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Die Romantik - auch ein Weg des Adels in die Moderne

  • Jochen Strobel: Eine Kulturpoetik des Adels in der Romantik. Verhandlungen zwischen ‚Adeligkeit‘ und Literatur um 1800. (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 66) Berlin, New York: Walter de Gruyter 2010. XIII, 479 S. Gebunden. EUR (D) 119,95.
    ISBN: 978-3-11-022939-4.
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Einleitung

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Seit einigen Dekaden beschäftigt sich die Geschichtswissenschaft mit der Frage, wie es dem europäischen Adel gelang, sich angesichts des gesamtgesellschaftlichen Umbruchs zur Moderne im 18. Jahrhundert weiterhin als soziale Elite zu behaupten, ohne sich durch das Bürgertum verdrängen zu lassen oder in einen Prozess der »Verbürgerlichung« einzutreten. Man kann die Gründe dafür einerseits darin suchen, dass die Moderne nicht mit dem Abstieg der adligen und dem Aufstieg der bürgerlichen Schicht gleichgesetzt werden kann, sondern mit der prinzipiellen Umstellung von einer Ständegesellschaft auf eine funktional differenzierte Gesellschaft. 1

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Die Orientierung an Funktionen ließ soziale Spielräume entstehen, die eine Anpassung des Adels an die Moderne ermöglichte. Andererseits spielte das symbolische Ordnungs- und Machtpotential des Adels eine Rolle, das sich über faktische Machtverluste hinaus erhalten konnte. Und nicht zuletzt war durch revolutionäre Ideen allein eine stabile gesellschaftliche Ordnung jenseits der Ständegesellschaft nicht schnell genug zu erringen. Denn nur zu bald nach dem Schock der Französischen Revolution wurde offensichtlich, dass sich die Abschaffung der Ständegesellschaft und das naive Ideal einer auf Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit beruhenden Gesellschaft nicht dauerhaft und vor allem nicht gewaltfrei durchsetzen ließen. Auch wenn der Adel in Frankreich vorübergehend seinen Stand und so manchen Kopf einbüßte, auch wenn auf deutscher Seite die Legitimität des Adels heftig bestritten und ebenso vehement verteidigt wurde, auch wenn die Lage in Europa durch Kriege zwischenzeitlich außer Kontrolle geriet: Spätestens mit dem 1815 abgehaltenen Wiener Kongress wurde die europäische Situation wieder nachhaltig zu Gunsten des Adels stabilisiert.

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Woran Historiker also schon seit geraumer Zeit arbeiten, nämlich eine in Bezug auf das Verhältnis von Adel und Bürgertum differenzierte Sicht der postrevolutionären Gesellschaft Europas zu entwerfen, holt Jochen Strobel nun mit der vorliegenden Studie für die Literaturwissenschaft nach: Er legt die strikt bürgerliche Optik ab, mit der die Ausdifferenzierung des Literatursystems um 1800 immer noch betrachtet wird. Vor dem Hintergrund der geschichtswissenschaftlichen Forschung kann er stattdessen allgemein formulieren: »›Adel‹ ist kein beliebiges ›Thema‹ der Literatur um 1800« (S. 27).

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Strobels Interesse gilt dabei den zumeist adligen oder adelsaffinen Autoren der Romantik: »Ein Ziel dieser Arbeit ist es, überzeugend darzulegen, dass ›Adeligkeit‹ kein beliebiger Kontext der Literatur der Romanik sei« (S. 36). Strobels Argumentation gegen die bürgerliche Verzerrung führt erfolgreich zu einer geschichtswissenschaftlich angemessen differenzierenden Sicht auf die Literatur der Romantik und zur Freilegung der darin etablierten Adelssemantik.

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Diese Semantik ist nach Strobels Auffassung von bestimmten historischen Zäsuren abhängig: Denn nach der Revolution 1789 tendierten Adlige wie Novalis oder die Schlegels durchaus zu einer adelskritischen Haltung und sympathisierten sogar mit grundlegenden Reformen. Spätestens nach der Niederlage der Koalition gegen Napoleon und der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches im Jahr 1806 ändert sich dies. Nun wird in den Texten der Romantiker eine Semantik des Adels virulent, die auf ein stabiles »Set an Bedeutungsmerkmalen« (S. 3) rekurriert. Am Anfang der Studie steht die These, »dass die Literatur aus ureigenstem Interesse den Weg zur Neufunktionalisierung einer scheinbar bereits abgelebten Kultur beschreitet und damit zur Stabilisierung dieses kulturellen Paradigmas beiträgt« (S. 39).

