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Ein umfassendes Nachschlagewerk zur mittelalterlichen Chronistik

  • Raymond Graeme Dunphy (Hg.): The encyclopedia of the medieval chronicle. Leiden [u.a.]: Brill 2010. LXXXIV, 1748 S. 60 Abb. Gebunden. EUR (D) 399,00.
    ISBN: 978-90-04-18464-0.
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Obwohl die Chronik zu den wichtigsten Gattungen der mittelalterlichen Geschichtsschreibung zählt, steht ihre systematische Erforschung noch aus. Dies mag damit zusammenhängen, dass eine Definition dieses Genus – anders als beispielsweise bei den leichter fixierbaren Annalen, Gesta oder Viten – wegen vieler Übergangsformen und Überschneidungen kaum möglich erscheint. Deutlich wird dieses Problem bereits bei den Versuchen zur Begriffsbestimmung durch die mittelalterlichen Zeitgenossen: Während Isidor von Sevilla († 633) unter Chronica ein Werk versteht, in dem die vorhandenen Nachrichten über die Abfolge der Zeiten zusammengefügt und geordnet dargeboten werden (Etymologiarum libri viginti V, 28), charakterisiert Cassiodor († 580) diese Texte als vor allem der Annalistik nahestehend (Institutiones I, 17/2). Bischof Sicard von Cremona († 1215) akzentuiert insbesondere ihren belehrenden Charakter, wohingegen für Vincenz von Beauvais († 1264) eher der enzyklopädische Zugriff entscheidend ist. In der Forschung werden als Hauptmerkmale der Gattung genannt: Die Texte sind oft von einem einzigen Autor verfasst, der – häufig vor einem heilsgeschichtlichen oder einem geschichtsphilosophischen Hintergrund – eine Darstellung aufeinander folgender Ereignisse liefert, mit dem Ziel, den Rezipienten zu bilden oder geistlich zu belehren. Die Berichtsform variiert von schlicht bis ausladend. Als typisch gilt außerdem die Einbeziehung von sagen- und legendenhaften sowie von episch-fiktionalen Elementen. Formal wird in der Regel unterschieden zwischen Universal- beziehungsweise Weltchroniken (zum Beispiel Frechulf von Lisieux, Hermann von Reichenau), Reichs- (Flodoard, Richer, William of Malmesbury), Volks- (Gregor von Tours, Paulus Diaconus, Vinzenz von Krakau), Bistums- (Folcwin, Ratbert), Stadt- (Arnulf von Mailand, Bernardo Maragone) oder Kreuzzugschroniken (Wilhelm von Tyrus). Hinzu kommen zahlreiche regionale Unterschiede, handelt es sich bei der Chronik doch um ein Genus, das im gesamten mittelalterlichen Europa verbreitet war.

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Angesichts dieses schier unendlichen Facettenreichtums mittelalterlicher Chronistik erscheint es fast als kleines Wunder, dass die Encyclopedia of the Medieval Chronicle nach nur wenigen Jahren Bearbeitungszeit nunmehr in zwei gewichtigen Bänden im Druck vorliegt (eine erweiterte Online-Version wird aktuell vorbereitet): In ihr sind gute 2.500 (!) Chroniken aus dem europäischen und dem nordafrikanischen Raum sowie aus dem Nahen Osten verzeichnet, insbesondere christliche, aber auch jüdische (30) und muslimische (90) Texte von der Spätantike bis zum Beginn der Frühen Neuzeit (3.–16. Jahrhundert). Verfasst wurden die konzis gehaltenen englischsprachigen Lemmata von einem interdisziplinären Autorenteam (450 Mitglieder) unter der redaktionellen Leitung des Herausgebers Graeme Dunphy (Regensburg) und 18 internationaler Fachredakteure. Ihre Reihung orientiert sich am Namen der mittelalterlichen Verfasser oder am Titel anonym überlieferter Werke. In den Artikeln werden der Reihe nach aufgeführt: Lebensdaten und Kurzbiographie des Autors, Entstehungszeit der Chronik, geographische Zuordnung sowie Sprache des Werks. Dann folgen eine knappe Inhaltsangabe, eine griffige Analyse des Werks, Überlegungen zu causa scribendi und Entstehungszusammenhang sowie bibliographische Kurzhinweise. Besonders hilfreich sind die Übersichten und Register am Anfang des ersten und am Ende des zweiten Bandes, die das immense Material leichter erschließbar machen: Eine Zusammenstellung der gut 70 Überblickskapitel (beispielsweise »Six Ages of the World«, »Serbian Annals«, »Arthurian Material«), eine Synopse aller behandelten Werke (mit Hinweisen zu Entstehungszeit und -ort, Sprache sowie zum jeweiligen Lemma) sowie Indices zu Autoren, Werken, Personennamen, Orten und Handschriften. Erwähnung verdienen auch die über 60 Abbildungen und Faksimiles, die auf den kunsthistorischen Wert der zumeist aufwendig illustrierten Chroniken aufmerksam machen.

