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Rückblicke auf die Geschichte der Germanistik in Polen

  • Wojciech Kunicki / Marek Zybura (Hg.): Germanistik in Polen. Zur Fachgeschichte einer literaturwissenschaftlichen Auslandsgermanistik -18 Porträts. (Studia Brandtiana 3) Osnabrück: fibre 2011. 400 S. Kartoniert. EUR (D) 35,00.
    ISBN: 978-3-938400-56-2.
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Einführung

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Den beiden Germanisten Wojciech Kunicki und Marek Zybura von der Universität Breslau kommt das Verdienst zu, als erste in einer Geschichte der literaturwissenschaftlichen Germanistik in Polen Fragen aufgeworfen zu haben, die sich aus der besonderen politischen Situation dieser Philologie in Polen ergeben. Germanistische Lehre und Forschung, die bis auf wenige Ausnahmen im Nachkriegspolen erst seit Ende der 1950er Jahren aufgebaut wurde, waren hier nicht autonom, und polnische Germanisten konnten sich nur selten ausschließlich literatur- und sprachwissenschaftlichen Fragen zuwenden, ohne Rücksicht auf politische und historische Gegebenheiten nehmen zu müssen. Als Deutschlandexperten und Kulturvermittler trugen sie zum Verständnis eines Nachbarn bei, der gegenüber Polen über 150 Jahre lang eine feindliche Politik betrieben hatte und der im Falle der Bundesrepublik noch bis 1989 als politischer Gegner angesehen wurde. Nicht selten agierten sie im Rahmen der polnischen Deutschlandpolitik oder stellten sich sogar bewusst in deren Dienst. Den daraus erwachsenden Fragen von politischer Vereinnahmung und Opportunismus, ja sogar der »geheimpolizeilichen Durchdringung« (S. 11) des germanistischen Wissenschaftsbetriebes nach 1945 wenden sich die Herausgeber dieses Bandes als erste zu. Sie streben eine kritische Bestandsaufnahme und, wo nötig, Neubewertung der Leistungen der polnischen Germanistik an, daher haben fast alle Autoren der 18 Beiträge Dokumente unter anderem in Universitätsarchiven und dem Instytut Pamięci Narodowej (der polnischen Entsprechung der Gauck-Behörde) eingesehen. Den Herausgebern ist bewusst, dass ihre Publikation nur den Anfang einer kritischen Aufarbeitung der Geschichte der Germanistik in Polen bilden kann.

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Die einzelnen Beiträger, zu denen neben den Herausgebern so angesehene Germanisten wie Maria Kłańska und Karol Sauerland, aber auch jüngere Wissenschaftler wie Katarzyna Szadkowska gehören, erzählen die Geschichte der polnischen literaturwissenschaftlichen Germanistik nicht als Entwicklung einzelner germanistischer Institute oder mittels einer Darstellung dominierender Forschungsgebiete und methodischer Richtungen. Zwar wird dies mit berücksichtigt, es interessieren aber vielmehr die Persönlichkeiten, die das Profil der Germanistik in Polen seit 1918 bis in die 1990er Jahre geprägt haben. Dabei haben sich die Herausgeber dafür entschieden, nur bereits verstorbene Literaturwissenschaftler zu porträtieren. Deren Werdegang als Wissenschaftler wurde durch ihre besondere Stellung innerhalb der konfliktgeladenen deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte oft entscheidend und nicht selten auf tragische Weise geprägt.

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In deutsch-polnischen Konfliktfeldern