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Es ist jedoch nicht die Literatur, sondern es sind vor allem die adligen Autoren, die nach Strobels Auffassung ihre eigene existenzielle Gefährdung literarisch reflektieren und in der Entwicklung ästhetischer Gegenstrategien zur Ausdifferenzierung eines autonomen literarischen Feldes beitragen. Da man seit 1815 mit dem Wiener Kongress eine Stabilisierung der politischen und sozialen Situation erreichte, ist die Textauswahl des Bandes auf die historische Entwicklung abgestimmt: »Aus den Jahren zwischen 1806 und 1817 stammen die meisten der in dieser Monographie untersuchten Texte«. (S. 418). Denn 1817, zwei Jahre nach dem Wiener Kongress, war der Streit um die französische Hegemonie in Europa vorerst beendet und der für den Adel unvermeidbar gewordene »Kampf ums ›Obenbleiben‹«(ebd.) in restaurativ geordnete Bahnen gelenkt.

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Aufbau

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Die Studie setzt sich aus drei großen Teilen zusammen. Zunächst baut Strobel im ersten Teil die »Grundlagen« seines Projekts auf: Er führt die Begriffe ein, stellt die Methode(n) vor und erläutert ausführlich den Plan des Buches. Im zweiten und dritten Teil verfährt der Autor anwendungsorientiert: Der zweite Teil, »Historische Semantik und Literatur« überschrieben, liefert Analysen zu bekannten Werken der Romantik. Strobel identifiziert in den Texten die zur Adelssemantik gehörenden Bedeutungsmerkmale wie »Ritterschaft«, »Genealogie«, »Spiel« und »Anökonomie«. Die Werke werden historisch kontextualisiert, um zu verdeutlichen, inwiefern in ihnen den historischen Entwicklungen mit einer speziellen Adelssemantik begegnet wird. Im dritten Teil »Adel und Feld« wird der Habitus einiger romantischer Autoren untersucht und auf deren Position im literarischen Feld bezogen.

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Methodischer Zugriff

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Das von Strobel begonnene Projekt verlangt ein hohes strategisches Vermögen, um durch die Kombination mehrerer Methoden und Diskurse den angestrebten »Indizienbeweis« der aufgestellten These durchführen zu können (S. 415). Mit einer rein literarischen Textanalyse könnte dieses Ziel nicht erreicht werden. Strobel greift daher auf den New Historicism und die von Bourdieu entwickelten Theorien des Habitus und des Feldes zurück.

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Der New Historicism bettet die Literatur in das Ganze der Kultur ein. Die Literaturwissenschaft muss demnach verstehen, wie sich in dem umfassenden »Zeichensystem […], das eine gegebene Kultur konstituiert«, die Literatur als ein spezieller Modus der Kultur herausbildet. Das Ziel des New Historicism ist »eine Poetik der Kultur« (auch: Kulturpoetik). Die Studie Strobels entlehnt dieser Theorie ihren Titel, wenn sie sich »Eine Kulturpoetik des Adels in der Romantik« nennt. Gekennzeichnet wird der New Historicism durch das von Stephen Greenblatt entwickelte Modell der Zirkulation sozialer Energie, 2 welches die künstlerische Mimesis nur im Kontext von gesamtkulturellen Austauschprozessen ansiedeln will.

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Strobel setzt eine solche Zirkulation in Form von »semantischen Austauschprozessen« (S. 38) voraus, verengt sie jedoch etwas dogmatisch auf eine »Korrespondenz«: »Das Symbolsystem Literatur korrespondiert intertextuell zweifellos mit der Semantik zeitgenössischer nichtliterarischer Texte, dem ›Wissen‹, das diese enthalten […]« (S. 29). Laut Strobel »hätte die Semantik der Adeligkeit um 1800 eine wahrhafte transdisziplinäre Text-Kontext-Studie verdient« (S. 38), doch betreibt er zugunsten der ausführlichen Betrachtung von »Höhenkammtexte[n]« der Literatur letztlich nur wenige Text-Kontext-Studien.

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Soziologisch wird die Studie durch den Anschluss an Pierre Bourdieus Theorie des Feldes und des Habitus untermauert.

