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Fragezeichen um ein Dichterleben

Hans Joachim Kreutzers und Wilhelm Amanns
Kleist-Einführungen

  • Wilhelm Amann: Heinrich von Kleist. Leben Werk Wirkung. (Suhrkamp BasisBiographien 49) Berlin: Suhrkamp 2011. CLX, 160 S. Paperback. EUR (D) 8,90.
    ISBN: 978-3-518-18249-9.
  • Hans-Joachim Kreutzer: Heinrich von Kleist. (Beck´sche Reihe 2716) München: C. H. Beck 2011. 128 S. Paperback. EUR (D) 8,95.
    ISBN: 978-3-406-61240-4.
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Zu den publizistischen Erwartungen an das Kleist-Jahr 2011 gehörte sicherlich auch ein wichtiger Beitrag von Hans Joachim Kreutzer, einem Doyen der Kleist-Forschung. Schließlich war Kreutzer von 1978 bis 1992 Präsident der Heinrich von Kleist-Gesellschaft und 1980 Begründer des Kleist-Jahrbuchs in seiner heutigen Form. Mit seiner kompakten Einführung in der Reihe C. H. Beck Wissen ist Kreutzer ein ebenso souveräner wie stilistisch anspruchsvoller Parforceritt durch das Œuvre der Kleistschen Dichtung gelungen.

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Eine der wichtigsten Strukturen: Familienkonstellationen

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Kreutzer, der teilweise neue Prononcierungen vornimmt, begreift Kleists Texte in »ihrer ganzen Substanz nach europäisch« (S. 7). Mit wenigen Strichen skizziert er nach einer knappen Einleitung (S. 7 f.) die »Lebensphasen« (S. 9–18), verweist auf den »Mangel an Zeugnissen und Dokumenten« (S. 9) und betont die Tatsache, dass die Selbstaussagen nicht »als Dokumente«, sondern meist als »Wünsche und Vorsätze« zu behandeln sind. Als Hauptstrukturen der Texte Kleists sind – Kreutzer zufolge – vor allem Familie, Natur, Eigentum und Krieg zu sehen: »›Familie‹ als Struktur liegt fast allen Dichtungen Kleists zum Grunde, vielfach in auffällig gestörter oder zerstörter Form; unter den tragenden Denkfiguren dieses Dichters gebührt der Familie vornehmster Rang« (S. 10).

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Wie zuletzt Rudolf Loch in seiner bei Wallstein im Jahr 2003 erschienenen Kleist-Monographie, der den Kontext Kleists in seiner Heimatstadt detailliert beleuchtet, stellt Kreutzer die historische Bedeutung der Universität Frankfurt, wo Kleist nach seinem Abschied aus dem familiär vorbestimmten Soldatenstand drei Semester studierte, heraus:

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Der Studiosus Kleist hätte schwerlich die Möglichkeit gehabt, unter den Dozenten eine gegründete Auswahl zu treffen. Er studierte mit all der relativen Buntheit in der Wahl seiner Kollegs, wie das damals üblich war. (…) Kleist hat die Anspruchsvollsten in der Dozentenschaft vielleicht gemieden. Jedenfalls zollt er übermäßiges Lob dem in Materien wie Methoden unzuverlässigsten, aber aufs Publikum am meisten wirkenden der Dozenten, Christian Ernst Wünsch. (S. 13)
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Kreutzer rückt jedoch die Bedeutung der Frankfurter Universität zurecht:

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Die Universität Frankfurt war die älteste Brandenburgs. Sie pflegte aber keinen Austausch mit anderen Hochschulen, den Anschluss an jüngere Kommunikationsformen, etwa im wissenschaftlichen Zeitschriftenwesen, hat sie nicht mehr erreicht. In ihrem ganzen Zuschnitt ließe sie sich vielleicht mit Rinteln, Helmstedt, Duisburg, Dillingen vergleichen. (S. 14)
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In seinen allgemeinen Bemerkungen in Kapitel 3 zu Kleists »Schreibereien« (S. 18–23) verweist Kreuzer darauf, dass die »schriftstellerischen Anfänge Kleists in einer Dunkelzone von etwa zwei Jahren« (S. 18) liegen. Er betont zudem, dass die Wissenschaft bisher zu wenig die »Gattung der Verserzählung« (S. 19) beachtet und bezieht – einem Hinweis Wilhelm Traugott Krugs folgend – die Verserzählung Die beiden Tauben, in Heft 2, Februar 1808 im Phöbus erschienen, auf die Beziehung Kleists zur damaligen Braut Wilhelmine von Zenge im Jahre 1801: »Das Gedicht verrät etwas, was Kleists Briefe an Wilhelmine in ihrer Erziehungsrhetorik nicht zeigen: wahre Zuneigung.« (S. 19 f.)