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Als der »bedeutendste Germanist Polens in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts« (S. 33) wird Zygmunt Łempicki (1886–1943) angesehen, in Deutschland auch als Sigmund von Lempicki bekannt. Wie die meisten seiner Kollegen, die nach der Wiedergründung des polnischen Staates 1918 und nach dem Zweiten Weltkrieg die Entwicklung der polnischen Germanistik bestimmten, hatte er seine wissenschaftliche Sozialisation bis hin zur Habilitation an den Universitäten in Lemberg (Lwów) und Krakau erfahren, die bis 1918 zum österreichischen Teil Polens gehörten. Nach dem Studium unter anderem bei Richard Maria Werner und der Promotion in Lemberg, ging Łempicki mit einem Stipendium nach Berlin und Göttingen, um sich dann 1916 an der Jagiellonen-Universität in Krakau zu habilitieren. Karol Sauerland weist in seiner Analyse des Werkes von Łempicki auf dessen innovatorische Aspekte hin. Er erinnert an Roman Ingardens Äußerung über Łempickis 1921 erschienene Schrift »Zum Problem der Begründung einer reinen Poetik«, dass sie eine »Vorwegnahme der Konzeption russischer Formalisten« und solcher Werke wie Wolfgang Kaysers Das sprachliche Kunstwerk gewesen sei und, »wenn sie in einer der Weltsprachen veröffentlicht worden wäre, wegweisend gewirkt hätte« (S. 44). Łempicki war aber nicht nur als Wissenschaftler und Hochschullehrer tätig, sondern auch Verfasser zahlreicher Theater- und Musikkritiken sowie von über 1000 Artikeln zu aktuellen Problemen, wobei die deutsch-polnischen Beziehungen und die Ereignisse in Deutschland selbstverständlich im Zentrum seines Interesses standen. Den Abschluss des deutsch-polnischen Nichtangriffsvertrages im Januar 1934 sah er als eine Chance zur besseren Verständigung mit dem Nachbarn an; demzufolge stellte er sich in den Dienst der deutsch-polnischen Annäherungspolitik. Er brach die Kontakte zu den Kollegen in Deutschland nicht ab und gab sogar 1938 zusammen mit Herbert Cysarz die Festschrift zum 60. Geburtstag von Julius Petersen heraus. Ein Jahr später, nach dem Einmarsch der Deutschen in Polen, wurde er verhaftet und kam nur dank seines Schülers Hans Fuhr frei, der allerdings bei der zweiten Verhaftung im Jahr 1942 nichts mehr für ihn tun konnte. Der große Kenner und Verehrer der deutschen Kultur Zygmunt Łempicki wurde in Auschwitz im Alter von 57 Jahren von eben diesen Deutschen in den Tod getrieben.

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Es ist nicht ausgeschlossen, dass er, wenn er den Krieg überlebt hätte, ähnlich wie Jan Piprek (1887–1979), einer der Begründer der Nachkriegsgermanistik in Breslau, in der Volksrepublik Polen als Nazikollaborateur denunziert und in seiner beruflichen Arbeit behindert worden wäre. Piprek wurde 1947 aufgrund seiner 1933 bis 1939 veröffentlichten Handbücher für den Deutschunterricht Nähe zu Nazideutschland vorgeworfen. Das Schicksal von Spiridion Wukadinović (1870–1938) zeigt zudem, dass schon vor 1945 Vorwürfe von zu großer Deutschfreundlichkeit das Ende der wissenschaftlichen Karriere als Germanist bedeuten konnten. Wukadinović hatte 1914 nach Wilhelm Creizenach den Lehrstuhl für Germanistik an der Jagiellonen-Universität übernommen und behielt ihn auch im wiedergegründeten polnischen Staat. 1932 wurde er zwangspensioniert, nachdem er auf den Goethefeierlichkeiten in Weimar einen Vortrag über Goethe gehalten hatte und von Hindenburg mit der Goethe-Medaille geehrt worden war.

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Eine weitere Loyalitätsfalle eröffnete sich polnischen Germanisten nach 1945, wenn sie zu den in Schlesien, Pommern, Łódź, im Ermland und in den Masuren lebenden sogenannten Autochthonen mit deutsch-polnischem oder sogar nur deutschem Familienhintergrund gehörten. Es lag nahe, dass junge Menschen mit diesen kulturellen Wurzeln sich besonders häufig für das Studium der Germanistik entschieden. Auch unter den germanistischen Wissenschaftlern waren sie überdurchschnittlich stark vertreten. Gerade dies aber war den politischen Funktionären ein Dorn im Auge oder wollten diese für ihre politischen Zwecke ausnutzen. Germanisten mit (teilweiser) deutscher Abstammung mussten ihre politische Zuverlässigkeit oft im besonderen Maße, zum Beispiel durch den Eintritt in die Partei, beweisen. Der aus einer deutschen Arbeiterfamilie in Konstantynów bei Łódź stammende Arno Will (1905–1983) konnte laut Wojciech Kunicki durch sein bereits vor 1945 nachweisbares linkes Engagement das »Verbleiben in Polen und auch seine Arbeit an der Lodzer Universität legitimieren« (S. 195). Dass er noch nach 1956 und selbst in den 1970er Jahren marxistische Thesen vertrat, erklärt Kunicki damit, dass »die unbedingte Hörigkeit und Anpassung an die erwünschte Ideologie von einem Lodzer Deutschen […] als existentiell wichtig empfunden wurde«. Nur durch diesen Legitimierungszwang lasse es sich auch erklären, dass Will als deutscher Muttersprachler so wenig auf Deutsch veröffentlicht hat.