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Die vorgestellten Autoren der Romantik sind Erben, in deren Habitus Dispositionen enthalten sind, welche auf Voraussetzungen der adeligen Standeskultur basieren. Auch die Sprößlinge der verarmten oder verarmenden Häuser Arnim, Kleist, Fouqué und Eichendorff sind geprägt durch im Elternhaus erlernte Verhaltensweisen […]. (S. 408)
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Die Rekonstruktion des Habitus erfolgt jedoch nur, um dessen möglichen Einfluss auf die Positionierung der romantischen Autoren als Akteure im literarischen Feld zu verstehen.

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Möglicherweise um der Komplexität des wissenschaftlichen Zugriffs zu begegnen, »bekennt« sich der Autor abseits aller Methodenarchitektur zur Hermeneutik, dem Anliegen, »die Entdeckungen adliger Semantik im fiktionalen Text für dessen verstehende Lektüre fruchtbar [zu] machen« (S. 28). Das klingt zwar sympathisch, bleibt jedoch ein wenig diffus. Nicht nur in dem trivialen Sinne, dass man ja annehmen müsste, alle literaturwissenschaftlichen Methoden zielten auf ein Verstehen von Texten ab oder beförderten es zumindest, sondern weil die gewählten Methoden weniger die Literatur, sondern die Kultur in den Blick nehmen. »Dabei soll Adels-Kultur aus Texten rekonstruiert werden« (S. 29), heißt es demgemäß auch bei Strobel.

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Adel, ›Adel‹, ›Adeligkeit‹

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Vom ersten Kapitel »Adel und Adelssemantik um 1800« an stellt der Autor eine weitreichende Kenntnis der relevanten historischen Studien zur Erforschung des Adels unter Beweis. Er referiert die einzelnen Positionen und setzt sich mit ihnen auseinander. Dies zeugt von der wissenschaftlichen Gewissenhaftigkeit des Autors, sich des in anderen Fächern gelegten Fundaments für seine eigenen Ausführungen zu bemächtigen und die adaptierten Begriffe reflektiert zu handhaben. Die Grundunterscheidung des Buches ist die zwischen Adel und ›Adel‹:

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›Adel‹ bezeichnet ein bis heute immer wieder neu verhandeltes, in die Kultur und ihre Texte eingebundenes semantisches Feld, das jedoch zugleich auf ein stabiles Set an Bedeutungsmerkmalen zurückzuführen ist. Anders als die Bewertung des Adels, verstanden als sozialer Schicht, scheint die Vorstellung davon, was unter dem ›Adeligen‹ zu verstehen sei, auch durch die Zäsur der Französischen Revolution nicht erschüttert worden zu sein. (S. 3)
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Dennoch geht es nicht darum, eine ungebrochene Kontinuität von Adelskultur auszumachen, sondern der Autor will »die Frage einer Umcodierung und Neusemantisierung dessen, was den politischen, aber auch den kulturellen Stellenwert des Adels ausmachte« diskutieren (S. 3). Er konstatiert hier eine Wechselwirkung: Der Adel erwies sich nach der Französischen Revolution als »politisch und sozial zunehmend gefährdet«, woraus sich erklärt, dass »die Semantik des Adels in den symbolischen Medien des beginnenden 19. Jahrhunderts nicht nur sehr präsent [war], sondern […] auch gewichtigen Anteil an kulturellen Hybridisierungsvorgängen« hatte. Dies hatte die »Wiederaufnahme der Semantik und deren Neucodierung in der literarischen Hochkultur […]« (S. 3 f.) zur Folge.

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Mitunter lässt sich der Autor zu begrifflichen Spitzfindigkeiten verführen. Während die Unterscheidung von Adel und ›Adel‹ klar nachvollziehbar ist, wird es schwieriger, wenn Strobel das Konzept ›Adeligkeit‹ einführt. So schreibt er: »Was ich im Folgenden stets als die ›Semantik‹ der Adeligkeit bezeichne, geht über den Begriff im engeren Sinn hinaus […]« (S. 16). Es erschließt sich nicht ganz, weshalb ›Semantik‹ nun auch in einfache Anführungszeichen gesetzt ist.