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Immer wieder: Musikalische Allusionen

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Kapitel 4 (S. 23–78), naturgemäß das längste, widmet Kreutzer den Dramen, beginnend mit knappen einleitenden Bemerkungen, wonach sich aufgrund thematischer und motivischer Verwandtschaft »Zweiergruppen« (S. 24) ergeben mit den Zuordnungen Die Familie Schroffenstein und Robert Guiskard, Amphitryon und Der zerbrochne Krug, Penthesilea und Das Käthchen von Heilbronn oder die Feuerprobe sowie die beiden »politischen« Dramen Die Herrmannsschlacht und Prinz Friedrich von Homburg.

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Kreutzer hält eine Anregung zur Familie Schroffenstein über eine »im ausgehenden 18. Jahrhundert im Druck bzw. als Stiche« (S. 25) verbreitete Abbildung der »im vollen Wortsinne schroffe(n) Ruine Schroffenstein oberhalb von Landeck, an der steilen Südwand der Lechtaler Alpen« (ebd.) für denkbar. Eine Möglichkeit, die sich zudem mit dem »Plan zu einem Drama Leopold von Österreich« (ebd.) verbinden ließe, gehörte die im 16. Jahrhundert »erloschene Familie der Schroffensteiner« doch zu den österreichischen Lehensträgern und war im Heer Leopolds III. vertreten, wie Kreutzer ausführt. Des Weiteren zieht Kreutzer die Verbindung zum Aufenthaltsort Kleists in Thun mit der »ganz besondere(n) Perspektive des Blicks von der Stadt Thun, vor allem bei leicht erhöhtem Standort, etwa dem Alten Friedhof, auf die Bergriesen des Berner Oberlands.« (S. 26) Außerdem veranschlage Kleist die Spanienmode der Zeit, vor allem von »Julius von Soden, Friedrich Justin Bertuch und (den) Schlegels« (S. 27), die für die hispanisierende Kostümierung der »Familie Ghonorez/Schroffenstein« zu bedenken sei. Und wie bei weiteren Texten Kleists verweist Kreutzer, für Kenner seiner Texte nicht weiter überraschend, auf die musikalische Grundierung der »Schroffensteiner«:

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Niemals später hat Kleist so viele Gedankenstriche gesetzt. Das sind nicht bloße Pausenzeichen, wie Fermaten in der Musik, sie enthalten vielmehr jeweils eine Anweisung an den Sprecher, gestisch etwas zum Ausdruck zu bringen, neben und über der Sprache. Diese zeitlich nicht festgelegten Pausen machen den Dramentext zu einer Art von Partitur, die einen hohen Anteil an Improvisatorischem besitzt. Das mag man mit der Musik vergleichen. Es zeichnet sich eine Analogie zur Musik des ›Generalbaßzeitalters‹ ab. (S. 31)
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Im Robert Guiskard, Herzog der Normänner betont Kreutzer Kleists »staunenswerte(n) Blick für politische und das heißt stets auch militärische Machtstrukturen« für Vorgänge im 11. Jahrhundert. Kreutzers lakonisch-prägnantes Fazit, nachdem er die »Analogie zwischen dem apulischen Herzog und Heerführer und Kleists korsischem Zeitgenossen« (S. 36) unterstrichen hat: »Robert Guiskard kann man das Schlüsselwerk Kleists nennen. Sein Fragmentcharakter ist Symbol für das Kleistsche Lebenswerk überhaupt.« (S. 38) Im Übrigen gibt Kreutzer zu bedenken, dass Kleists briefliche Äußerung vom 17. Dezember 1807 an Christoph Martin Wieland, wonach er sich eine Tragödie von der Brust heruntergehustet habe, sich vielleicht auch auf den Guiskard beziehen ließe (vgl. S. 35) und demzufolge die »große Aufgabe ja gelöst« (S. 35) sein könnte, von der Wieland einst sprach.