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Zu den einzelnen Artikeln. Freilich ist es unmöglich, ein Kompendium dieses Umfangs en detail zu besprechen, so dass hier nur einige grundsätzliche Beobachtungen aufgeführt seien: Die größte Stärke der Beiträge liegt wohl darin, dass sie dem Benutzer auf einen Blick alle wichtigen Informationen zu Werk und Verfasser sowie zur jeweiligen Forschungslage zur Verfügung stellen. In der Regel wird außerdem Auskunft gegeben über die Editions- und Übersetzungslage, die Überlieferung oder über Bezüge zu anderen Werken oder Werkgruppen. Die bibliographischen Angaben konzentrieren sich auf die jeweils wichtigsten Arbeiten; Aktualität erlangen diese Bibliographien durch gezielte Verweise auf die permanent rezent gehaltenen Datensätze des Repertorium Fontium Historiae Medii Aevi oder ähnlicher Grundlagen- und Referenzwerke. Bei Chroniken, die in verschiedenen Editionen vorliegen, wird stets – sofern vorhanden – auf die Monumenta Germaniae historica-Ausgabe verwiesen, auch dann, wenn diese älter ist als die anderen genannten Editionen. Die Artikel sind für ein Nachschlagewerk erfreulich flüssig geschrieben; stilistische Brüche, wie sie angesichts der Vielzahl der Beitragenden zu erwarten wären, sind selten. Besonders instruktiv ist die Lektüre der Überblicks- und thematisch ausgerichteten Kapitel: In ihnen werden zentrale sowohl inhaltliche als auch gattungsspezifische, literatur- oder geschichtswissenschaftliche Aspekte zur mittelalterlichen Chronistik aufgearbeitet und mit Belegstellen aus (zum Teil eher wenig bekannten) Werken exemplifiziert – eine wahre Fundgrube für Anschlussforschungen. Größtes Lob verdient auch die Verzeichnung des jüdischen, arabischen oder spätmittelalterlichen Schrifttums, zumal etliche Texte aus dem – wegen seiner bloßen Fülle sonst kaum zu durchdringenden – Quellenkorpus hier erstmals im Rahmen eines Kompendiums dargestellt werden.

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Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die von der Medieval Chronicle Society angeregte Enzyklopädie eine lang ersehnte und deswegen hoch willkommene Publikation darstellt, der eine breite Leserschaft zu wünschen ist. Insbesondere die Kultur- und Mentalitätsgeschichte wird auf die beiden voluminösen Bände gerne zurückgreifen, da in den einzelnen Artikeln immer wieder auf die zeitgenössischen Diskurse, Wert- und Ordnungsvorstellungen sowie die intellektuellen Hintergründe der Chroniken eingegangen wird. Besonders überzeugt hat den Rezensenten außerdem der Versuch, die beiden bislang eher separat betriebenen Disziplinen Literaturgeschichte und Geschichtswissenschaft einander anzunähern: Dabei deutet sich an, dass die Untersuchungsgegenstände dieser beiden Fächer – nämlich: literarische und historische Texte – in einem zentralen Punkt übereinstimmen, und zwar darin, dass in ihnen spezifische Realitäten abgebildet oder entworfen werden, durch die tiefe Einblicke in das jeweilige Weltbild möglich sind. Ein erster Zugriff auf diese faszinierenden Vorstellungswelten des Mittelalters wird künftig auch über die Encyclopedia of the Medieval Chronicle möglich sein. Mit Sicherheit ist damit ein erster wichtiger Beitrag zur interdisziplinären systematischen Erforschung dieser bedeutsamen Gattung geleistet.