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Zu Recht bemängelt Strobel, sich auf Gumbrecht beziehend, an dem Eintrag »Adel« in den Geschichtlichen Grundbegriffen, dass dieser »die bildliche, ja literarische Dimension des ›Adeligen‹, mit den in einem langen Zeitraum sich herauskristallisierenden De- und Konnotationen ausklammert« (ebd.). Im Folgenden setzt er dann ›Adeligkeit‹ mit Adelskultur gleich:

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Der Begriff der Adelskultur oder der ›Adeligkeit‹ ermöglicht aber den Sprung von dem streng rechtlichen und lexikalischen Begriff zur Assoziationsbreite, die Kultur zu bieten hat – und deren Niederschlag eben auch literarische Texte sind, welche sich jene Semantik zunutze machen. (Ebd.)
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Da jedoch ›Adel‹ vorher bereits als »semantisches Feld« und »kulturelles Konzept« definiert wurde, ist nun freilich nicht mehr klar, was der Begriff ›Adeligkeit‹ hier konkret leisten soll.

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Begriffliche Unklarheit ist auch ein Grund, weshalb das zweite Kapitel des ersten Teils »›Politische Romantik‹ und Adelskritik« nur schwer zugänglich ist. Der Autor gibt keine Definition des Begriffs »Politische Romantik«, zudem handhabt er die Anführungszeichen und die Schreibweise inkonsistent (S. 41, 57). 3 Es fällt in diesem Kapitel zudem auf, dass der ansonsten sehr um geschichtswissenschaftlich abgesicherte Differenzierung bemühten Argumentation die homogene Vorstellung einer »historischen Zäsur von 1806« (S. 41) entgegensteht. Hier wären erstens regionale Unterschiede zu berücksichtigen, und zweitens müsste der Frage nachgegangen werden, ob die Zäsur für den niederen Adel, aus dem die Mehrzahl der adligen romantischen Autoren stammte, eine andere Relevanz hatte als für den Hochadel.

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Historische Semantik – Erfindung oder Wirklichkeit?

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Vom Material- und Ideenreichtum des zweiten Teils lässt sich hier kaum ein angemessener Begriff geben. Kurz gefasst: Bekannte Werke der Romantik werden mit Erfolg auf die in ihnen etablierte Adelssemantik neu gelesen. Der in den »Grundlagen« vorgestellte Plan der Text-Kontext-Studien im Sinne des New Historicism wird hier konsequent umgesetzt. Ob Strobel sich mit Ritterschaft, Genealogie, Spielen oder Entökonomisierung vs. Ökonomisierung beschäftigt, nie gerät die Suche nach den Bedeutungsmerkmalen zu einem mechanischem Abklopfen der Texte.

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Bemerkenswert ist auch, dass er in jeder Hinsicht an den aktuellen Stand der Forschung anzuschließen und diesen aktiv voranzutreiben sucht, egal ob es um Fouqués Zauberring, Eichendorffs Ahnung und Gegenwart, Arnims Gräfin Dolores, Hoffmanns Die Elixiere des Teufels, Tiecks Der junge Tischlermeister, Kleists Novelle Der Zweikampf oder andere Werke geht. In jedem Kapitel werden mehrere Texte besprochen, um einen Vergleich zu ermöglichen und zugleich den Beweis zu erbringen, dass die Merkmale nicht singulär, sondern in mehreren Texten gestreut sind.

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Vertrackt ist nun allerdings die Frage nach der Wirklichkeit oder Fiktion der in den Texten ausgemachten Bedeutungsmerkmale. Gab es, wie Heinz Reif meint, »ein vormoderne[s] Substrat von Adel, das dieser in den Wandel des 19. Jahrhunderts einbrachte« (S. 25)? Oder wurde dieses Substrat erst in den Texten erschaffen? Die Frage: Handelt es sich um ein reales Altes oder ein fiktives Neues, wird vom Autor paradox beantwortet: um beides zugleich. Die Literatur habe sowohl »das Wissen über den Adel weitertradiert« als auch aktiv »verfertigt« (S. 30). Diese Paradoxie wird jedoch nur konstatiert und leider nicht erklärt. Zusätzlich wird die Situation durch Erkenntnisse der Geschichtswissenschaft erheblich verkompliziert. Am Ende des Buches heißt es überraschend:

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Die romantischen Experimente mit der Adelskultur entwerfen vielstimmig einen Adel, den es so politisch vormodern und so ästhetisch modern nie gegeben hatte und auch nach 1800 nicht gab. Zumindest widersprechen die Rekonstruktionen der Historiker des 20. und 21. Jahrhunderts nicht selten an entscheidenden Stellen dem Wissen der Literatur […]. (S. 417 f.)
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Also wäre das von Reif angenommene vormoderne Substrat möglicherweise auch ein fiktives? Die Darlegungen zu diesem Punkt hätten stärker auf ihre Kohärenz hin überprüft werden müssen.