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Amphitryon und Der zerbrochne Krug sind, so Kreutzer, »Antworten auf Kleists Krise von 1803/04, nach den Schweizer Anfängen« (S. 45), Kleists mit »großer Geste« (ebd.) entworfene Herausforderungen der Tradition.

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Ähnlich wie in den »Schroffensteinern« findet Kreutzer auch in anderen Werken musikalische Allusionen, so auch in der »Wasserprobe« (S. 63) im Käthchen, als sie auf dem Weg ins Kloster einen Bach überqueren muss – nach Kreutzer eine »Anspielung auf die Feuer- und Wasserprobe der Zauberflöte« und »eine mögliche Deutung des Kleistschen Untertitels« (ebd.). Für Blamberger hingegen ist Das Käthchen von Heilbronn oder die Feuerprobe nicht nur »ein Genremix aus Märchen, Schauerroman, Ritterdrama und Legende« 1 , sondern in erster Linie »ironische Metapoesie. Sein Spiel um Unschuld, Schönheit und Wahrheit funktioniert nur, weil er es in eine Wunschzeit versetzt, in der alles Wunderbare noch eine transzendente Legitimation im Glauben hatte.« (ebd.) Mit Blick auf den Doppeltraum im Käthchen bemerkt Kreutzer nicht nur die Spuren zu Platons Symposion, sondern auch dessen »christliche Metamorphose« (S. 64).

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Starke Analogien zur Musik seiner Zeit finden sich bekanntermaßen in Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik, wobei Kreutzer auf den Bezug zu Händels Komposition von John Drydens Ode Alexander’s Feast; or The Power of Music aus dem Jahre 1735/1736 verweist:

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Händels Titel trägt den Zusatz Ode in Honour of St. Cecilia. Das Werk gehörte zu den beliebtesten Kompositionen Händels, traditionell wurde es am Cäcilien-Tag gegeben. Als selbstverständlich vorauszusetzen ist, das sowohl Adam Müller, der 1815 konvertiert war (was nur wenige wussten), wie auch Kleist einen Begriff von Händels oft in gigantischen Besetzungen aufgeführter Komposition hatten. (S. 106)
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Im Übrigen ist Müllers Amphitryon-Vorrede für Kreutzer »das Glänzendste, was über Kleist zu seinen Lebzeiten veröffentlicht worden ist« (S. 78), wie Kreutzer in Kapitel 5 im Zusammenhang mit der Analyse der Publizistik Kleists (S. 79–87) bemerkt. Beschreibt der Phöbus qualitativ eine »fallende Kurve« (S. 81), so moniert Kreutzer nicht ganz zu Recht eine gründliche Kommentierung der »Berliner Abendblätter« (vgl. S. 83), zumal letztere nicht nur eine »Fülle und Lebendigkeit der Begabungen« (ebd.) Kleists zeigten, sondern zugleich auch »ein Defizit bei der Verankerung dieser Schriftstellerexistenz in der gesellschaftlichen Wirklichkeit« (ebd.) sichtbar machten.

[19] 

Nach der Würdigung der Erzählkunst im 6. Kapitel gilt das Schlusskapitel dem letzten Jahr (S. 112–118). Kreutzer schlägt dabei den Bogen zum Beginn: »Dieses Dichterleben begann mit einem Fragezeichen. Da ging es um das Datum der Geburt oder um die wahre Geburt« (S. 117), um am Ende festzuhalten:

[20] 
Am Schluss seines letzten Briefes an die Schwester, der in großzügigen, freien Schriftzügen beginnt und zunehmend ins Enge verläuft, findet sich, nachträglich hineingedrängt, eine sonderbare, je länger man sie überdenkt, immer beklemmender wirkende Wendung, ein ›d.‹, dann ein waagrechter Strich, dann die Worte ›am Morgen meines Todes‹. Das ist keine realzeitliche Angabe, (S. 118)
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sondern – so Kreutzer – vermutlich eine Anspielung auf den berühmten Choral von Christian Knorr von Rosenroth »Morgen-Glantz der Ewigkeit, Licht vom unerschöpften Lichte«.