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Aber auch jemand wie Ryszard (Richard) Ligacz (1903–1982), der bereits vor dem Zweiten Weltkrieg für Polen optiert, sich 1921 am Dritten Polnischen Aufstand in Oberschlesien beteiligt und sich während des Krieges geweigert hatte, die Deutsche Volksliste zu unterschreiben, ja sogar in der Armia Krajowa im Untergrund gegen die Deutschen gekämpft hatte, wurde nach 1945 aus politischen Gründen in seiner beruflichen Arbeit behindert und vom polnischen Sicherheitsdienst beobachtet. Aus den Forschungen zum schlesischen Barock, dem Schwerpunkt der Breslauer Germanistik, wurde Ligacz mit seinen Arbeiten wegen »klassenfeindlicher« Vergangenheit ausgeschlossen.

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Ein Musterbeispiel für das zwiespältige Verhältnis von polnischen Deutschlandexperten zu ihrem Forschungsgegenstand, für das Zusammenfallen von Interesse und intimer Kenntnis der deutschen Kultur auf der einen und eifriger Kritik und in Nuancen sogar feindseligen Haltung zur ihr auf der anderen Seite ist der in Oberschlesien geborene Wilhelm Szewczyk (1916–1991). Er beeinflusste als Publizist, Literaturfunktionär und Politiker (er war Parlamentsabgeordneter) noch stärker als Germanisten den Diskurs über die deutsche Kultur, unter anderem in seiner einst bekannten Rubrik »Co robią Niemcy« (Was machen die Deutschen), die von 1945 an zunächst in der Zeitschrift »Odra«, später, bis in die 1980er Jahre hinein, in der Wochenzeitung »Życie literackie« (Die Literarische Welt) erschien. Kunicki zeigt an der Entwicklung von Szewczyk Kontinuitätslinien des polnischen nationalistischen Denkens auf, vor allem die Koinzidenz zwischen dem nationaldemokratischen Deutschlandbild der Vorkriegszeit und dem kommunistisch geprägten Deutschlanddiskurs nach 1945, in dem sich die Dichotomie einer »reaktionär-faschistoiden«, und einer »humanistisch-progressiven« deutschen und auch schlesischen Literatur positionieren ließ.

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Einer der bis heute bekanntesten polnischen Germanisten der Nachkriegszeit war Marian Szryocki, »eigentlicher Schöpfer und bis heute einflussreichster Vertreter der Breslauer Nachkriegsgermanistik« (S. 339). Mit seiner Einführung in die deutsche Literatur des Barock fand er, wie sein Schüler Marek Zybura schreibt, »zu einem breiten (vornehmlich studentischen) deutschen Lesepublikum, wie kein polnischer Germanist vor ihm« (S. 351). Auch die Fülle der Anerkennungen in Deutschland (unter anderem die Mitgliedschaft in der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, die Auszeichnungen mit der Goethe-Medaille 1963, dem Gundolf-Preis 1976 und dem Grimm-Preis 1989) bedeuten für einen polnischen Germanisten eine ungewöhnlich hohe Anerkennung. Marek Zybura erklärt das Geheimnis dieses Erfolges: Szyrocki habe seine germanistische Laufbahn zielgerichtet und konsequent auf der Tatsache aufgebaut, dass die deutschen Germanisten durch die Grenzziehung nach dem Zweiten Weltkrieg von den Handschriften und Drucken der schlesischen Literatur des 17. Jahrhunderts abgeschnitten worden waren und den Zugang nur über die polnischen Kollegen in Breslau erhalten konnten. Hierin, in dem so geknüpften Beziehungsnetz, das er auch für die Edition großer Leseausgaben von Andreas Gryphius und Daniel Czepko nutzen konnte, 1 sieht Zybura die Grundlage für Szyrockis »phänomenale Karriere«, weniger dagegen in einer originären wissenschaftlichen Leistung. Inwieweit Szyrockis Karriere auch durch den polnischen Sicherheitsdienst begünstigt und befördert wurde, in dessen Departement für Zivilspionage Szyrocki von 1960 bis 1985 als »operativer Kontakt« geführt wurde, ist leider (noch?) nicht im einzelnen zu klären, denn die Berichte Szyrockis wurden in der Solidarność-Zeit 1980 vom Sicherheitsdienst vernichtet. Diesem lag selbstverständlich vor allem daran, dass Szyrocki seine westdeutschen Kollegen abschöpfte und beobachtete, sie eventuell auch in ihren Entscheidungen beeinflusste.