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Doppelte Homologie

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Die doppelte Begrifflichkeit Adel/›Adel‹ ermöglicht es, die Ausdifferenzierung des literarischen Feldes auch als abhängig von einer aristokratischen Haltung zu verstehen, die von adligen und adelsaffinen bürgerlichen Autoren (Beispiel: Tieck als »König der Romantik«) gleichermaßen adaptiert wurde. Strobel vermutet, »dass in einer kritischen Phase der Feldentstehung die Adelskultur auf mehreren Ebenen wiederum eine Rolle spielt« (S. 411). Im dritten Teil der Studie »Adel und Feld« wird daher ein klares Ziel gesetzt:

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Die Untersuchung muss sich nunmehr auf das Handeln dieser Autoren als Autoren, d.h. ihre Positionierungen auf einem noch im Entstehen begriffenen literarischen Feld, richten, und dieses Handeln ist, mit Bourdieu, auf den herkunftsspezifischen Habitus dieser Akteure zu beziehen. (S. 330)
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Strobel rekonstruiert, soweit das möglich ist, den Habitus diverser Autoren, wobei er auch vorsichtig die Grenze des Verfahrens deutlich macht. Denn: »Nicht alles, was der Adlige tut, folgt seinem Habitus« (S. 317). Es kann also nicht zwangsläufig, sondern nur »möglicherweise auch ein Zusammenhang, eine Homologie, zwischen adeligem Habitus und ›aristokratischer‹ Positionierung festgestellt werden« (S. 329). Diese angenommene Relation bildet die erste Homologie. Die zweite Homologie bezieht sich auf die Positionierung des Autors und der Textsemantik:

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Zwischen der Repräsentation der Adelssemantik in den Texten der Romantiker […] und den Positionierungen der Autoren im Produktionsfeld, die, auch vom adeligen Habitus beeinflusst, nicht selten ostentativ marktkritische, also ›aristokratische‹ sind, – zwischen diesen Relationen besteht eine Homologie, die den Romantikern Exklusivität beschert, auf mehreren Ebenen enormen Distinktionsgewinn beschert. (S. 412)
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Der Habitus ist also in Hinblick auf Homologie mit der Textsemantik und der Entstehung des literarischen Feldes relevant. Dies führt zu einer weiterreichenden Vermutung:»Damit schlösse das Projekt der Autonomisierung des literarischen Feldes eine Wiederentdeckung aristokratischer Dispositionen ein, die auch den Autor als frei arbeitenden Menschen, nicht mehr als abhängigen Lohnschreiber imaginiert […]« (S. 329). Die aristokratische Disposition bezieht sich jedoch nicht nur auf die Autonomie des Autors oder die Distanz zum Markt, vielmehr »lassen sich zahlreiche Texte als Erprobungen von Phantasmen des Exklusiven, des Traditionalen, des Hierarchischen unter dem Rubrum der Adelskultur und zugleich unter den Bedingungen der Moderne lesen« (S. 344). Sollte das zutreffen, dann ließe sich die These wagen: »Der adelige Habitus […] könnte als Katalysator der Feldautonomisierung, verbunden mit der Erwartung politischer Stabilität, wirken« (S. 332).

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Nach Luhmann »ist die Romantik der erste Kunststil, der sich auf die neue Situation einer dem System zugefallenen Autonomie einläßt.« 4 Er kommt in seinen Ausführungen allerdings nicht auf die Adelssemantik zu sprechen. Strobels Studie zur Adelssemantik in der Literatur der Romantik würde daher die Luhmannschen Ausführungen substantiell unterfüttern und weiter differenzieren. Doch macht sich im Vergleich mit Luhmann auch eine theoretische Unterprofilierung in Strobels Ausführungen zur Autonomie des literarischen Feldes bemerkbar, denn dieser sieht die Autonomie der Kunst von der Autonomie des Künstlers abhängig und deutet hier eine Nicht-Erfüllung an: »Einer zumindest in der Frühromantik explizierten Autonomieästhetik entspricht nicht eine autonome Lebens- und Schreibpraxis der Autoren.« (S. 349) Strobel spricht von einem Paradox der »Marktabhängigkeit des ›freien‹ Schriftstellers« (S. 334).