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Eine knappe Zeittafel samt Bibliographie und Personenregister beschließt diese souveräne Kleist-Werk-Monographie, die auch der Kleist-Kenner mit Gewinn und Belehrung gerne zur Hand nehmen wird.

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Anschaulich und verständlich, jedoch mit
Fehlern und Flüchtigkeiten

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Anschaulich und verständlich ist auch Wilhelm Amanns »Heinrich von Kleist« als Band 49 der Suhrkamp BasisBiographie-Reihe erschienen. Wenngleich Amann, einige Jahre wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Brandenburger Kleist-Ausgabe, auf knapp 160 Seiten viele Information zu »Leben, Werk, Wirkung« bringt, sind ihm doch einige Flüchtigkeiten und Fehler unterlaufen, die bei einer zweiten Auflage korrigiert werden sollten. 2

[25] 

Amann skizziert unter der Überschrift »Sturz in die Moderne« einleitend »Kleists Modernitätspotential« (S. 8), das »in den Variationen einer Identitätskrise greifbar« sei, »die Leben und Werk zu einer paradoxen Einheit zusammenzwängt« (ebd.) Hierin trifft sich Amann beispielsweise mit der Studie von Herbert Kraft 3 , der das Thema Selbstbestimmung in seiner – in 52 kleine Kapitel untergliederten – Untersuchung in den Mittelpunkt stellt.

[26] 

Nach diesem Konsens der Forschung mit Kleist als visionärem Vorläufer der Moderne und »eigentlichem Blutsverwandten« (S. 9) von Franz Kafka widmet sich Amann, dem Anspruch der Suhrkamp-Reihe folgend in drei unterschiedlich langen Kapiteln »Leben« (S. 11–59), »Werk« (S. 61–124) und »Wirkung« (S. 125–141). Zahlreiche schwarz-weiß-Abbildungen sowie kommentierende und zusammenfassende Randglossen nebst hervorgehobenen Zitaten aus Briefen und Hinweisen von Zeitgenossen kommen dieser klaren Gliederung zugute und erleichtern zusätzlich die Orientierung.

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Historisch-chronologische Werk-Betrachtung

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Historisch chronologisch folgt Amann den Lebensspuren Kleists, unterteilt in sechs Abschnitte, während beispielsweise Bisky 4 sieben Lebensphasen ausmacht, was Amann in seiner Besprechung im Kleist-Jahrbuch 2010 unter der Überschrift »Im Wettkampf mit Kleist« (S. 239–246) als inkonsequent kritisiert, da sie weniger der ›inneren Biographie‹ als den äußeren Daten geschuldet seien.

[29] 

Den ersten Abschnitt widmet Amann der »Kindheit und Jugend in Preußen (1777–1799) (S. 11–18) mit den Unterkapiteln „Adel verpflichtet« –»Als Soldat im Dienst der preußischen Armee« –»Jahre verloren, Freunde gewonnen«. Der zweite Abschnitt gilt dem »Lebensplan (1799–1801)« (S. 18–26) mit der Studentenzeit in Frankfurt, der Verlobung mit Wilhelmine von Zenge, der Skizze der Halbschwester Ulrike (S. 20 f.) und der Ratgeberin Marie von Kleist, der geheimnisumwitterten Würzburger Reise (S. 22 f.) und der »Kant-Krise«, die ob nun Kant- oder Fichte-Krise jedenfalls eine Sprachkrise ist und für Amann zum Ausgangspunkt der Kleistschen Modernität wird: »Modern ist Kleists Werk, weil es kein unbeschwertes oder – in seiner Diktion – unschuldiges Verhältnis zur Sprache mehr besitzt. Wo die Sprachnot übermächtig erscheint, wird Sprache selbst, auch in ihrer Materialität als Schrift, zum Thema seiner Dichtung. Diese produktiven Dimensionen der Kant-Krise erschließen sich natürlich erst rückblickend. Die kantischen Motive dienten Kleist zur Objektivierung eines bis dahin nur unzureichend erfassten Zustands des Selbstzweifels. Ganz praktisch entzog er sich durch die Berufung auf seine philosophische Entdeckung aber auch allerlei Verpflichtungen« (S. 25), umreißt Amann die Probleme knapp.