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Frauen in der Wissenschaft

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Die Lektüre des Szyrocki-Porträts wirkt umso bedrückender, wenn man sich vor Augen hält, wie schwer es Elida Maria Szarota (1904–1994), eine wirkliche Gelehrte und Kennerin der europäischen Literatur des 17. Jahrhunderts, hatte, innerhalb der polnischen Germanistik Anerkennung zu gewinnen. Szarota studierte klassische Philologie und Romanistik an der Sorbonne und in Frankfurt am Main, wo sie 1933 bei Erhard Lommatsch ihre Dissertation über die Marienlyrik von Gautier de Coincy (1177–1236) verteidigte. 1937 ging sie nach Warschau, um hier als Lehrerin zu arbeiten. Die ersten Niederschriften für ihre Habilitationsschrift verbrannten während des Krieges. In den 1950er Jahren entschloss sie sich, eine germanistische Habilitationsarbeit zu verfassen und erwirkte dafür einen mehrmonatigen Studienaufenthalt in der DDR. Im März 1957 habilitierte sie sich an der Humboldt-Universität über Lessings Laokoon. Wie Karol Sauerland, Schüler von Elida Maria Szarota, schreibt, dauerte es drei Jahre, ehe die volkspolnischen Behörden diese Habilitation anerkannten. Als 1960 an der Warschauer Universität endlich ein Lehrstuhl für Germanistik eröffnet wurde, erhielt Szarota den Titel einer Dozentin und damit alle Professorenrechte. Die Leitung des neuen Lehrstuhls übernahm Thomas Höhle aus der DDR, obgleich Szarota laut Sauerland die kompetenteste Wissenschaftlerin war, die für eine Leitung in Frage gekommen wäre. In den 1960er Jahren begann sie sich als Forscherin des europäischen Barock unter anderem mit Studien zum Märtyrerdrama und zu Lohensteins Arminius auszuweisen; zu ihrem Oeuvre zählen eine Edition von europäischen Reiseberichten über das Polen des 17. Jahrhunderts und die Ausgabe Das Jesuitendrama. Eine Periochen-Edition. Im Alter von über achtzig Jahren veröffentlichte sie 1987 ihr letztes Buch über die Frauenfiguren im europäischen Drama des 17. Jahrhunderts. Sauerland bedauert es, dass sie so spät in die Wissenschaft kam, dass sie »erst einmal um ihr eigenes Fortkommen kämpfen musste […] und daher nicht so etwas wie eine europäische Komparatistik des 17. und frühen 18. Jahrhunderts schaffen konnte, denn im Grunde genommen war dies ihr Forschungsbereich« (S. 190). Ob sie sich in ihrer Hinwendung zu dieser Literaturepoche auch durch die Breslauer Barockforschungen herausgefordert fühlte, bleibt offen.

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Wie schwer es für Frauen war, sich im Wissenschaftsbetrieb durchzusetzen, zeigt auch das Porträt von Zofia Ciechanowska (1896–1972), die 1914–1918 in Wien und Krakau Germanistik studiert hatte und 1924 mit einer Arbeit zur Goethe-Rezeption in Polen promovierte, danach als Bibliotheksangestellte und Dozentin an der Jagiellonen-Universität, in den 1950er und 60er Jahren kurz an der Katholischen Universität in Lublin tätig war. Auch sie arbeitete komparatistisch, vor allem zu den deutsch-polnischen Literatur- und Kulturbeziehungen am Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts; dabei stellte die polnische Romantik für sie den entscheidenden Bezugspunkt dar. Laut Katarzyna Szadkowska versuchte sie in ihrer ungeschriebenen Habilitation »etwas Unmögliches – eine monographische Darstellung von Goethes Schaffen für den polnischen Leser und eine Synthese der Goethe-Rezeption in der polnischen Kultur«, um zu zeigen, wie »der literarische Geschmack und seine Änderungen, die philosophischen Interessen sowie die Geschichte einer Nation sich in der Aufnahme der anderen Kultur gegenseitig erhellen« (S. 149). Ciechanowska habe mit Editionen und Aufsätzen große Verdienste als Mittlerin im deutsch-polnischen Kulturtransfer, sei aber »als Germanistin nie entsprechend ihren Möglichkeiten eingesetzt« worden (S. 150).

