Methode germanistischer Gattungsbestimmung taugt auch nichts, wenn man sie ontologisch versteht« (S. 300), stellt Michalzik hin und wieder überraschende Fragen, wie: »Vielleicht wollte Friedrich II. mit der Bestrafung von Joachim Friedrich von Kleist« – Kleists Vater wurde die ihm eigentlich zustehende Beförderung vorenthalten – »sogar den Herzog treffen.« (S. 74) Welche Bedeutung dieses für den Sohn gehabt haben könnte, bleibt aber genauso offen wie die buchstäblich spitze Frage im Kontext der Würzburger Reise: »Vielleicht hat Kleist viel onaniert, vielleicht dachte er daran, seine Ausbildung zu erweitern.« (S. 119)

[51] 

Zurückhaltende Werkinterpretationen

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Verständlicherweise hält sich der Journalist Michalzik bei der Beurteilung einzelner Werke meist zurück, scheut aber hin und wieder auch nicht in einzelnen Fällen die zugespitzte Formulierung, etwa, wenn er den Prinzen von Homburg als »Kriegspropaganda« (S. 376) bezeichnet: »Kleist sucht und findet einen neuen, in den zarten Gefühlen gegründeten Geist des Krieges. Das Ideal ist der traumgeborene, von der Sicherheit des Unbewussten geleitete Krieger.« (ebd.) Insofern überrascht es auch nicht, dass für Michalzik die Herrmannsschlacht »kein Fremdkörper in Kleists Werk« (S. 350) ist. Im Gegenteil. Die Herrmannsschlacht ist für den Biographen, der den Krieger Kleist konsequent stark macht, weil es ihm gelingt, die Zeitereignisse, das Leben Kleists genau einzufangen, »das aktuellste Drama Kleists. Er durchdachte den Zusammenhang der beiden Themen Widerstand und Terrorismus.« (S. 351)

[53] 

Die »Sterbende heilige Magdalena« als ikonographisches Vorbild für den Tod am Wannsee?

[54] 

Wirklich Neues hatte Michalzik im Vorwort versprochen. Dieses hebt er sich zum Schluss auf. Für ihn ist nämlich der Freitod am Wannsee die Nachstellung, sozusagen das in der Zeit damals übliche Inszenieren von »lebenden Bildern«, eines Bildes von Simon Vouet mit dem Titel »Sterbende heilige Magdalena«:

[55] 
In Châlons sah Kleist im Tod die Seligkeit. Nun wollte er das rührende und erhebende Bild in Wirklichkeit wiederholen und es durch die Lage der Leichen den Engeln, so wie auf dem Bild, möglichst leicht machen, seine und Henriettes Seele zu empfangen. Kleist glaubte also, nach dem Tode weiterzuleben. Das ist der Sinn seiner letzten Inszenierung. Von daher ist auch die heitere Ausgelassenheit erklärbar, mit der er in den Tod ging. (S. 466)
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Ob die von Michalzik identifizierte ikonographische Eindeutigkeit tatsächlich so gegeben ist, wie Klaus Müller-Salget in einer Miszelle im Kleist-Jahrbuch 2011 (S. 163 f.) mit Recht hinweist, ist vielleicht gar nicht so entscheidend. Für den Gefühlsextremisten Kleist und seine heutigen Leser entscheidender ist vielmehr die Tatsache, dass die letzte Inszenierung, das Nachstellen eines lebenden Bildes im Tod final aufgegangen ist. Das Weiterleben in der Literatur jedenfalls ist gesichert. Nicht zuletzt auch Dank lesenswerter Biographien wie der vorliegenden von Peter Michalzik.

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Fazit

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Mag die Vorliebe des literaturwissenschaftlich interessegeleiteten Rezensenten der Blambergerschen Biographie auch den Lorbeerkranz zusprechen, so bleibt es das nicht hoch genug zu lobende Verdienst von Peter Michalzik, den geschärften Blick vor allem auf den »Krieger« Kleist und seine Zeit gerichtet zu haben. Jedenfalls ist nicht zuletzt dank der Studien von Blamberger, Michalzik, Kreutzer, Schulz, Bisky, Kraft, Loch und Co. die Kleist-Philologie in der überaus glücklichen Lage, über gleich mehrere unterschiedlich gelagerte Einführungswerke und Biographien zu verfügen, die über die Tagesaktualität hinaus Bestand haben dürften. Was allerdings nottut, hier jedoch nicht geleistet werden kann, ist eine kritische Würdigung und Zusammenschau der biographischen Forschung der letzten Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, eine Aufgabe, die sich im Übrigen sowohl auf einen fundierten Überblick über die Kleist-Rezeption im Ausland als auch in weitere Bereiche ausdifferenzieren ließe.

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Die vorliegende Besprechung geht in weiten Teilen auf meine beiden Besprechungen in Ausgabe 8, August 2011, von literaturkritik.de zurück.

 
 

Anmerkungen

Vgl. auch »Krise und Experiment. Die Doppelausstellung im Kleist-Jahr 2011. Berlin und Frankfurt (Oder).   zurück
Vgl. Hans Joachim Kreutzer. Heinrich von Kleist. München 2011, S. 32–39; hier S. 38. Vgl. hierzu auch meine Besprechung in Ausgabe 8 von Literaturkritik.de 2011 unter URL: http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=15800 (letzter Zugriff am 07.04.2012)   zurück
Vgl. Rudolf Loch: Kleist. Eine Biographie. Göttingen 2003.   zurück
Vgl. Hans Joachim Kreutzer (wie Anm. 2), hier S. 30.   zurück
Vgl. Hans Joachim Kreutzer (wie Anm. 2), hier S. 38.    zurück
Vgl. hierzu meinen Text in Ausgabe 8 von Literaturkritik.de unter dem Titel: Die Herrmannsschlacht als »Sexjagdspiel«. Über Barbara Vinkens luzide Abhandlung »Bestien. Kleist und die Deutschen« unter http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=15803&ausgabe=201108 (letzter Zugriff am 07.04.2012)   zurück