[30] 

Kapitel 3 in der Skizze des Kleistschen Lebens gilt den »Aufbrüche(n) und Abbrüche(n) (1801–1804)« (S. 25–33), der »nomadische(n) Existenz eines besitzlosen Adligen« (S. 26), der das Reisen als Daseinsform pflegt und mit seinem Guiskard scheitert (S. 30 f.).

[31] 

Den vierten Lebensabschnitt Kleists überschreibt Amann mit »Staatsdiener, Dichter, Deportierter (1804–1807«) (S. 33–39) mit einem Kleist, der sich nach dem »persönlichen Zusammenbruch« (S. 33) zunächst »um Anschluss an eine in geordneten Bahnen verlaufende, bürgerliche Existenz bemüht« (ebd.). Kleist wird demnach bereits in Königsberg politisiert, zu einer Zeit, in der er »enorm produktiv gewesen sein muss« (S. 36), lassen sich in dieser Phase doch Spuren zum Zerbrochnen Krug, zum Amphitryon, zur Penthesilea, zum Erdbeben in Chili und nicht zuletzt zum Michael Kohlhaas finden. Nach der Gefangenschaft in Frankreich, der Entlassung und der Ansiedlung in Dresden folgt der fünfte Lebensabschnitt, von Amann mit »Kunst und Krieg (1807–1809)« (S. 40–49) überschrieben, stark geprägt vom Phöbus-Projekt, der Herrmannsschlacht, der politischen Lyrik und einem Kleist (mit Dahlmann) als Kriegstourist auf dem Schlachtfeld von Aspern.

[32] 

Der sechste und letzte Lebensabschnitt gilt den »Berliner Lektionen (1810–1811)« (S. 49–59), in deren Zentrum die Berliner Abendblätter und natürlich der Tod am Wannsee stehen.

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Literaturhistorische Einordnung

[34] 

Im zweiten Teil beleuchtet Amann nach einer literarhistorischen Einordnung des Werks als quer zu den Epochen stehend mit einer »Vielzahl sich überlagernder und durchkreuzender Diskursschichten« (S. 61 f.) chronologisch zunächst die Dramen (S. 62–95). Bereits die Ende 1802 anonym erschienene Familie Schroffenstein dominiert die »Unmöglichkeit sprachlicher Verständigung« (S. 63), das Drama erscheint als »›frühe Form einer Genre-Dekonstruktion‹«(S. 65) mit biblischen Anspielungen, »die als kulturkonstitutives Metanarrativ in nahezu allen Texten präsent« (ebd.) sind.

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Am Krug würdigt Amann unter anderem Kleists literarhistorisches Verdienst der »Rehabilitierung einer von Aufklärung und Klassik gleichermaßen vernachlässigten Tradition situativer Komik und subversiven Lachens.« (S. 69), während die Herrmannsschlacht nicht als »reines Propagandastück«, sondern als »Lehrstück über die Ausübung von Propaganda und über einen geschliffenen und überzeugten Propagandisten‘«(S. 89) und Prinz Friedrich von Homburg als das »umstrittenste« (S. 94) Stück Kleists erscheinen, da sich die »im Stück angelegten Sinnschichten (…) offenkundig gegenseitig relativieren« (ebd.). »Als letztes dramatisches Werk legt das Stück schließlich eine Deutungsperspektive nahe, in der Homburg als eine Reflexionsfigur Kleists selbst erscheint.« (S. 95)

[36] 

Kohlhaas diskutiert Amann als deutsche Symbolfigur ähnlich Faust, während er im Findling die Kehrseite der Aufklärungsideale von »Familie, Ehe, Kindheit, Mitleid, Aufrichtigkeit, Physiognomik und Erziehung« (S. 112) in Szene gesetzt sieht oder in den Essays »Umrisse einer kulturellen Anthropologie« erkennt.