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Von den vier porträtierten Wissenschaftlerinnen hatte Olga Dobijanka-Witczakowa (1921–2006) die einflussreichste Position innerhalb der polnischen Germanistik. Die hoch geehrte akademische Lehrerin und Vermittlerin deutscher Literatur war von 1969 bis 1994 Leiterin der Abteilung für Deutsche Literatur zunächst am Lehrstuhl, dann ab 1974 am Institut für Germanische Philologie der Jagiellonen-Universität Krakau. Von ihrem Ansehen zeugt auch, dass sie von 1975 bis 1989 Mitglied im Vorstand (Vizevorsitzende und Vorsitzende der Sektion Literatur) der Bilateralen Germanistenkommission DDR – VR Polen war.

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Maria Kofta (1914–1992), eine seit ihrer Jugendzeit in den 1930er Jahren aktive Kommunistin, arbeitete von 1952 bis 1964 in Posen, danach in Łódź, beide Male in leitenden Positionen. Ihre wissenschaftlichen Publikationen sind von eher geringem Wert, dagegen war sie mit ihrer Inspirations- und Begeisterungsfähigkeit, ihrem temperamentvollen Stil unter Studenten sehr beliebt; sie lud Persönlichkeiten wie Hans Mayer, Hermann Buddensieg, Claudio Magris nach Polen ein und nahm großen Einfluss auf den germanistischen Nachwuchs (zu ihren Doktoranden gehört unter anderem Hubert Orłowski).

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Das Jahr 1968

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Auch in der Germanistik blieb die antisemitische Kampagne des Jahres 1968 nicht ohne Auswirkungen. So geriet Maria Kofta wegen ihres jüdischen Ehemannes unter Druck (ihr Büro wurde untersucht, angeblich fehlten Möbel und Bücher) und sie wurde gezwungen, die Lehrstuhlleitung in Łódź niederzulegen (sie leitete die Germanistik dann erneut von 1975 bis 1979). Andere, wie Michał Cieśla (1907–1997), profitierten von den Ereignissen und erhielten ohne Habilitation den Professorentitel zuerkannt. Emil Adler (1906–1997) Autor der ersten polnischen Herder-Monographie (1961) und Gründer des Herder-Museums in Morąg (Mohrungen) musste wegen seiner jüdischen Herkunft Polen im Alter von 62 Jahren verlassen. Er ließ sich in Göttingen nieder, wo er zusammen mit Hans Dietrich Irmscher den Katalog des Handschriftlichen Nachlasses von Herder bearbeitete. In der Begründung des Antrags zu seiner Aufnahme in die Göttinger Akademie der Wissenschaften im Jahr 1984 heißt es, dass er mit seinen »Kenntnisse[n] nicht nur der Literatur, sondern der Philosophie und nicht zuletzt der jüdischen und protestantischen Theologie« und seiner »umfang- und entsagungsreiche[n] Arbeit« wesentlich dazu beigetragen habe, die Herder-Forschung international »auf neue Grundlagen« zu stellen (S. 226).

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Schwerpunkte der Forschung und Literaturvermittlung

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Wirft man einen Blick auf die Forschungs- und Editionstätigkeit polnischer Germanisten der hier porträtierten älteren Generation, dann fällt auf, dass der Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts, dem Barock, der Aufklärung und der Klassik, besondere Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Obwohl sich die polnische Germanistik stark an der DDR-Germanistik orientierte, übernahm sie nicht deren (bis in die 1970er Jahre) negatives Romantikbild, was mit dem Wertschätzung der polnischen Romantik zusammenhängt. Autoren des 19. und 20. Jahrhunderts, mit denen sich die hier vorgestellten Germanisten bevorzugt beschäftigten, waren Kleist, Heine, Hebbel, Keller, Thomas und Heinrich Mann sowie die allerdings in diesem Band kaum erwähnten Schriftsteller der DDR. An der Breslauer Germanistik bildete die schlesische Literatur seit den fünfziger Jahren einen Forschungsschwerpunkt, wobei der Akzent auf der von Zdzisław Żygulski (1888–1975) – neben Jan Piprek einer der Gründungsväter der Breslauer Germanistik – initiierten und von seinem Schüler Marian Szyrocki fortgeführten Barockforschung lag. Neue theoretische und methodologische Fragen versuchten nur wenige Germanisten wie Łempicki und Ciechanowska aufzuwerfen.