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Es handelt sich jedoch nicht um ein Paradox, wenn man die Autonomie der Literatur nicht in Bezug auf ihre Akteure versteht, sondern mit Luhmann in Bezug auf andere Teilsysteme der Gesellschaft: »Erst die funktionale Differenzierung setzt alle nach diesem Prinzip gebildeten Teilsysteme operativ autonom, weil jetzt keines mehr die spezifische Funktion des anderen erfüllen kann.« 5 So besteht Schiller zum Beispiel darauf, dass in den Horen die Politik ausgespart wird. Man kann nur mit Kunst an Kunst anschließen, und nicht mit Religion, Politik oder Wirtschaft. Das System ist operativ geschlossen. Luhmann führt weiter aus:

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Das Argument macht im übrigen deutlich, daß das Angewiesensein auf die Erfüllung anderer Funktionen durch andere Systeme Bedingung und Kennzeichen der Autonomie jedes Funktionssystems ist; daß also spezifische Unabhängigkeit auf hohen spezifischen Abhängigkeiten beruht. Dies muß man sich vor Augen führen, wenn man immer wieder dem Einwand begegnet, daß die Abhängigkeit der Kunst von dem Geld der Marktwirtschaft die Autonomie des Kunstsystems beeinträchtigen könnte. 6
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Schluss

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Das Buch macht es seinen Lesern nicht leicht. Es setzt häufig denselben Wissens- und Erkenntnisstand voraus, den der Autor selbst hat. Dies liegt auch an der Konstruktion des Buches: Die auch von Strobel selbst bislang in zahlreichen Aufsätzen vorangetriebene Forschung zu dem Feld wird scheinbar vorausgesetzt und auf einer Metaebene zusammengeführt, um die in den Texten aufgebaute Adelssemantik freizulegen. Da der Gegenstand und die gewählten Methoden sehr komplex sind, wäre ein stärkeres Augenmerk auf die Vermittlung der erzielten wissenschaftlichen Erkenntnisse ratsam gewesen. Zudem verfährt der Autor streckenweise zitatenlastig, mäandert jedoch zugleich zu oft in Abstraktionen. Mitunter kontrastiert das hohe wissenschaftliche Reflexionsniveau auch überraschend mit suggestiver Dogmatik (»Es besteht kein Zweifel«, »zweifellos« etc.), es macht sich punktuell auch ein Hang zum Feuilleton (»Es hat sich inzwischen herumgesprochen…«) bemerkbar.

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Dennoch ist Jochen Strobel eine Grundlagenarbeit zur Fortzeugung des Adels in der historischen Semantik des 19. Jahrhunderts gelungen. Er zeigt, dass die romantische Literatur auch ein Weg des Adels in die Moderne war. Obgleich seine Argumentation etwas zäsurenfixiert erscheint, führen seine Untersuchungen zu einem differenzierteren Verständnis der Romantik, die auch Fragen nach dem Zusammenhang zwischen dem adligen Habitus und der Ausdifferenzierung von Literatur als eines autonomen Teilsystems der Gesellschaft berühren. Die angesprochenen Probleme beziehen sich vor allem auf die Vermittlung der präsentierten Erkenntnisse und führen nicht zu einer Beeinträchtigung des Gesamtvorhabens. Zu dem Ziel der literaturwissenschaftlichen Forschung, die Entwicklung und Ausdifferenzierung des Literatursystems um 1800 so differenziert so verstehen, wie sie abgelaufen ist, hat Strobel einen wichtigen Beitrag geleistet.

 
 

Anmerkungen

So die These von Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 1. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1980, S. 7, 25 ff.   zurück
Stephen Greenblatt: Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renaissance. Frankfurt/M.:Fischer 1993, S. 9–33.   zurück
Hier wäre die im Literaturverzeichnis aufgeführte Studie von Andreas Groh Die Gesellschaftskritik der Politischen Romantik. Eine Neubewertung ihrer Auseinandersetzung mit den Vorboten von Industrialisierung und Modernisierung (Bochum: Winkler 2004) hilfreich gewesen, denn Groh versteht unter politischer Romantik die »Anwendung romantischer Weltanschauung im politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bereich« (S. 24).   zurück
Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995, S. 270.   zurück
Ebd., S. 219.   zurück