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Nationale und nationalsozialistische Rezeption im Fokus

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Ein knapper Blick auf die Wirkungsgeschichte mit der Fokussierung auf die »nationale und nationalsozialistische Rezeption« (S. 126–128) und der Aufnahme Kleists in den »Avantgardebewegungen zwischen ca. 1880 und 1920« als »den Dichter der Umbruchzeit« (S. 129), dem Verweis auf Nietzsche und Kafka sowie markanten Stationen einiger »Kleist-Revisionen. Literatur, Bühne und Film« folgen ein allzu knapper Blick auf »Hörspiel und Musik« (S. 138 f.) und die »Forschung« (S. 139 ff.)

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Eine Zeittafel (S. 143–145) im Anhang, eine die wichtigste Literatur verzeichnende Bibliographie (S. 146–152) mit Hinweisen zu zentralen Internetseiten, auf die auch im Text immer wieder verwiesen wird, runden diese Basis-Biographie ab.

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Fazit

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Mit seiner kompakten Einführung in der Reihe C. H. Beck Wissen ist Hans Joachim Kreutzer ein ebenso souveräner wie stilistisch anspruchsvoller Parforceritt durch das Œuvre der Kleistschen Dichtung gelungen. Die Verdichtung auf knappem Raum, die konzise Betrachtung bringt auch dem Kleist-Kenner noch Neues, Anregendes. Für Kleist-Leser, die noch wenige Kenntnisse zu Werk, Dichter und Forschung mitbringen, dürfte die Kreutzersche Abhandlung an manchen Stellen vielleicht zu kompakt sein. Wilhelm Amanns leicht und schnörkellos geschriebene Einführung hingegen bedarf einer zweiten verbesserten Auflage, die die eingangs beschriebenen Mängel korrigiert.

 
 

Anmerkungen

*Die vorliegende Besprechung geht in weiten Teilen auf meine beiden Besprechungen in Ausgabe 8, August 2011, von literaturkritik.de zurück, URL: http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=15799&ausgabe=201108 sowie http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=15800&ausgabe=201108 (letzter Zugriff jeweils am 07.04.2012). Vgl. Günter Blamberger: Heinrich von Kleist. Biographie. Frankfurt/M. 2011, S. 356.   zurück
Darauf hat Klaus Müller-Salget in seiner Sammelbesprechung der Kleist-Bücher von Wilhelm Amann, Günter Blamberger, Anna Maria Carpi, Hans Joachim Kreutzer, Peter Michalzik und Hans-Jürgen Schmelzer in Zeitschrift für deutsche Philologie 4 (2011), S. 609–621 hingewiesen. So kommt Colino im Findling nicht bei seiner Rettungstat ums Leben (vgl. S. 113), sondern erst nach einem »dreijährigen höchst schmerzhaften Krankenlager«, wie es bei Kleist heißt. Richter Adam hat sich seinen Klumpfuß auch nicht »beim nächtlichen Fenstersturz zugezogen« (S. 67) und im Erdbeben in Chili werden auch nicht »beide zum Tode verurteilt« (S. 103). Die Familie Schroffenstein ist nicht in der Schweiz (S. 62) uraufgeführt worden, wie auch die zweimal aufgestellte Behauptung »erst ab Ende der 1960er Jahre« habe es in der Bundesrepublik »ein spürbar neues Interesse an Kleists Werk« gegeben (S.126, 133), unzutreffend ist. Sie liegt um zehn Jahre daneben. Wenngleich Amanns Einführung ansprechend aufgemacht ist, sollten Fehler und Flüchtigkeiten, wie die beschriebenen, bei einer neuen Auflage korrigiert werden, wie auch das eine oder andere Kleist-Zitat zu überprüfen ist.   zurück
Vgl. Herbert Kraft: Kleist. Leben und Werk. Münster 2007.   zurück

Vgl. Jens Bisky: Kleist. Eine Biographie. Berlin 2007. Vgl. hierzu auch meine Besprechung: Kleist, was denn sonst? Zwei neue Biografien und ein Sammelband widmen sich Kants »dunklem Zwillingsbruder«. In Ausgabe Nr. 12, Dezember 2007, literaturkritik.de unter URL: http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=11457 (letzter Zugriff am 07.04.2012).

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