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Ein originäres Forschungsgebiet der germanistischen Literaturwissenschaft in Polen ist die Untersuchung deutsch-polnischer Literaturbeziehungen: Vergleiche, intertextuelle Beziehungen, Rezeptionsforschung, gegenseitige Wahrnehmungen, Kulturtransfer. Dass die polnische Germanistik vor allem die deutsch-polnischen literarischen, kulturellen und sprachlichen Beziehungen erforschen solle, postulierte der Linguist Adam Kleczkowski bereits 1936, und bis heute sieht die polnische Germanistik darin einen ihrer Schwerpunkte. Der in Posen tätige Jan Berger (1889–1957) verfasste 1952 einen richtungweisenden Aufsatz zur deutschen Polenlyrik nach dem Novemberaufstand. Der ebenfalls in Posen wirkende Jan Chodera (1915–1975) stellte laut Jerzy Kałążny mit seiner Monographie Deutsche nationalistische Polenliteratur zwischen den beiden Weltkriegen »Weichen für die literaturwissenschaftliche, auf Fremdstereotype und Feindbilder konzentrierte Imageforschung« (S. 273). In Breslau dominierte dagegen laut Kunicki eher »[d] die Suche nach den positiven Seiten der kulturellen deutsch-polnischen Beziehungen« (S. 103). Großen Einfluss hatte hier Zdzisław Żygulski, dessen Schüler Eugeniusz Klin, Arno Will und vor allem Gerard Koziełek sich mit Polenbildern in der deutschsprachigen Literatur und mit der deutschen Polenliteratur beschäftigten.

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Wertung und Ausblick

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Der von Kunicki und Zybura herausgegebene Band erzählt nicht nur vom Aufbau der verschiedenen regionalen Germanistiken im Nachkriegspolen, er analysiert nicht nur Schwerpunkte der Forschung und Lehre, sondern er zeigt auch, dass ein großes Verdienst der polnischen Germanisten der älteren Generation in der engagierten Vermittlung deutscher Literatur in Polen in der akademische Lehre, durch grundlegende Editionen und wissenschaftliche Publikationen bestand. Ihnen und den von ihnen ausgebildeten Deutschlehrern ist es ganz wesentlich zu verdanken, dass die deutsche Literatur und Kultur nach einer Zeit fast gänzlicher Ablehnung in Polen allmählich wieder an Ansehen gewann und Deutsch heute nach Englisch die populärste Fremdsprache ist.

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Die Qualität der einzelnen Ausätze ist naturgemäß sehr unterschiedlich. Neben den analytischen Perspektiven von Sauerland, Smereka und Szadkowska, den Diskussionen bestimmter Fragen in den Aufsätzen von Kunicki und Zybura stehen auch eher beschreibende Würdigungen. Die Lektüre wird in einigen Aufsätzen leider nicht nur durch Druckfehler behindert, es fallen auch inhaltliche Ungenauigkeiten auf wie die, dass der bekannte Soziologe Jerzy Szacki Polen 1968 verlassen habe oder Wolfgang Harich sein Reformprogramm einerseits nach dem 17. Juni 1953 entwickelt, andererseits darin Ende der 1950er Jahre durch polnische Intellektuelle beeinflusst worden sein soll (tatsächlich fällt beides in das Jahr 1956). Leserfreundlich wäre auch eine ausgewählte Bibliographie von Arbeiten der im Band vorgestellten Germanisten gewesen. Diese kritischen Anmerkungen schmälern aber keineswegs das Verdienst, mit diesem Band mutig und fundiert einen kritischen Rückblick auf die Geschichte der literaturwissenschaftlichen Germanistik in Polen gewagt zu haben.

 
 

Anmerkungen

Andreas Gryphius: Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke. hg. v. Marian Szyocki / Hugh Powell. 8 Bde. Tübingen: De Gruyter 1963–1972; 1987 Ergänzungsband 2.1/2.2; Daniel Czepko: Sämtliche Werke, hg. v. Marian Szyrocki / Gert Roloff unter Mitarbeit von Ulrich Seelbach. 7 Bde. Berlin / New York: De Gruyter 1980–1988.    zurück